Der alte Hecht

Gerolsteiner Erinnerungen ...

Baptist Dohm

In den kleinen Fluß meiner Heimat gehörte der alte Hecht wie der Marktplatz zwischen die winkligen Straßen und der Amboß in die Schmiede von Onkel Carl, und so lange ich denken konnte, wurde von ihm gesprochen.

Gingen wir sonntags mit den Eltern spazieren — mein Vater liebte es, dann mit uns in einem der kleinen Gasthöfe einzukehren — so kam unweigerlich die Sprache auf ihn: denn unsere Bekannten und Freunde waren Jäger oder Fischer oder Naturfreunde wie mein Vater selbst. Wurde zufällig bei uns einmal nicht von ihm gesprochen, so schnappte ich von den Nebentischen Worte auf wie „der Alte" oder „der Räuber" oder wie man ihn sonst zu benennen pflegte.

Aber er war beileibe keine Sonntagsangelegenheit besserer Herren und nur Gesprächsstoff an den weißgedeckten Tischen der Hotels. Da war z. B. die Schmiede. Gibt es einen richtigen Jungen, der nicht dem Zauber der Schmiede, dem Geruch des nassen Eisens, dem Aufgrellen der Kohlen, dem Fauchen des Blasebalgs erlegen ist? in unserem Jungenleben gab es regelmäßig wiederkehrende Perioden, in denen wir in den Schulbänken unruhig wurden, wenn ein Pferd ohne uns beschlagen wurde. Ja, es gab Zeiten, in denen wir geradezu süchtig nach dem beißenden Rauch des Hufes waren, dem das heiße Eisen verpaßt wird.

Und wie nichtssagend waren die „Hären" an den Hoteltischen erst gegen die Besucher der Schmiede! Hier gaben sich die echten Männer, von Raunen, Legende, ja Heldentum, Stärke und wohl auch ein wenig Grauen umwittert, ihr Stelldichein.

Tief im Dunkel des fast fensterlosen Raumes standen sie, kaum zu erkennen, gebleichte, alte Hüte auf den Köpfen, mit struppigen Barten, irdene Pfeifenstummel im Munde. Nur wenn sich einer von ihnen an die Esse schob, um mit einer glühenden Kohle, die er mit der bloßen Hand nahm, den Strangtabak anzuzünden, formten sich die Schatten unter Hut und Bartwuchs zu einem Gesicht, das durch die Grelle und die Saugbewegungen der Mundpartien maskenhaft verzerrt und beinah dämonisch wirkte.

Stundenlang belungerten wir die Türe. und so leicht wagte sich keiner von uns hinein, es sei denn, er hatte an den Schmied einen Auftrag. Der Ton war hier ein anderer als in den Hotels, auf der Straße oder gar zu Hause und in der Schule. Auch die Luft, das Licht und das Dunkel. Es war, als habe sich das Schwarz der Nacht, die Grelle der Blitze, das Rauschen der großen Wälder und Brausen der Wasserfälle im engen Raum gefangen, geformt zum Rahmen dieser dunklen Gestalten. Trotzig stand jeder einzelne von ihnen außerhalb der Reihen der wohlachtbaren Bürger — und war Fallensteller, Wilddieb, Fischströpper — oder alles dies zusammen.

Wir verhielten den Atem an den Türritzen, wenn der alte Ewertz seine kurzen Tatsachenberichte knurrte, unumstritten der Erfolgreichste, Verwegenste und Verschlagenste von ihnen.

„Un ich krieg et Luder doch!" beteuerte er mit seiner von starkem Tabak und stetigen Erkältungen heiseren Stimme. Es klang wie ein Mordschwur, und wir fühlten, daß sich zwei ganz Große, Ebenbürtige eines Tages einen Kampf liefern würden, viel interessanter, aufregender und grandioser als all das dumme, fremde Zeug, das uns die Schulmeister zu erzählen hatten. Wir wußten auch, daß nur er der Sieger über den alten Hecht werden konnte.

„Junge, muß das ein Kabänes sein!" kam es rauh aus dem Dunkel.

„Ja, ja, so n Mann' han faustdick Moos aufm Kopp un'm Buckel," wußte ein anderer. „Hunnert Johr kann et Luder alt sein!" „Bä bä!" hustete der alte Ewertz. „Laßt en so alt sein wie Methusalem — ich kriegn ihn!" Mit vor Haß verhaltener Stimme stieß er es fast tonlos durch die Zähne.

Eifelbach

Hach! Wie mir das Herz vor Aufregung schlug! Muksmäuschenstill drückte ich mich an die Türe und hatte Angst, sie könnten da drinnen das laute Pochen hören und mich davon jagen! Dann beruhigte ich mich damit, daß ich wohl doch einen kleinen Freibrief für meine Anwesenheit habe, da wir mit dem Schmied, wie man sagt, Familie waren.

Das Reich, in dem der alte Hecht regierte, war seinem Ruf ebenbürtig, d. h. ein wenig unheimlich. Es begann unterhalb des kleinen Fleckens an der Mühle. Nachtgraue Basaltwände stürzen hier steil wie fugenlose Mauern ins rechte Flußbett, so daß das Wasser fast schwarz ist. Die Mühle ist ganz an die linke Talwand gepreßt. Dunkler Fichtenwald bedeckt hier den Steilhang. Nur am frühen Morgen oder gegen Sonnenuntergang spielen blitzende Lichter auf den Wellchen. Der Steilhang mit dem Wald zieht bis zu einer Eisenbahnbrücke. Hier wird das Wasser seicht und sonnig, so daß die Äschen und Forellen hier springen. Die Basaltwände der rechten Flußseite dehnen sich nur einige hundert Meter weit aus. Es folgen üppige Talwiesen, die sich wie bunte Fronleichnamsteppiche bis zur Eisenbahnbrücke legen.

