Lisa

Batti Dohm

Wenn die .Franzosenzeit' (1798—1815) auch nicht einmal 20 Jahre gedauert hat, ist sie doch durch irgendein Ereignis in manchen eifeler Familien in der Erinnerung geblieben. Die Wirtschaft der Eifel nahm unter der neuen Herrschaft einen bis dahin unbekannten Aufschwung. Er kam, außer den Gerbereien und der Tuchherstellung besonders den eifeler Eisenwerken — Reitwerke genannt — zugute, die den Aufträgen für die Rüstungsindustrie und Befestigungsanlagen kaum nachkommen konnten. Die Konjunktur wurde erheblich gefördert durch die Aufhebung der Zollschranken.

Was dies bedeutete, geht daraus hervor, daß sich im Gebiet der damaligen Rheinlande etwa 105 reichsunmittelbare Herrschaften befanden, die alle ihr Zollrecht ausübten.

Nunmehr konnte ohne Schwierigkeit und Abgaben das Roh- und Schmiedeeisen der eifeler Werke und Hütten transportiert werden. Es ging fast ausschließlich nach Andernach, um von dort per Schiff in die Gewehrfabriken nach Lüttich oder Frankreich transportiert zu werden. Eine Folge war, daß die Zahl der Pferde bei den Fuhrunternehmern und Posthaltereien nicht mehr ausreichte, so daß der Staat die Zucht beachtlich förderte.

Gerade das eifeler Pferd — Ardenner Schlag genannt — war seitens der Regierung wegen seiner Widerstandsfähigkeit, ja Unverwüstlichkeit und Zugkraft erkannt worden und besonders geschätzt.

Leider nahm die staatliche Förderung für die Züchter ein tragisches Ende; denn als Napoleon zum Feldzug nach Rußland rüstete, erlebten die Eifelbauern die Kehrseite der Medaille. Ihre Pferde, da besonders geeignet, wurden eingezogen. Welches Ausmaß dies annahm, geht daraus hervor, daß 180 000 eingezogen wurden und nach Rußland trabten. Um diese kaum glaubliche Zahl zusammen zu bringen, war man mit aller Rigorosität vorgegangen, ohne Rücksicht auf bäuerliche Belange.

So erging es in Dockweiler auch Vater Klausen. Er hatte seinen Pferdestall dank einer ausgezeichneten Zuchtstute auf acht, zuletzt auf zehn Gespanne aufgestockt. Tagtäglich waren seine Fuhrwerke unterwegs, luden an der Gewerkschaft in Jünkerath, ,auf der Schmett' (Eisenschmitt) oder an der Schauerbach bei Müllenborn-Gerolstein Eisenbarren oder Stabeisen und fuhren über Kelberg oder die .Napoleonstraße' über Stadtkyll zum Rhein. Auch Lisa, die Stute, war nicht ausgenommen, wenn sie nicht gerade hochtragend war oder gerade gefohlt hatte.

Aber nun, mittlerweile alt geworden, entging sie dem Schicksal. Ihr von all den vielen Fohlen unförmig gewordener Bauch verschonte sie — mutterseelenallein stand sie nun in einem der großen Ställe.

Als Vater Klausen eines Morgens einen Wagen Mist auf den Eselsberg fuhr, stieß er mit einem Requisitions-Kommando zusammen, das von Gerolstein kam und zum letzten Mal das Departement durchkämmte, da immer noch Pferde gesucht wurden.

Trotz seines verzweifelten Wehrens, der Berufung auf den Freistellungsschein des Pferdes, der Hinweise auf das Alter und die Unbrauchbarkeit des Tieres, mußte er abladen und ausspannen.

Mit dem allerletzten, kümmerlichen Transport trabte Lisa über Dreis-Kelberg nach Andernach zum Hafen.

Schreck, Wut und Niedergeschlagenheit von Vater Klausen sind nicht zu beschreiben, noch viel weniger die Verzweiflung seiner Frau, als er ohne Wagen und Pferd nach Hause kam.

Lisa, die gute, treue, alte Stute — vielleicht war sie sogar noch trächtig, mit Sicherheit wußte man es bei ihrem Alter nicht!

