Natur und Landschaft

Glockenspiele

Theo Pauly, Gerolstein

Ganze drei Jahre zählte ich, als die Pfarrkirche Hilgerath in der Struth ein neues Glockengeläute erhielt, und diese Tatsache ist eine meiner ersten und frühesten Erinnerungen. Ich sehe sie noch vor mir, die vier gewaltigen Ungetüme, wie sie im Kirchenschiff unmittelbar vor den Stufen der Kommunionbank aufgereiht an einem massiven Balkengerüst hängen, geschmückt mit Girlanden aus Tannengrün, in das bunte Papierblumen eingeflochten sind, die Kronen umkränzt mit weißen Wachsblumen, als trüge eine jede dieser neuen Glocken einen Tauf- oder Brautkranz. Nun ja, getauft waren sie. Die größte trug die Aufschrift: -Jesus Christus, König der Herrlichkeit, führ' uns zu Frieden und Seligkeit.« Sie war die »Christkönigsglocke». Ein kleines Relief auf der dem Betrachter zugewandten Seite des Glockenmantels stellte Christus auf dem himmlischen Throne sitzend dar. Die zweite, etwas kleinere, war die »Muttergottesglocke«. Ihre Aufschrift lautete: »Sancta Maria, Mutter und Magd, all' unsere Not sei Dir geklagt." Die dritte, wiederum um einiges kleiner, war dem Kirchenpatron geweiht. Sie trug das Spruchband: »Sankt Hubertus, Schutzpatron, bitt' für uns an Gottes Thron." Die kleinste war die "Unwetterglocke« mit der Aufschrift »Sankt Donatus, mutiger Ritter, schütz' uns vor Blitz und Ungewitter.«

Alle diese Gebetssprüche konnte ich damals noch nicht lesen; sie interessierten mich auch nicht. Dass da rings um den oberen Glockenrand erhabene Schriftzeichen zu erkennen waren, daran kann ich mich noch erinnern, nicht mehr aber an die kleinen Reliefbilder auf den Glockenmänteln. Eingestimmt auf das Erlebnis der Glockenweihe war ich sicher, hatten sich doch in den letzten Tagen und Wochen die Familiengespräche in der Hauptsache um die Anschaffung und Einsegnung des neuen Geläutes gedreht. Und nun hatte ich an der Hand meiner Mutter zur »Glockentaufe« mit hinauf nach Hilgerath pilgern dürfen. Vermutlich war der Weihe der neuen Glocken eine Mess- oder Andachtsfeier vorausgegangen; ich habe keine Erinnerung mehr daran, ebensowenig wie an die Zeremonie der eigentlichen »Tauffeier«, wohl aber an die lange Reihe der Pfarrangehörigen und auswärtigen Besucher, die anstanden, um nach Entrichtung einer angemessenen Geldspende mit einem eigens für diesen Zweck von »Schreinerkloas« entworfenen und hergestellten Holzhammer den neuen Glocken Töne entlocken zu können. Lange dauerte es, bis Mutter und ich so weit vorgerückt waren, dass die silbergrauen Ungetüme aus Bronze eingehender betrachtet und begutachtet werden konnten. Derweil erscholl, mal lauter, mal leiser ein heller oder tieferer Glockenklang, je nachdem wie kräftig der Holzhammer geführt wurde. Und dann ließ Mutter mir den Vortritt. Damit alles seine Richtigkeil habe, reichte sie mir eine Geldmünze -welchen Wert sie hatte, weiß ich nicht mehr -die ich mit hellem Klingen in den schon mit einer beträchtlichen Menge von Münzen angefüllten bereitstehenden Opferkorb fallen ließ. Nun ergriff ich voller Ungeduld und dennoch mit einer gewissen Ehrfurcht und andächtigen Spannung den Stiel des Hammers mit beiden Händen. Natürlich wollte ich die Christkönigsglocke ertönen lassen; sie imponierte mir ob ihrer Schwere und Größe am meisten. Auch gefiel mir ihr tiefer, wohlklingender Ton sehr viel mehr als etwa der helle, singende der "Gewitterglocke", der auch bei weitem nicht so lange nachhallte. Nun war er da, der große Augenblick, auf den ich in der langen Menschenschlange so sehnsüchtig gewartet hatte.

Glocken der Pfarrkirche von Hilgerath, gestiftet von Wilhelm Theisen aus Samersbach. Gegossen von August Mark Brockscheid, 21. 11. 1934.

