St. Nikolaus im Sack

Alfons Poss

Die nachfolgende Geschichte hat sich genau oder doch fast genau so zugetragen, wie sie erzählt und geschildert wird. Die Orte der teils ernsten, teils heiteren Ereignisse waren Uess und Horperath, beide nur wenig südlich des Hochkelbergs gelegen.

Im Mai des Jahres 1923 begann man in Uess mit der Erweiterung der zu kleinen alten Pfarrkirche. Pastor Karl Maria Ritter, der als Erbauer des neuen Gotteshauses in die Geschichte der Pfarrei einging, ertrug nur ein Jahr lang die Sorgenlast der in sehr schwerer Zeit in Angriff genommenen Arbeit. Kaum 38 Jahre alt, starb er im Juni 1924. Sein Nachfolger im Amte wurde Johannes Schuster. Dieser bemühte sich mit ganz besonderem Eifer um die Ausgestaltung und Ausschmückung des der Vollendung entgegengehenden weiträumigen Baues. In Kirchen und Kapellen und auch in privaten Bereichen suchte und fand er nah und fern, was ihm als Zier irgend passend schien, und brachte es nach Uess. So kam auch St. Nikolaus, eine 90 Zentimeter hohe Holzstatue, aus der Kapelle in Horperath in die erweiterte Pfarrkirche nach Uess. Sie erhielt ihren Platz rechts an der Wand, unmittelbar hinter der zweiten Eingangstür zur Kirche. Dank dem rastlosen Bemühen von Pfarrer Schuster wurde das neue Gotteshaus mit seinem kunstvollen Hochaltar, der von Berglicht im Hunsrück stammt, den zahlreichen holzgeschnitzten, farbenprächtigen Heiligenstatuen und bemerkenswerten Bildnissen und Einrichtungsgegenständen zu einem Schmuckstück, das bei den Besuchern der Kirche nur Bewunderung auszulösen vermag.

St. Nikolaus Statue in der Kapelle Horperath

Nur sehr schweren Herzens hatten sich die Horperather von ihrem Nikolaus getrennt, zumal der heilige Bischof der Schutzpatron der Gemeinde ist. Das Verlangen, die Statue wieder in der Kapelle zu Horperath zu haben, erlosch nicht.

Die Zeit rann dahin: zehn Jahre, zwanzig Jahre und noch einige dazu. Der schreckliche zweite Weltkrieg war zu Ende. Noch sehr frisch waren die Wunden, die er geschlagen. Man trauerte um die Gefallenen, man bangte um die Vermißten, man sorgte sich um die Gefangenen, deren Rückkehr in die Heimat noch ungewiß war. Pfarrer in Uess war seit dem Jahre 1938 Johannes Tempel, ein selbstbewußter und Respekt heischender Herr.

Etwa ein Vierteljahrhundert also schon stand St. Nikolaus von Horperath in der Pfarrkirche zu Uess. Die Horperather schauten immer wieder zu ihm hin, wenn sie das Gotteshaus betraten oder dieses verließen. Bischof Nikolaus schien ihnen freundlich zuzunicken, kannte er sie doch alle, auch die Jüngeren. Sie hatten ja ähnliche Gesichtszüge oder eine ähnliche Statur wie ihre Eltern oder Großeltern.

Nikolaus wäre auch selbst sehr gerne unter die Seinen nach Horperath zurückgekehrt. In stillen, einsamen Stunden sann er vor sich hin: Warum soll ich hier so untätig stehen? Sind doch außer mir in der Uesser Kirche noch zwei andere Nikolause (oder Nikoläuse!)! Auf der rechten Seite des Hochaltars steht ein 110 Zentimeter hohe Nikolausstatue in goldenem und silbernem Bischofsgewande. Sie zeigt St. Nikolaus mit den drei Knaben in einem Bottich, die der fromme Bischof der Legende nach wieder zum Leben erweckt hatte. Außerdem ist das Fenster, das die Gemeinde Horperath für das neue Gotteshaus gestiftet hat, mit einem Bildnis des hl. Nikolaus geziert. Unser Nikolaus sprach voll Wehmut in sich hinein: Ach, könnte ich doch von meinem hohen Sockel hinunter, ich möcht' zu Fuß nach Horpert gehn!

