Ein Kreuz erzählt

Willi Steffens

Es handelt sich hier nicht um eine Sage, sondern um eine wahre Begebenheit, die aber nicht außer acht gelassen werden soll. In der Nähe von Dreis im Kreis Daun sehen wir auf der Höhe, die den Namen „Stock" trägt, ein schlichtes Kreuz mit der Jahreszahl 1812. Mit diesem Kreuz hat es seine besondere Bewandtnis. Dreis liegt an der alten Heerstraße, die über Hillesheim nach Belgien führte. Über diese Straße zog Napoleon in den Jahren von 1810—1812 mit seinen Truppen heran nach Rußland. Wie wir ja wissen, wollte er die ganze Welt erobern. T. Baur berichtete aus jener Zeit, was hier kurz wiedergegeben werden soll: Als um die Mitte Februar der Schnee plötzlich abgegangen war, kamen täglich die Truppen von Franzosen durch Dreis. Nach diesen ersten einzelnen Trupps folgten sie dann in langen endlosen Kolonnen, Kavallerie, Jäger und Artillerie. Wenn dann die Truppen nach einer Nacht der Ruhe wieder abrückten, blieben immer einige zurück, die fußkrank geworden waren oder durch das naßkalte Wetter schwere Erkältungen davongetragen hatten. Von der Artillerie und der Kavallerie waren gar manche zurückgeblieben, weil die Pferde Schonung haben mußten. Diese Nachzügler machten sich bald breit im Dorf und requierierten auf eigene Faust. In der Dreiser Burg wurde nun eine Marschkommandantur eingerichtet, und nun kam allmählich etwas Ordnung hinein. Als nun Ende Februar wieder starker Frost mit Schnee eingetreten war, war gar bald das Dorf überfüllt von französischen Truppen. Oft mußten sie draußen beim Lagerfeuer kampieren. Die Not im Dorfe wurde immer größer. Es fehlte bald an allem. Heu und Stroh für die vielen Pferde gingen zur Neige. Frisches Grün war noch nicht zur Stelle. Der Bestand an Hühnern und anderem Kleinvieh ging immer mehr zurück. — Im Unterdorf wohnte der Tagelöhner und Holzhauer Lorenz Billigen. Während Lorenz meist im Walde arbeitete, blieb Annemarie, seine Frau, mit der alten kranken Mutter allein im kleinen Häuschen zurück. Dieses war bisher noch von der Einquartierung verschont geblieben. — Am Tage vor dem Palmsonntag waren neue Truppen, die 12. Chasseure, ins Dorf eingerückt. Da es sehr viele waren, hatte man die fußkranken Soldaten in der Kapelle untergebracht. Aus allen Häusern hatte der Maire Stroh herbeibringen lassen, da man die Kranken nicht auf die nackten Steinfliesen legen konnte. Lorenz Billigen war mit den Holzhauern in den Wald, denn es mußte für das Lagerfeuer der Franzosen Holz geschlagen werden. So gingen denn Lorenz und sein Freund Jusepp trotz des schlechten Wetters hinaus, um das notwendige Holz zu beschaffen. Förster Stoll kam nach, um festzustellen, daß die Arbeit bald getan war, denn es waren wieder neue Truppen in Dreis angekommen. Im Dorf war kein Platz, und so mußten die neuen Truppen im Steinbruch Steinley untergebracht werden. Schon kamen die Fuhrwerke herbei, um das Holz für die Lagerfeuer herbeizuschaffen. Es waren nämlich Soldaten dabei, die schon in Spanien, in Ägypten usw. mitgekämpft hatten und die Kälte gar nicht vertragen konnten. Die Wagen wurden im Walde schnell geladen, und dann ging es ins Dorf zurück. Die Holzhauer begleiteten die Fahrzeuge, denn diese blieben oft in dem aufgeweichten Boden stecken. — Unten auf der Kreuzstraße vor Fasens Wirtschaft, standen Haufen fremder Soldaten aller Gattungen. Die Gaststätte war überfüllt, und dicht drängten sich die anderen um die Marketenderwagen, die im Hof hinter dem Torbogen aufgestellt waren. In allen möglichen Sprachen ging es recht laut zu. Auch viel Gesindel und Frauenzimmer waren dabei. — Lorenz Billigen steuerte müde seinem Häuschen im Unterdorfe zu. Als er über die Hausschwelle in die Küche trat, hörte er aus der Kammer die Hilferufe seiner Frau. Er drückte die Tür auf und gewahrte dort im Halbdunkel einen französischen Korporal, der seiner Frau Annemarie Gewalt antun wollte. Mit einem Satz sprang Lorenz zurück in die Küche, ergriff die dort stehende Axt, und seiner Sinne nicht mehr mächtig, schlug er in ohnmächtiger Wut auf den Wüstling ein. Annemarie fiel in Krämpfe. Lorenz lief schnell und holte Hilfe für seine Frau. Die alte Margrit kam herbei und kümmerte sich um die Frau, die doch ein Kind erwartete. Lorenz ging in die Burg, um dem Kommandant zu melden, was sich zugetragen hatte. Er gestand, daß er den Soldaten erschlagen habe. „Das wird Euch Euer Leben