Wortlos saßen sie am Abend um den Haferbrei. Vor Tränen sah Ammie nichts, und daß er angebrannt war, fiel Pitter nicht auf, vor Gram schmeckte er ihm sowieso nicht. In der Nacht fanden sie keinen Schlaf.

„Was sollen wir machen, Pitter?" klagte Ammie mit tränenerstickter Stimme. „All unsere schönen, stolzen Pferde weg — und nun auch noch Lisa! Zehnmal hat sie gefohlt, das letzte Mal auf Palmsonntag vor 3 Jahren. Weißt du es noch, Pitter? Ich seh' noch, wie sich das Füllchen aufrichtet und Lisa leckt es, stößt mich mit dem Strohwisch weg."

Die Erinnerung läßt sie schluchzend aufweinen.

Gerädert erheben sich die beiden, als der Morgen kommt.

Mutlos geht Pitter in den leeren Stall. Die beiden großen Jungen sind schon lange weg, ebenso die Fuhrknechte. Nun soll Mist raus, soll gepflügt werden — und er hat kein Gespann, seine Kühe sind nicht angelernt. Und die Kleinen, der Älteste ist knapp zehn, sind keine Hilfe. Soll Ammie mit ihnen den Pflug ziehen müssen? Verzagt hockt Pitter auf der Futterkiste. Soll er zur Mairie? Er sieht das Schulterzucken des Offiziers: C'est la guerre, mon chere" — S'ist Krieg, mein Lieber ..." Es wird Abend. Wieder sitzen sie im Schein des offenen Küchenfeuers vor ihrem Haferbrei und noch verzagter gehen sie schlafen. In der Dunkelheit, die kein Stern erhellt, überkommt es Ammie wie eine würgende Faust.

„Pitter!" wimmert sie, „Ist dir denn immer noch nichts eingefallen, wie es weitergehen soll?"

„Nix!" stößt er durch die Zähne, ebenso rat- und hilflos. „Mach die Augen zu und schlaf — Heulen bringt Lisa auch nicht zurück!" Er zieht sich das Plumeau über die Ohren, um ihr leises Weinen nicht mehr zu hören. Kaum ist er etwas eingeduselt, schreckt er hoch, Ammie hat ihn angestoßen. Undeutlich sieht er, daß sie aufrecht im Bett sitzt und mit angehaltenem Atem in die Nacht lauscht.

„Pitter!" flüstert sie tonlos.

„Krtjist! 'Laß mir mein' Ruh!" poltert er böse.

„Pssst! — Hörst du denn nichts?!" „Donnerkiel — nun aber Schluß!" Er reißt sich das Kopfkissen heran — da — ganz schwach von ganz weit — wiehert es. Nun hält er den Atem an. — Jetzt wieder — deutlicher — näher.

„Lisa!" gellt Ammie im schrillsten Diskant.

Mit einem Satz sind sie beide aus dem Bett. Im Hemd und barfuß jagen sie die Treppe hinunter durch die Küche in den Hof.

Trab — trab — trab — biegt es müde um die Hofecke — Lisa!

Wie einem aus dem Krieg heimgekehrten Jungen werfen sie dem Pferd die Arme um den Hals. Gemeinsam führen sie es in den Stall.

Den Weg von Andernach, den sie so oft gemacht hat, fand sie allein zurück. Wie sie jedoch dem Verladen entgangen ist, hat Pitter nie erfahren.

Der Feldzug hatte begonnen, die Musterungen waren abgeschlossen — Lisa blieb. Kurze Zeit später wußte Pitter, daß sie trächtig war. Und im Frühjahr macht im Pesch hinter dem Stall ein Füllchen seine ersten lustigen, unbeholfenen Sprünge.

Von den 180000, die nach Rußland getrabt waren, kamen nur 6000 zurück. Die eifeler Pferdezucht war völlig vernichtet, das eifeler Pferd, der Ardenner Schlag, für immer ausgerottet.

Bei Klausens in Dockweiler aber ist die Erinnerung an Lisa, die alte, treue, letzte Stute bis heute lebendig geblieben.