Bereits mehreremal hatten Vertreter der Gemeinde Horperath im Pfarrhaus zu Uess vorgesprochen und den Herrn Pastor um die Rückgabe der Nikolausstatue gebeten. Diese Bitte wurde aber stets abgelehnt. Fast genau so, wie in der Bibel zu lesen ist, konnte man sagen: „Doch das Herz des Pfarrers blieb verstockt." Eines Tages aber bot Pastor Tempel — bei ihm zu Besuche waren Matthias B. und Nikolaus P. — einen Kompromiß an. Er versprach, die Statue zurückzugeben, sobald in Horperath ein neugeborener Junge auf den Namen „Nikolaus" getauft werde. Auf einen solchen Handel wollte man in Horperath nicht eingehen. Gab es den Namen „Nikolaus" schon häufig genug in den verschiedensten Abwandlungen. Da rief und hörte man z. B.: Nikla, Klaus, Klaos, Kläs. Man wollte auch nicht in das Recht der Eltern eingreifen, den Namen ihres Kindes selbst zu wählen. Die Fronten blieben also verhärtet. Am Ende gelangten die Horperather zu der Ansicht, daß der Worte genug gewechselt waren. Nunmehr sollten Taten folgen. In aller Stille und unter größter Geheimhaltung reifte ein Plan, der dann schließlich auch in die Tat umgesetzt wurde.

Pfarrkirche und Pfarrhaus zu Uess (vor der Renovierung des fast tausendjährigen Turmes)

Es war am Vorabend des St. Nikolaustages, ob es das Jahr 1950 war, weiß heute wohl niemand mehr so recht, als sich die Mädchen von Horperath zusammengefunden hatten, um die Kapelle für den Ehrentag ihres Dorfpatrons zu säubern und zu schmücken. Wie jedes Jahr, so wollten sich auch diesmal wieder die Gemeindeangehörigen mit ihren Gästen und dem Herrn Pastor am nächsten Vormittag zu einem festlichen Gottesdienst in dem kleinen Gotteshaus versammeln. Zwei der Maiden aber, Maria K. und Katharina E., machten sich auf den Weg nach Uess. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, als die beiden still und sachte die Tür der Pfarrkirche öffneten und in das düstere Gotteshaus eintraten. Nur wenige Schritte, da waren sie am Ziel. Ein Paar schlanke Mädchenarme reckten sich empor. Behutsam, aber doch fest umschlossen die beiden Hände die St. Nikolausstatue und hoben sie von der Konsole herunter, und schon glitt die Statue in einen Sack. Es war kein gewöhnlicher Sack, etwa ein Kartoffel- oder Hafersack, nein, ein sauberer, weißer Wäschesack, den die beiden Mädchen für ihr Vorhaben mitgebracht hatten. Mit St. Nikolaus im Sack verließen Maria und Katharina ungesehen die Kirche in Uess und begaben sich auf den Rückweg nach Horperath. Längst schon waren sie über den Berg, als die jahrhundertealten Glocken der Uesser Pfarrkirche zum abendlichen „Engel des Herrn" läuteten. Jubelnd wurden Maria und Katharina begrüßt, als sie mit St. Nikolaus im Sack in der Kapelle zu Horperath eintrafen. Der Sack mit der Nikolausstatue blieb zunächst verschnürt und wurde hinter den Altar gestellt.

Man möchte denken, St. Nikolaus sei erschrocken, als man ihn packte und in den Sack steckte. Nein, er wußte genau, das waren keine Einbrecher, Räuber oder Frevler, die ihn entführen wollten. Wie hätte man ihm, der während seines Lebens und auch nach seinem Tode den Menschen immer nur Gutes tat, irgend ein Leid zufügen können! Die Unterhaltung der beiden Mädchen verriet ihm auch bald, was ihm bevorstand. Da wurde ihm wohlig warm ums Herz.

Am 5. Dezember herrschte ein Wetter, wie es zum Nikolaustage auch sein sollte, stürmisch und regnerisch. Herr Pastor Tempel entschloß sich daher, bereits am Nachmittag vor dem Nikolausfest nach Horperath zu gehen, um im Hause Joseph Adams zu übernachten, damit er am kommenden Morgen die feierliche Messe zu Ehren des Dorfpatrons pünktlich und ausgeruht zelebrieren konnte. Vor dem Abendessen bei Familie Adams machte der Herr Pastor noch einen Besuch in der Kapelle. Als er eintrat, stand Katharina S. gerade auf dem Betschemel, um den von der Decke herabhängenden Adventskranz mit rotem Band zu zieren. Pastor Tempel wies auf die ranke und schlanke Mädchengestalt in der Höhe hin und bemerkte spöttelnd: „Was wollt ihr noch? Da habt ihr ja schon einen schönen Nikolaus stehen." Katharina war wohl eine sittsame und tugendhafte Jungfrau. Als Heilige mochte sie zu ihren Lebzeiten aber doch nicht gelten. Gegen lebende Heilige hatte sie sogar eine große Abneigung. Sie und die anderen Mädchen kicherten nur in sich hinein. Was noch folgen sollte, wahrten sie als strenges Geheimnis.

