Volkstrauertag 1974

Von Landrat Hans Willy Römer

Was sagt uns dieser Tag, was empfinden wir, wenn wir heute gemeinsam als Bürgerschaft zu den Mahnmalen unserer Toten ziehen, welche Vorstellungen und Gefühle verbinden wir mit diesem Tag?

Wir sehen die Ehrenformation der Bundeswehr und vielleicht weckt der Anblick unserer Soldaten in uns noch immer den Gedanken an Krieg. Wenn das so wäre, dann wäre es schon vom Ansatz her falsch, denn unsere Soldaten dienen heute nicht mehr dem Krieg, sie sind auch kein Staat im Staate mehr, sondern es sind unsere Mitbürger in Uniform, die sich mit uns und für uns darum bemühen, den Frieden zu erhalten.

Aber selbst wenn wir mit diesem Tag schon allein aus seiner leidgeborenen Tradition heraus den Gedanken an Krieg verbinden, ist es dann wirklich noch ein Volkstrauertag oder ist uns dieser Tag nicht schon eher zu einer lästigen Pflicht geworden, von der man nur nicht weiß, wie man sie mit Anstand aus der Welt schaffen kann? Bedeutet uns das erschütternde Erlebnis noch etwas, das uns damals alle als Volk zu einer Trauergemeinschaft zusammengeschweißt hat? Wir müssen weit in der Erinnerung zurückgehen, so weit, daß viele von denen, die heute bereits selbst in die Verantwortung für ihre Familien, ihre Betriebe und unseren Staat hineingewachsen sind, es aus eigener Erinnerung nicht mehr nachvollziehen können. Wir müssen es uns von der Generation vor uns berichten lassen, welches Grauen damals dem endgültigen Chaos vorausging, das unsere Städte in Trümmer legte, das Not und oft unaussprechliches Leid und Tod in fast jede unserer Familien gebracht hat. Aber selbst wenn wir es dann hören: Sind wir überhaupt noch zum Mitempfinden fähig, zur Trauer bereit? Haben wir überhaupt noch eine Chance zur Trauer, zum Mit-Leid im wahrsten Wortsinn mit unserem Mitmenschen oder wird dies alles verdrängt durch unsere Jagd nach Wohlstand mit all unserer vordergründigen Geschäftigkeit und Tüchtigkeit? Gilt uns überhaupt ein fremdes Menschenleben noch etwas oder sind wir von all dem Blut, das uns täglich aus unseren Zeitungen entgegenfließt, von den Fernseh- und Radioberichten über auch heute noch tobende Kriege, Brutalitäten, Verbrechen und Katastrophen schon so abgestumpft, daß uns dies alles gleichgültig läßt?

Damit wir uns recht verstehen: Ich will hier nicht zur Buße in Sack und Asche aufrufen. Es ist gut, daß die Zeit die Wunden heilt. Es bleibt gerade noch genug persönliche Trauer von all denen die den Vater, die Mutter, den Bruder, die Schwester, den Mann, die Frau oder die Kinder verloren haben. Wir respektieren diese Trauer und wir verneigen uns vor ihrem Schmerz. Wichtig aber ist für uns, daß uns diese Toten nicht gleichgültig sind. Wichtig ist, daß wir in unserem Leben einen Platz für diese Toten lassen, denn nur dann bleibt auch ein Platz für die Lebenden und wichtig ist, daß wir nie vergessen, warum diese Menschen gestorben sind. Alle diese Toten sind Opfer der Gewalt. Sie sind gewaltsam gestorben draußen auf den Schlachtfeldern der Welt und sie sind hier herinnen in der Heimat gestorben im Kugelhagel und im Bersten der Bomben und Granaten. Ihre Mahnung, die sie heute vielleicht lauter denn je rufen ist: Nie wieder Gewalt.

Ich denke dabei nicht nur an die Gewalt, die wieder mit einem Krieg über uns hereinbrechen könnte. Ich denke genau so an die Gewalt im Innern, an die, die Pflastersteine aufheben, Menschen entführen und nicht vor Mord und Totschlag zurückschrecken um Angst und Schrecken zu erzeugen und damit unserem Volke etwas aufzwingen wollen, was die große Mehrheit ganz offensichtlich nicht will.

Dabei soll hier und heute gesagt werden, daß Gewalt auch ausübt, wer als Bestandteil einer ausgeklügelten Umsturzstrategie in den Hungerstreik tritt, Nahrung verweigert, sich mit Gewalt gegen eine künstliche Ernährung wehrt und in ideologischem Fanatismus sogar seinen eigenen Tod bewußt herbeiführt, um zumindest Ratlosigkeit, vielleicht sogar Sympathie unter unseren Bürgern zu wecken, um in diesem Klima der Verunsicherung umso eher den Umsturz mit Gewalt zu erreichen.

Hören wir hier und heute die Mahnung dieser Toten: Nie wieder Gewalt. Wenn wir diese Mahnung nicht hören, sind diese Toten nicht nur umsonst gestorben; wenn wir diese Mahnung nicht hören und nicht alle energisch dazu beitragen, in unserer Öffentlichkeit ein Klima zu erzeugen, das Gewalt nicht aufkommen läßt, könnten wir in eine Entwicklung hineingetrieben werden, in der wir aufwachen und entsetzt feststellen, daß unser freiheitlicher Rechtsstaat von der Gewalt hinweggefegt worden ist. Es soll hier bei Leibe nicht einem krampfhaften Festhalten an einer unveränderbaren Gesellschaftsform das Wort geredet werden. Eine Gesellschaft ist etwas Dynamisches und deshalb dürfen auch unsere Lebens- und Gesellschaftsformen nicht starr und unveränderbar sein, sondern sie müssen dem Wandel angepaßt werden können. Dabei gehört es zum Wesen der Demokratie, daß man sich auch für etwas ganz anderes als das Bestehende entscheiden kann. Aber wir sind mündig genug, um uns diese Entscheidung nicht abnehmen zu lassen, um uns von einigen Fanatikern nicht mit Gewalt eine Lebensform aufzwingen zu lassen, die die Mehrheit unseres Volkes nicht will. Solange die Mehrheit dieses Volkes unseren freiheitlich - demokratischen Rechtsstaat bei allen seinen zugestandenen Unzulänglichkeiten noch immer für die beste und freiheitlichste Lebensform unserer Gemeinschaft empfindet, ist sie von all denen, die sich Demokraten nennen, zu respektieren. Die, die mit Gewalt die Mehrheitsmeinung unterdrücken wollen, bringen nicht mehr Demokratie, sondern sie nehmen uns unsere Freiheit. Deshalb laßt uns miteinander reden, und bleiben wir miteinander im Gespräch: das bessere Argument sticht dann und ihm wird sich in der friedlichen Auseinandersetzung die Mehrheit anschließen. Wagen wir also nicht mehr sondern weiter Demokratie und hören wir auf die Mahnung dieser Toten: Nie wieder Gewalt.