Zunächst wog ich den Holzhammer in meinen Händen, der sehr viel größer war als der, mit dem Vater zu Hause Nägel einklopfte. Er war auch schwerer als dieser, zumindest wesentlich unhandlicher, jedenfalls für die kleinen Hände und dünnen Ärmchen eines Dreijährigen. Ich hob also diesen ungebärdigen Holzhammer so hoch ich es vermochte und ließ ihn auf den unteren Rand der mächtigen Glocke niedersausen. Doch der Ton, den ich damit zustande brachte, war äußerst jämmerlich, und dabei hatte ich doch so kräftig zuschlagen wollen, um den lautesten Ton zu erzeugen, den diese Glocke bisher von sich gegeben hatte. Nun hörte sich das an, als habe man das Ding mit einem Fidibus angeschlagen! Ganz schlimm empfand ich das betroffene Schmunzeln der Mutter und das hämische Kichern und Grinsen der um- und anstehenden Erwachsenen ob meines Missgeschicks. Diese Schmach konnte ich nicht auf mir sitzen lassen! Ich wusste auch, wie es zu diesem Versagen gekommen war. Zweierlei war geschehen: Zum einen hatte ich, in der Absicht, einen besonders kräftigen Schlag zu führen, den zylinderförmigen Holzkopf des Hammers verkantet und so nur mit der kleinstmöglichen Fläche den Glockenrand getroffen, zum anderen hatte ich die Länge meiner Arme überschätzt und war nicht nahe genug an die Glocke herangetreten. So hatte ich nur deren äußersten Rand erwischt, und den nicht einmal richtig. Ärger und Verblüffung hielten jedoch nicht lange an, und so legte ich den Hammer nicht etwa wieder hin oder reichte ihn an Mutter weiter, damit sie nun auch in den Genuss eines Glockenschlages komme, sondern trat entschlossen einen kurzen Schritt vor, justierte dabei den Holzhammer in meinen Händen und holte erneut zu einem kräftigen Schlag aus. Diesmal hatte ich richtig getroffen! Der dröhnende Klang der Christkönigsglocke hallte noch lange nach im Kirchenschiff, sehr viel länger noch in meinen Ohren, und bei rechter Konzentration glaube ich ihn jetzt noch vernehmen zu können. Jedenfalls war ich gewaltig stolz auf die nunmehr schmunzelnd anerkennenden Blicke der Umstehenden, und hocherhobenen Hauptes verließ ich, wiederum an der Hand meiner Mutter, die Stätte, an der ich mit forschem Mut eine Niederlage zu einer in meinen Augen großartigen Leistung umgemünzt hatte.