Der Herr Pastor hatte die Kapelle wieder verlassen. Vor der linken Chorseite wurde ein Tischchen aufgestellt und mit Blumen geschmückt. Hier sollte Bischof Nikolaus zu seinem Ehrentage einen würdigen Platz erhalten. — Das geschah just zur Stunde, als die kleinen Jungen und auch manche Mädchen draußen in den Häusern bangten und zitterten, St. Nikolaus oder sein Knecht Ruprecht könnte sie in seinen Sack stoppen und mitnehmen. Nun war an diesem Abend St. Nikolaus einmal selbst in einen Sack hineingeraten. Geduldig jedoch hatte er bisher darin ausgeharrt. Die Mädchen lösten schließlich die Schnur und befreiten ihn aus seiner Lage. Er mußte sich aber noch gefallen lassen, daß man den Staub von ihm abwischte, ihn winerte und polierte, bis er glänzend und strahlend seinen Platz auf dem Tischchen einnehmen konnte. — Was mochte wohl der nächste Morgen bringen!

Chor der alten Pfarrkirche Uess, früherer Zustand

Gemeinsam mit Joseph Adams begab sich Pastor Tempel zur Kapelle. Man schaltete das .Licht an. Dieses blendete für einen Augenblick die beiden Eintretenden. Dann aber wurden deren Blicke hingezogen zu dem weißgedeckten, blumengeschmückten Tischlein vorne auf der Frauenseite. Der Herr Pastor stutzte. Konnte er seinen Augen trauen? Er zog die etwas beschlagene Brille nach unten. — Ja, nun sah er deutlich, was er ganz und gar nicht sehen mochte. Da stand er wirklich und wahrhaftig: Der heilige St. Nikolaus, der doch nicht hier, sondern in der Pfarrkirche zu Uess stehen sollte. Erschrocken und zugleich entrüstet kam es von den Lippen des Pastors: „Joseph, jetzt sieh mal da!!!" — Joseph räusperte sich und bemerkte etwas zaghaft und kleinlaut: „Eine freudige Überrachschung!" Pastor Tempel war da entschieden anderer Meinung. Sein Gesicht war blaß geworden. Die krausgezogene Stirn verriet den heiligen Zorn des Gerechten. So schritt er zum Altar. Stumm legte er die Meßgewänder an.

Während er die heilige Messe zelebrierte, konnte und wollte Pfarrer Tempel wohl auch nicht seinen Unmut und seine Mißlaune verbergen. Bei den in der Kapelle versammelten Gläubigen indes herrschte ungetrübte Festtagsstimmung. Am liebsten hätte man gesungen:

Laßt uns froh und munter sein

und uns in dem Herrn erfreu'n!

Lustig, lustig, tra-le-ra-le-la,

nun ist Nikolaus wieder da,

nun ist Nikolaus wieder da.

Von seinem Tischchen blinzelte Nikolaus nur scheu zum Altare hin. Frohgemut und dankbar aber schweiften seine Blicke durch die Reihen seiner lieben Horperather.

Die heilige Messe war zu Ende. Der Herr Pastor mahnte zum Gebet für die Toten: „Nun laßt uns noch beten für die lieben Verstorbenen!" und etwas bissig fügte er hinzu, „die es sich nicht erkühnt hätten, den Nikolaus mit Gewalt von Uess wegzunehmen." Gleichwohl, den Toten soll man nichts Übles nachsagen. Sie mögen ruhen in Frieden. Jeder wußte aber, daß die lieben Verstorbenen das irdische Jammertal nicht immer ganz tugendhaft durchschritten hatten, wenn sie auch allezeit bemüht waren, nicht vom schmalen Weg, der zum Leben führt, abzuweichen. Und da vielleicht noch nicht alle die himmlische Glückseligkeit erlangt hatten, betete man in Andacht, daß ihnen bald das ewige Heil zuteil werde. — Zu allem Überfluß erlosch dann auch noch das elektrische Licht. Der Herr Pastor sah diesen Übelstand als Menetekel für die begangene Missetat an. Genau wie bei der Segenserteilung am Schluß der heiligen Messe wandte sich Pfarrer Tempel nun noch einmal zu den in der Kapelle versammelten Gläubigen (oder Ungläubigen!) um und tat laut und deutlich kund: „Ich werde in Horperath keine heilige Messe mehr lesen, bis der Nikolaus wieder in Uess ist." — Die Geschichte ist also noch nicht zu Ende.