kosten", sprach der Oberst aufgeregt. Als Lorenz mit dem Oberst und einem Offizier das Häuschen betrat, war Margit immer noch damit beschäftigt, Annemarie ins Bewußtsein zurückzurufen. Man brachte den Erschlagenen weg. Lorenz sprach zum Oberst: „Hättet Ihr nicht auch so gehandelt, wenn Ihr in derselben Lage gewesen wäret?" Der Kommandant, der die deutsche Sprache gut beherrschte, gewährte dem Lorenz noch die eine Bitte, die Frau ins Haus der Hebamme zu bringen, wo sie auf alle Fälle gute Wartung hatte. Lorenz aber wurde in einem kleineren Raum der Burg zu zwei gefangenen Franzosen eingesperrt, die hier ihren Arrest zu verbüßen hatten. — Am anderen Morgen ging die Schreckensnachricht von Haus zu Haus. Man stand umher und sprach von den Ereignissen der 'Nacht. Die Arbeit ruhte. Die Leute eilten zur Kapelle, um zu beten. Meist mußten sie vor dem Gotteshaus stehen bleiben, da ja drinnen die kranken Soldaten zwischen den Bänken lagen. Um diese Zeit stand Lorenz vor den fremden Richtern. Am Mittag ging dumpfer Trommelwirbel durchs Dorf. Ein Offizier ritt inmitten einiger Soldaten und verlas das Urteil in französischer und deutscher Sprache vor. Lorenz Billigen war zum Tode durch Erschießen verurteilt worden. Noch am selben Abend sollte die Vollstreckung vollzogen werden. Das Entsetzen im Dorf war groß. Keiner aß an diesem Tage etwas zu Mittag. Keiner wollte mehr sein Haus verlassen. Überall in den Häusern wurde gebetet. Später fand man sich dann auf Anraten des Maire, des Ortsbürgermeisters, in der Kapelle zusammen. Dem Pastor in Dockweiler hatte man von dem Geschehen Mitteilung zukommen lassen. Pfarrer Schmitz war entsetzt. Er ging mit dem Küster — Pitter — zur Kirche, nahm das Allerheiligste und eilte nach Dreis, um dem Verurteilten beistehen zu können. Aber schon bewegte sich von Dreis herauf hinter der Eskorte der Franzosen eine lange Prozession, laut betend. Auf „Stock" hatte der Oberst den Richtplatz bestimmt. Diese Stelle gerade lag im Blickfeld der Dörfer Dreis, Brück, Dockweiler und Oberehe, hoch über dem Dreiser Weiher. Lorenz schritt aufrechtinmitten der französischen Eskorte, die von einem Offizier angeführt wurde. Die Hände waren ihm nicht gebunden. Am Richtpfahl angekommen, ertönten die Kommandos. Die Eskorte präsentierte, und der Offizier las nochmals das Urteil vor. Lorenz stand ungebrochen da. Seine Gedanken waren bei seiner Frau, die nicht von der Verurteilung wußte. Pfarrer Schmilz war, um nicht zu spät einzutreffen, schon querfeldein gelaufen. Er kam gerade an, als das Urteil verlesen wurde. Er schritt auf den Oberst zu und sprach mit ihm, denn er beherrschte die französische Sprache gut. Er bat zunächst, dem Verurteilten Worte der Stärkung sagen zu dürfen, um ihm dann die Beichte und die Kommunion zu spenden. Das wurde ihm bewilligt, denn der Offizier war ein Katholik. Der Geistliche gab dem Verurteilten das Sterbekreuz in die Hand, dann trat er abermals zu dem Offizier und bat für das Leben des rechtschaffenen Mannes, der doch nur die Ehre seines Weibes retten wollte. Der Pfarrer bat so inständig, daß nicht nur der Oberst, sondern auch die Soldaten gerührt waren. Erst als der Pastor seinen Umhang über die Schulter zurückschlug und der Offizier den hohen Orden auf seiner Brust erblickte, da wurde er ändern Sinnes. (Pastor J. H. Schmitz hatte nämlich von Napoleon selbst die silberne Verdienstmedaille für seine aufopfernde Tätigkeit bei der Bekämpfung der gefährlichen Blattern erhalten.) Lorenz kniete vor dem Richtpfahl und der Pastor neben ihm. Der Oberst ließ nun die Prozession nähertreten, und er gab den Befehl, präsentieren zu lassen. Laut sprach er dann: „Im Namen der französischen Nation, Lorenz Billigen ist frei! Er ist begnadigt." Da ging ein Schrei der Freude durch die Menge. Der Geistliche und Lorenz traten zu dem Oberst, gaben ihm die Hand und drückten ihren Dank aus. Die Anwesenden stimmten den Lobgesang an „Großer Gott, wir loben dich!" Kein Auge blieb trocken. — In dem Steinbruch Steinley wurde ein großer Stein gebrochen und daraus ein schlichtes Kreuz gemeißelt. Auf diesem Basaltkreuz erblicken wir heute noch die Jahreszahl 1812. An der Stelle, wo Lorenz Billigen den Tod erleiden sollte, hat er es hingestellt zum Dank für seine wunderbare Rettung. — Heute steht in unmittelbarer Nähe ein neuer Gedenkstein mit einer kurzen Gedenkschrift.

Die Burg in Dreis