Fortan erfreute mich allsonntäglich, wenn es vor dem Hochamt »zehoof« läutete, der wohltuende, harmonische Zusammenklang des neuen Geläutes. Nur meine Lieblingsglocke, die schwere mit dem tiefen, lang nachklingenden Hall, wurde an gewöhnlichen Sonntagen nicht bemüht. Lediglich an hohen Festtagen durfte sie die Melodie des Geläutes ergänzen und vervollständigen. Ob es daran lag, dass die Messdiener, denen das Läuten mittels der Glockenstränge oblag, nicht kräftig genug waren, die Christkönigsglocke ordentlich in Schwung zu bringen? Auch nachdem ich später als Messdiener zu meiner großen Freude endlich selbst beim Läuten der Glocken mithelfen und eines der Glockenseile »ziehen" durfte, war es stets entweder der Küster oder ein anderer Erwachsener, die die »Schruuß Glock« bedienten. An gewöhnlichen Sonntagen, wenn auch beim Hochamt lediglich zwei Messdiener eingesetzt waren, mussten diese rechtzeitig eine Viertelstunde vor Beginn des Gottesdienstes im Glockenturm anwesend sein, um zusammen mit dem Küster die drei kleineren Glocken zu läuten. An Festtagen, wenn zu viert »gedient" wurde, oder an den Hochfesten, wenn alle Messdiener anzutreten hatten, gab es jedesmal ein Gerangel darum, wer mit dem Küster zum Läuten mitdurfte: denn eines war noch viel schöner, als das Ziehen an den langen Glockenseilen: Wenn das Läuten beendet werden sollte, ließ man sich am dicken Seil mit hochziehen bis an die Decke des Kircheneinganges; ein wundervolles Gefühl! Derjenige, der die kleine »Donatusglocke« geläutet hatte - auf diesen Posten war niemand je so recht erpicht -, erreichte dabei nie die Decke auch nur annähernd, so leicht er auch war. Seine Glocke konnte ohne weiteres auch vom Schwächsten angehalten werden. Ihm reichte dann der Küster, der damals in unseren Augen schon ein aller Mann war und für das, was uns so viel Spaß machte, nichts übrig zu haben schien, das Seil der »schweren« Glocke, und so konnte dann auch er das herrliche Gefühl genießen, etliche Male bis an die Decke hochgehievt zu werden. Es war allerdings wohl nicht allein die Gutmütigkeit des Küsters ausschlaggebend dafür, uns dieses harmlose und doch so wunderschöne Spiel zu gestatten, denn ließen wir ab und zu einmal in seiner Abwesenheit absichtlich die Seile los, während die Glocken hoch oben im Turm noch weiterschwangen, schlugen diese wie gewaltige Peitschen schlangenartig um sich, und da stets auch während des Lautens Gläubige durch den Glockenturm, den einzigen Zugang zur Kirche, in das Kircheninnere unterwegs waren, hätten die Seilschläge leicht Unheil anrichten können. So duldete denn der Küster unser lustvolles Spiel aus rein pragmatischen Gründen. Zudem war er ja auch einmal ein kleiner Junge gewesen! Bewusst habe ich das gesamte Geläute zum letzten Mal am Abend des zweiten März 1939 genossen. Aus Anlass der Wahl Papst Pius' XII. ließ Pastor Labbe in Hilgerath alle Glocken läuten. Damals wusste noch niemand, dass die Tage dieser fünf Jahre zuvor angeschafften und von mir seinerzeit so bestaunten und liebgewonnenen neuen Glocken bereits gezählt waren. Ein halbes Jahr später begann der Zweite Weltkrieg, und im Jahre 1941 folgten drei dieser Glocken dem schlimmen Ruf, dem auch ihre Vorgängerinnen Im Ersten Weltkrieg hatten nachkommen müssen. Sie wurden in der Krupp'schen Waffenschmiede zu todbringenden Kanonen umgegossen. Zurück blieb einzig die »Hubertusglocke«. An den Tag, an dem die Glocken aus dem Kirchturm entfernt wurden, erinnere ich mich ebenso lebhaft, wenn auch mit entgegengesetzten Gefühlen, wie an den ihrer Weihe, bekam doch damals das feste Gefüge meiner bis dahin heilen Kinderwelt den ersten, schmerzhaften Riss. Der Nachbar verfügte als Jagdhüter über zwei Ferngläser, und so beobachteten wir beide damit von seinem Hof aus, wie Männer mit Äxten, Hämmern und Sägen das dem Liesertal zugewandte Schalloch im Kirchturm brutal vergrößerten und so den Turm verschandelten. Als erste wurde die »Gewitterglocke« durch die mit Brachialgewalt geschaffene Öffnung geschoben und auf das Pflaster vor dem Kirchenportal hinuntergestoßen. Es folgte mit etwas mehr Mühe die "Muttergottesglocke". Als die von mir so geliebte »Christkönigsglocke« in das aufgerissene Loch gehoben und geschoben wurde, glaubte ich zu spüren, dass sie sich gegen die ihr zugedachte Zweckentfremdung wehre. Es dauerte lange, bis sie in ihrer vollen Größe sichtbar wurde. Und dann stürzte auch sie! Sie lag bereits auf dem Pflaster, da erst drang ein dumpfer, klagender Ton zu den Beobachtern ins Tal herunter. Mir war, als hätte man einen Freund vom Kirchturm herabgestoßen. Traurig und den Tränen nahe nahm ich das Glas von den Augen und gab es dem Nachbarn zurück, der es ebenso wortlos und traurigen Blicks entgegennahm. Dann gingen wir beide wieder unserer gewohnten Arbeit nach. Das Spiel war aus!

In den fünfziger Jahren wurde unter Pastor Schmitt das Hilgerather Geläute wieder vervollständigt. Wieder treute man sich, und wieder hatten die Messdiener Spaß beim Zählen, wie viele Male ein jeder nach Abschluss des Läutens den Höhenflug zur Decke am Seil hängend zustande gebracht hatte. In unseren Tagen sind diese Spielchen nicht mehr möglich. Das Glockenläuten besorgt eine mittels Schaltuhr gesteuerte elektrische Anlage. Man ist "modern» geworden; auch in der Strulh!