Kapelle zu Horperath

Herr Pastor Tempel begab sich nach der heiligen Messe nicht nach alter Gepflogenheit zum Hause Joseph Adams, wo ein guter Kaffee in der Stube duftete und der Tisch zum Feste reichlich gedeckt war. Mochte auch der noch nüchterne Magen knurren, Herr Tempel strebte unverzüglich mit eiligen, weiten Schritten, das „sündige" Dorf bald hinter sich lassend, dem „hilligen" Uess zu: bergauf, über die Höhe, bergab, am rauschenden Üßbach entlang und wieder bergauf. Ein rauher Nordwestwind trieb ihm kalten Regen ins Gesicht. Zum Schütze zog er den breitkrempigen dunklen Hut in die Stirn. Sein Schirm stand nämlich noch bei Familie Adams in Horperath. Beim Verlassen der Kapelle hatte der Herr Pastor nur kurz Fräulein Käthchen, die Schwägerin von Joseph Adams, unterrichtet, daß er nicht zum Kaffee kommen werde. In Uess schaute er noch einmal in das Gotteshaus. Nein, es war kein Traum und keine Sinnestäuschung, das Konsölchen an der Wand rechts hinter dem doppeltürigen Kircheneingang war leer. Auch die Küstersfamilie in Uess konnte keine Auskunft geben über das, was sich am Abend zuvor in der Kirche zugetragen hatte.

Die Horperather hatten sich stets als treue Schäflein der Pfarrei Uess erwiesen. Sie wollten nicht in Unfrieden mit ihrem Herrn Pastor leben. Zudem waren sie kluge Leute. Sie besaßen also die Tugenden, die es ihnen nicht schwer machten, in dem Streite um die Nikolausstatue nachzugeben. Dieses Mal waren es Joseph A., Matthias B. und Toni K. die kurze Zeit nach Weihnachten die St. Nikolausstatue erneut in einen Sack packten und zurück an ihren alten Platz in die Kirche nach Uess brachten.

Pfarrer Tempel fand die Gesinnung und das Verhalten seiner Horperather Schäflein höchst edel und lobenswert. Er zeigte sich sichtlich beeindruckt und zutiefst gerührt. Ganz unwillkürlich vollzog sich in ihm ein innerer Wandel. Den drei Männern, welche die Nikolausstatue wieder nach Uess gebracht hatten, sagte er die baldige Rückgabe der Statue zu. Schnell hatte man sich auch schon auf den Tag geeinigt: Der Dienstag vor dem Feste Christi Himmelfahrt der Tag, an dem nach altem Brauch die Bittprozession von Uess nach Horperath gehalten wurde. Die Rückführung der Statue des hl. Nikolaus sollte ein feierliches Ereignis für die ganze Pfarrei Uess werden.

Die Nachricht über die nicht mehr allzu ferne Rückkehr ihres Nikolaus löste bei den Horperathern größte Freude aus. In den übrigen sieben Orten der Pfarrei zeigte man frohe Anteilnahme. — Die Bittage rückten näher. In Horperath fertigte man eine Trage an, auf der die Nikolausstatue von Uess nach Horperath zurückgeholt werden sollte. So geschah es denn auch.

Der Dienstag vor dem Feste Christi Himmelfahrt war gekommen. Die Bittprozession nahm den Weg nach Horperath. Inmitten zahlreicher betender und singender Teilnehmer trugen vier Männer auf der mit Maiengrün und Blumen umwundenen Trage die St. Nikolausstatue. Während sich die Prozession von der Pfarrkirche hinunter ins Üßbachtal bewegte, sang man die Allerheiligenlitanei. Besonders deutlich und feierlich sang der Priester das „Sancte Nicolae". Das darauffolgende „Ora pro nobis" klang und schallte weit durchs Tal, hinauf nach Mosbruch und hinab nach Hörschhausen. Nach etwa einer Stunde war die Kapelle in Horperath erreicht.

An die dreißig Jahre steht die Statue des heiligen Bischofs Nikolaus bereits wieder in der Kapelle zu Horperath. Dort wurden in den gewohnten Zeitabständen die heilige Messe gelesen und alljährlich das St. Nikolausfest gefeiert. Wie eh und je stärkte sich der Uesser Pastor nach dem Gottesdienst bei Familie Adams am Kaffeetisch. Nur noch schmunzelnd und lachend erinnert man sich der einstigen Vorkommnisse. Voll Ehrfurcht und Liebe halten die Horperather ihren Schutzpatron, den großen und gütigen Bischof Nikolaus, in ihr Herz geschlossen.

Am Ende bleibt noch nachzutragen, daß den langjährigen Platz des Horperather Nikolaus in der Pfarrkirche zu Uess heute eine schmucke Statue des hl. Wendelinus, des Schützers der Kühe, Schafe und Ziegen, einnimmt.