Kartage im Eifeldorf

Klapperjungen in einem Eifeldorf

Heinz Haller +

Wohl keine andere Zeit im bunten Jahresring lebt so im Zusammenwirken bäuerlichheimatlichen und kirchlich-liturgischen Brauchtums wie die Passions- und Oster-^ zeit. Bildhauer, Maler und Musiker versenkten sich mit künstlerischer Gestaltungskraft in die Passion des Herrn. Der einfache, noch nicht von der Unrast unserer Zeit überrollte Mensch erlebt und gestaltet das Leben und Sterben seines Gottes in sinnvollem Brauchtum.

Wenn auch im Umbruch manches alte, aus der Kraft der Jahrhunderte gewachsene Brauchtum verloren ging oder neue, zeitgemäßere Formen annehmen mußte, so bleiben doch die Kartage randvoll gefüllt mit Singen und Sagen, mit Besinnung und Verinnerlichung, mit echtem Menschsein und rechtem Christsein. Diese Tage sind wie ein Atemholen in der Ruhelosigkeit, in der Hartherzigkeit und dem Immer-mehr des Alltags, sie sind wie eine Rast in der Gipfelfahrt des Lebens.

Aus der Fülle der Jahrtausende schuf der Mensch seine Bräuche, in fast vergessenen Mythen und ehrwürdigen Weisen steigt aus dem Urgrund der Geschichte das Wissen um Erlösung und Heil und schlägt in heiligen Zeichen und geheimnisvollen Symbolen eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart.

Die eigentliche Leidenszeit beginnt seit altersher mit dem Palmsonntag, oder einfach Palmtag, wie man früher sagte. Seinen Namen hat dieser Sonntag an der Schwelle der Karwoche, der „Heiligen" oder „Großen" Woche, von den Palmen, die das Volk Christus bei seinem festlichen Einzug in Jerusalem gleich wehenden Königsfahnen vorantrug. In der Eifel wie auch im übrigen Rheinland ersetzen seit altersher die Salweide oder der immergrüne Buchsbaum die morgenländische Palme. Um das Nacherleben dieses gewaltigen biblischen Geschehens echt und zeitgerecht zu gestalten, sprechen Volksmund und Liturgie gleichermaßen von „Palmen". So folgt auf die traditionelle Palmweihe in der Kirche die Palmprozession um das Gotteshaus. In vielen Orten der Eifel ist es alter Brauch, daß jeder zu dem Kreuz, das der Priester der Prozession voranträgt und am Kreuzaltar niederlegt, einen „Palmzweig" hinabwirft. Nach dieser symbolhaften Ehrung wird das Kreuz wieder unter festlichem Gesang ins Gotteshaus getragen.

Nach dem Gottesdienst nimmt jeder einen Strauß geweihter Palmen mit nach Hause. Dort werden die alten, vergilbten Zweige des Vorjahres durch neue, frischgeweihte ersetzt. Kein Kruzifix, kein Raum des Hauses, auch nicht Scheune und Stall, dürfen ohne gesegnete Palmen bleiben. In manchen Familien wurden und werden noch Palmsträuße aufbewahrt, um sie zum Schutz gegen Gewitternot im Küchenherd zu verbrennen oder in Hungerjahren dem Vieh unter das Futter zu geben. Kleine Palmästchen gab man vielerorts dem Neugeborenen in die Wiege, der Braut ins Haar und dem Toten in den Sarg.

Für den Nachmittag des Palmsonntags war es ungeschriebenes Gesetz, daß Bauern und Winzer mitsamt ihren Familien hinauszogen in Feld und Wingert; dort wurden geweihte Palmen in die Erde gesteckt, uraltes Symbol der vor dem bösen Feind schützenden Segenshand Gottes. Wenn man Glück hat, kann man heute auch noch dieses uralte Brauchtum erleben. Aber man kann unschwer den Zeitpunkt vorausbestimmen, an dem der letzte Bauer so zeichenhaft sein Werk dem Segen Gottes anvertraut. Wer möchte schon in unserer so klugen und aufgeklärten Zeit in dem Geruch stehen, „altmodisch" und unmodern zu sein?

Von einem besonders volkstümlichen Brauch erzählen Chroniken und vergilbte Blätter aus der Nordeifel, aus Köln und vor allem aus Bayern und Tirol. Dort wurde in der Palmprozession ein hölzerner Esel mitgeführt. Die ebenfalls aus Holz gearbeitete Christusfigur war mitsamt dem Esel auf einem Gestell mit vier Rädern montiert. Heute ist der Palmesel aus dem Eifeler und rheinischen Brauchtum verschwunden. In den Pfarrakten der Pfarrei St. Columban zu Köln findet man den Brauch des fahrbaren Palmesels in einer köstlichen Notiz aus dem Jahre 1732 bestätigt: „item Christus auff dem essel zu repariren l gülden 12 albus."

Auch das profane Palmsonntagsbrauchtum leidet unter dem allgemeinen Brauchtumsschwund und der Verkümmerung heimatlicher Traditionen. Man mag es bedauern oder gutheißen, in jedem Fall bleibt die Erinnerung an ein ehrwürdiges Stück echten Volkslebens.

Zu Hause werden am Palmsonntag die alten „Palmen" gegen neue gewechselt.

