Am Totenmaar — Gemälde von Pitt Kreuzberg, der hier auf dem kleinen Friedhof für immer ruht.

Das Kirchlein überm Totenmaar

Peter Kremer

Der Ginster blühte, als wir zuletzt das Kirchlein überm Totenmaar besuchten. Mit einem goldenen Rahmen war der Spiegel des Maares eingefaßt, und die vergoldeten Hänge spiegelten sich durchs seidene Vorsommerlicht wider im dunklen Wasser. Unzählige Menschen lagerten auf den unbebuschten Wiesenmatten, nicht wenige fanden auch den Weg hinein ins alte Kirchlein unter den hohen Ulmen und Eschen, und vor der ergreifenden Mater Dolorosa mit ihren Schwertern im Herzen und dem toten Sohn im Schoß brannten Opferkerzen.

An zwei Stellen in der Eifel ist der Geist der Landschaft verdichtet in wundervoller Übereinstimmung von Gottes Schöpfung und Menschenwerk: am Laacher See gewährt die Schau über den Wasserspiegel und das romanische Münster ein Landschaftsbild, das, wie der vielgereiste Gerhard Nebel sagt, zu den vollkommensten dieser Erde gehört, und auch am Totenmaar zeigt sich der Gleichklang von Landschaft und Menschenwerk, von Kapellenhügel und Kratersee, dessen klares Wasser den Lavasand schwarz durchschauen läßt, unwiderstehlich durch die Wiederholung des elementaren Themas von Herbheit und Wehmut, von Tod und Vulkanismus in der Architektur des Kirchleins auf dem mauerumfriedeten Gottesacker des ausgewischten Dorfes Weinfeld.

Ja, diese Kapelle zwischen der mächtigen Rüster- und Eschengruppe auf dem kleinen Friedhof über dem Totenmaar! Höchste Zeugungskraft des Geistes in der Demut vor dem Schöpfer spricht aus jenen Werken des Menschen, die aus der Landschaft das Siegel des nach dem Bilde Gottes geschaffenen Herrn der Erde herausgeprägt haben. Glanzvollstes Beispiel ist die Akropolis über Athen; aber auch in der anspruchslosen Krönung eines Hügels mit einer Kapelle kann die geistige Prägung einer Landschaft erfüllt sein. Auch ohne Marmor und Riesensäulen kann solch ein Hügel, kann ein Seeufer mit dem Münster von Laach oder das Kirchlein überm Totenmaar die Krone des Vollkommenen tragen und Gott und dem Menschen in schlichter Hoheit und Demut huldigen. Selbst wenn, wie an diesem Junisonntag, der Besenginster die Maarhänge in eine traumhafte Schönheit hüllt, schwindet die rätselvolle Schwermut nicht, sie wird durch den späten Frühling noch betont. Hier wurzelt der Eifeler ewiges Heimweh; hier hat es seine Krönung gefunden. Wie dem Hügel entwachsen, steht das graue Kirchlein auf der dunklen Vulkanerde. Plump und erdhaft reckt sich der von schweren Mauerstreben abgestützte Turm, durch den wir ins Innere schreiten, bis zur Kronenhöhe der Bäume. Die enge Turmhalle als Vorraum ist gesegnet von vielen Votivtafeln, auf denen der Schmerzhaften Mutter Dank gesagt wird für Trost und Hilfe in Seelennöten. Im kleinen stubenartigen Kapellenraum sitzt sie auf ihrem Altar als Abbild einer leidvollen Eifelfrau, ergreifend in ihrer Haltung und ihrem Ausdruck. Wer sie anschaut, begreift das ganze Leid dieser Landschaft, das Weh des Menschendaseins, aber auch die mütterliche Frömmigkeit aller Eifelleute. Auf der anderen Seite steht, seine Pestschwären zeigend, der Pestheilige Rochus, vom Hündlein in der Waldwildnis mit Brot genährt. Ob das Dörflein rundum einst von der Pest ausgelöscht wurde? Noch ein anderer Heiliger steht im flachdeckigen Laienraum: die schöne Figur des Beschützers der Ehe, des burgundischen Ritters Gangolf, den die Buhlen seiner treulosen Frau um das Jahr 760 ermordeten. Er steht auf dem gehörnten Teufel; auf dem Sockel sehen wir das Ehewappen der zwei verschlungenen Ringe, und auf seinem Ritterschild lesen wir: Sankt Gangolf, mach fest den Ring, den Ehefeind bezwing!

Das einjochige Chor mit seinen sechs Gewölberippen auf schmucklosen Wanddiensten und dem spitzbogigen Sakramentshäuschen verrät die Zeit der Gotik, während Turm und Mittelbau von romanischer Wucht zeugen. Auf dem Hochaltar teilt in der Höhe der heilige Martinus, der fränkische Reiter, seinen Mantel mit dem Bettler; das Kirchlein war ursprünglich diesem bodenständigen Volksheiligen geweiht. Im Mittelfeld schildert zwischen gewundenen Säulen ein altes Altarbild die Begegnung der frommen biblischen Frauen am leeren Grab des Ostermorgens mit dem Auferstandenen, der als Gärtner vor ihnen steht. In diesem Kirchlein am Totenmaar ist alles bodenständig echt. Das Bild ist von bezwingender Einprägekraft. Die Wolken des Eifelhimmels gehören zu diesem Bilde wie der dunkle Wasserspiegel des Maares und der Gottesacker im rauhen Höhenwind. Auch die neuen Kreuzwegbilder auf den Bronzetafeln an der Außenmauer gehören dazu wie das nun zwanzig Jahre alte monumentale Friedenskreuz des gleichen Künstlers vor dem Kapelleneingang. Da sind die Eifelmenschen, jung und alt, unter das Kreuz gestellt, und auf der Rückseite tönen die Namen der Golgathastätten unserer Zeit wie die Tuben des Weltgerichts. Im Kirchlein überm Totenmaar hat sich die Landschaft mit ihren Menschen ihr eigenes Seelenabbild gebaut.