In meinem 12. Lebensjahr kam ich in ein anderes Städtchen aufs Gymnasium. Während der großen Herbstferien, wohl 2 Jahre später, streifte ich mit einem älteren Vetter, der wildlebende Bienen studierte, am Flußufer entlang.

Es war Mittag. Die Hitze briet uns. Die Minze duftete so stark, und der Faulschlammgeruch ließ mich fast trunken dem Vetter nachstolpern, der die Blütenknöpfe am Uferrand mit seinem Netz abfing. Stets hat dieser Geruch der Fluß- und Bachufer in heißer Sonnenglut wie ein Narkotikum auf mich gewirkt, süß, berauschend, einschläfernd, die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verwischend. Meine dem Vetter .so lästigen Fragen waren längst verstummt, ich ließ mich streicheln von der wonnigen Stunde. So stieß ich gegen ihn, als er ruckartig stehen blieb. In seiner wortkargen Art zeigte er mit dem Fangnetz nach unten. Verdöst sah ich in dem seichten, kristallklaren Wasser der Ufernähe etwas Dunkles auf hellgelbem Grund. Schockartig wurde ich wach, wie ein Fauststoß rüttelte mich dieses Dunkle aus meinem Sonnen- und Duftrausch. Ich krallte mich in den Arm meines Vetters und keuchte: „Der alte Hecht!"

Nein, er war nicht schön wie der weiße Hirsch, der St. Hubertus entgegentrat, so daß viele Maler ihn dargestellt haben. Er war wie ein alter, abgewetzter, scheußlicher Knorren! Aber St. Hubertus kann nicht erregter, ergriffener gewesen sein als ich.

Der Vetter konnte nicht ahnen, was in mir vorging und wandte sich ab. In mir war die Vergangenheit aufgestanden, die Sonntagnachmittage in den kleinen Gasthöfen, besonders aber die halb zerkauten, rauhen Kehllaute aus derSchmiede . . . und Ewertz, grauenumwittert wie ein alter Indianerhäuptling aus den Büchern Karl Mays, die ich zu verschlingen begonnen hatte!

Vor mir ER, der Alte, der Herrscher der sagenhaft-schaurigen, unbeschreiblich fernen, von keines Menschen erschauten Welt der Tiefe. Das Unwirkliche, das Unerwartete, Unglaubliche und Unerreichbare war Wirklichkeit geworden.

Blitzschnell überprüfte ich die Möglichkeiten eines Abstiegs von der hohen Uferkante und bahnte mir vorsichtig einen Weg durch das Erlen- und Schilfgestrüpp. Ärgerlich knurrte der Vetter, schon voraufgegangen: „Mach bloß keinen Blödsinn mit dem toten Fisch und verpeste nicht die Gegend mit seinem Gestank!"

Ich hörte das zwar, aber es berührte mich nicht. Nicht mehr. Ich hatte mich auf kaum einen halben Meter dem Alten genähert. Greifbar stand er da. In kristallklarer Deutlichkeit erkannte ich jede Einzelheit. Zwei Blasen stiegen hoch. Ich erstarrte vor der Größe dieses Augenblicks. „Siehst Du nun, daß er fault!" rief es verächtlich von oben, „Mach dich rauf!"

Es ging mich nichts mehr an. Ganz langsam bückte ich mich, mehr, ich kroch zu einer ungeheuren Kraftanspannung in mich zusammen, schob die Arme vor und ließ die Finger zu Krallen werden. Oh, ich verstand mein Handwerk vom Forellenfangen in dem kleinen Gebirgsbach, den mein Vater gepachtet hatte. Aufs Äußerste konzentriert schoß ich dann blitzschnell mit dem ganzen Körpergewicht vor.

„Ich hab ihn!" schrie ich gellend, denn in die weichen Kiemen bohrten sich meine Fingerkuppen wie die Zähne einer Falle. Aber was dann kam, kann vom Weituntergang nicht überboten werden! Ich erhielt einen so fürchterlichen Schlag in die Knie- und Schenkelgegend, daß ich das Gleichgewicht verlor. Ich glitt, stürzte und ließ Sonne, Helle, Luft, Hitze, ja die ganze feste Welt hinter mir, ich wurde ins Chaos gerissen. Ich wollte schreien, es wurde ein Gurgeln, das mich fast erstickte, ich wollte mich aufrichten, ich konnte nicht, ich hatte die Erde verlassen. In Todesangst schlug ich um mich.

Mein Vetter muß mich bald gefischt haben. Ich fand mich erst wieder in der Wirklichkeit zurück, als ich auf der Wiese lag und Augen, Nase, Rachen, Knie und Schenkel fürchterlich zu schmerzen begannen. „Hast Du Idiot denn den Verstand verloren!" schrie mein Vetter. „Mein Hecht! . . . mein Hecht!" lallte, spuckte und schluchzte ich. „Jaja, Dein Hecht!" höhnte er. „Sahst Du denn nicht, daß das Luder sich nur sonnte?"

„Oh! der Alte! ... Der Alte!" wimmerte ich und erkannte, trotz aller Schmerzen, daß ich IHN in meinen kühnsten Träumen noch unterschätzt hatte.

„Halts Maul von Deinem Alten!" brüllte mein Retter, von Neuem erbost, „er wird Dir ein für allemal das Fischen vertreiben -— und mir wird er auch einen schönen reinwürgen, Du Dämel!"

Ach, er meinte meinen Vater. Mir wurde aber viele Jahre später erst klar, daß man die Finger von allem Großen und Freien lassen soll, das sich aller Verfolgung und Gewalt zum Trotz doch noch behauptet.