Auch heute noch besitzt die Karwoche ihr eigenes Gepräge. Im Eifel- und Moselraum sind bestimmte Arbeiten und Verrichtungen den Kartagen vorbehalten. Hausputz und Gartenarbeiten sollen, soweit das Wetter es zuläßt, bis zum Gründonnerstag beendet sein. Der Abendgottesdienst ist so recht dazu geeignet, die große, heilige Stunde des Herrn im Abendmahlsaal zu Jerusalem nacherleben zu lassen. In manchen Kirchen erhalten die Gläubigen Eulogien, das sind geweihte Brötchen, die man zu Hause in der Familiengemeinschaft verzehrt. Die mancherorts übliche Gebetswache bis Mitternacht soll an die Todeserwartung des Herrn im Ölgarten erinnern. Die Aufgabe der Glocken übernehmen vom Abend des Gründonnerstags an die Klapperjungen. Dieser alte Brauch, bei dem sich Ernst und Spaß mischen, erfreut sich noch ungebrochener Beliebtheit. Wenn die Glokken „nach Rom zur Beichte fliegen", beginnt die große Zeit der Klapperbuben. Mitselbstgebastelten Klappern und Rasseln ziehen sie morgens, mittags und abends sowie vor den Gottesdiensten durch Dörfer und Städte, rufen die Tageszeit aus oder laden zur Kirche ein. Seine Herkunft findet dieses Brauchtum in vorchristlichen Beschwörungsformen gegen die bösen Wintergeister. Mit Lärm und Feuer rückte man in heidnischer Zeit diesen Unholden zu Leibe, zugleich Platz heischend für die Geister und Götter der Fruchtbarkeit und des Lebens. Manche dieser Klappern und Rasseln dienen seit Generationen dem kartäglichen Zweck. Grob, aber solide gearbeitet verraten sie noch heute die schwielige Faust des Ahn.

Die Sprüche, welche die Klapperjungen in ihrer Mundart rufen, reichen vom einfachen „Meddag" (Mittag!), „Ovensglock" (Abendglocke!), „Eecht Maol" (das 1. Mal, entsprechend dem zweimaligen Läuten der Glocken vor den Gottesdiensten) bis zu sinnvollen Bezugnahmen auf den Tagescharakter. Es ist ein Verdienst von Seelsorgern, Lehrern und Volkstumspflegern, daß sie durch die Zeit abgenutzte und sinnentleerte Rufe durch aussagestarke ersetzten. „Wir läuten, wir läuten zum Angelus, wo jeder Christ weiß, daß er beten muß" oder „Wir künden euch des Herren Tod! Verschon uns Gott vor aller Not!" sind Beispiele, wie

Prozession am Palmsonntag

man abgeschmackte Brauchtumsformen unserer Zeit anpassen kann. Mit seltener Begeisterung sind die Jungen bei der Sache. Der älteste wird „Hauptmann". Einen Haselstock, das Zeichen seiner Würde, hebt und senkt er im Wechsel zwischen Klappern und Rufen. In größeren Orten oder Städten teilen sich die Klapperjungen in mehrere Trupps, damit die Uhrzeiten pünktlich eingehalten werden können. Am Nachmittag des Karsamstag, wenn „die Fastenzeit ausgeklappert" ist, zieht der „Hauptmann" mit zwei Gehilfen von Haus zu Haus; in ein blumengeschmücktes Körbchen sammelt er Eier, hochverdienten Lohn für zwei Tage Frühaufstehen, wildes Kurbelschwingen und heiseres Rufen.

Auch der Karfreitag hat sein besonderes Gesicht. Selbst wenn die Sonne scheint, sieht man in ihm den düstersten und dunkelsten Tag des ganzen Jahres. Jede unnötige Arbeit, insbesondere der Gebrauch eines Hammers, ist an diesem Tage verpönt. In manchen Orten tragen Männer und Frauen schwarze Kleidung. In den von allem Schmuck entkleideten Kirchen wird nach dem Karfreitagsgottesdienst zur Todesstunde des Herrn das „Heilige Grab" hergerichtet, ein Brauch, der vor allem im Trierer Land seit Generationen Ausdruck frommen Volksglaubens ist.

In der Nordeifel und im Kölner Raum verbrannte man früher den „Judas" in den Straßen. Ein kunstvoll hergerichteter Strohmann wurde durch den Ort geschleift und angezündet, symbolreiche Vernichtung des Winters. Nach einem Text des Ordinarius der Kölner Meßbücher vom Jahre 1525 hatte ein Diakon ein Wergbündel vor dem Chor mit der Kerze angesichts des Volkes anzuzünden, damit zugleich auf die Vergänglichkeit alles Irdischen wie auch auf die Flammen des Bösen hinweisend.

Am Todestag des Herrn gedenkt man auch der eigenen Verstorbenen. Wie am Allerseelentag brennen Lichter auf Grabhügeln in Stadt und Land. Wenn dann in der Osternacht die Klapperjungen zum letzten Mal durch die Straßen lärmen und wenig später zum Osteralleluja mit Schwung in die Glockenseile springen, ist die Karwoche zu Ende. Es gibt keine Woche im Jahresring, die so vielgestaltig in der Seele des Volkes lebendig wird. Es gibt auch keine Woche, die zu einem solchen Höhepunkt und Abschluß zugleich hinführt.