„Mir ward keine Liebe, kein heimatlich Land ..."

Erinnerungen an die „Kolverather Traud" — oder: Ein Mensch am Rande der Gesellschaft

Franz Josef Ferber

„Vor vielen, vielen Jahren ließ sich in Hameln ein wunderlicher Mann sehen". So oder ähnlich beginnt das bekannte Märchen von dem Rattenfänger aus der Weser-Stadt. Wenn ich an diese Sage erinnert werde, gehen meine Gedanken unwillkürlich weit zurück zu jener alten Frau, die in den Tagen meiner Kindheit in meinem näheren und weiteren Heimatraum eine irgendwie sonderbar geartete Rolle gespielt hat: die „Kolverather Traud", andernorts auch die „Kamille-Traud" oder die „Böh-Traud" genannt. Ich erinnere mich noch oft und gut an sie, an diese alte und erbarmungswürdige Frau mit dem aschfahlen und tief zerfurchten Gesicht, mit der auffallend hohen Stirn und dem zerzausten, grauen Haar. Unvergeßlich bleiben mir die Eindrücke, die ich gewann, wenn diese bemitleidenswerte Person, eine alte Stofftasche oder gar einen Pappkarton tragend, die ihre Habseligkeiten bargen, schimpfend und fluchend durch meinen Heimatort gen Bahnhof Utzerath zog, von dem Gespött einer Kinderschar und nicht selten von dem der Erwachsenen (!) begleitet. Was gab das ein Spektakel, wenn es hieß: Dort kommt die Kolverather Traud! Sehr bald hatte sich jung und alt zusammengefunden. Die Kinder begleiteten mit gebührendem Abstand die alte Frau, die „Alten" säumten die Dorfstraße oder schauten aus angemessener Entfernung, die einen vergnüglich, die anderen mitleidvoll, dem merkwürdigen Geschehen zu.

Gertrud Feiler

Den letzten mir bekannte „Auftritt" der Kolverather Traud habe ich in bleibender Erinnerung. Wegen meiner eigenen unmittelbaren Beteiligung werde ich ihn mein Lebtag nicht vergessen. Es war an einem schönen, sonnigen Wintertag, kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Dorfstraße war sehr belebt, die Kinder benutzten sie als Rodelbahn. Es schien ein schulfreier Tag gewesen zu sein, derer es damals wegen der Kriegsverhältnisse nicht wenige gab. Kinder und Jugendliche aller Altersklassen tummelten sich auf der Straße. Unentwegt ging es dort bergauf und bergab. Doch plötzlich wurde das lustige Treiben unterbrochen. Dort unten im Dorf, an der Kapelle, gab es ein lautes und anhaltendes Geschrei. Die Kinder liefen zusammen, sie umsäumten eine scheinbar fremde Frauensperson. Was war geschehen? Des Rätsels Lösung ließ nicht lange auf sich warten. Die Kolverather Traud war wieder einmal im Lande. Sie war von Uess hergekommen, hatte das altvertraute Aussehen: lumpige Kleider, zerlatschte Schuhe, schlampige Körperpflege. Sie war mit zwei schweren Tragetaschen bepackt, die ihre Arme zu Boden zu ziehen drohten. Keuchend kam sie dahergeschritten. Dieses Mal schien sie besonders gereizt zu sein, was ob des stattlichen Anhanges nicht zu verwundern brauchte. Aber sie ließ, wie immer, ihren Gefühlen freien Lauf. Kreischend und lamentierend zog sie die Dorfstraße entlang. Ihren Beobachtern oder Spöttern teilte sie mächtige Hiebe aus. Jedem, von dem sie sich verfolgt fühlte, wußte sie etwas Passendes zu sagen. Den einen schalt sie einen Faulenzer, den anderen einen Spitzbuben. Auch unbeteiligte Personen fuhr sie barsch an, ihr Maulaffen-Feilhalten zu unterlassen. Und so ging das weiter, bis sie endlich das Ende des Dorfes erreicht hatte. Was nun geschah, hätte ich mir nicht im entferntesten träumen lassen. Die Traud ging plötzlich von der Straße ab und steuerte schnurgerade auf das Haus am äußeren Dorfrand, mein Elternhaus, zu. Dort bat sie meine Mutter um Einlaß, damit sie sich ein bißchen aufwärme, bevor sie ihren Weg zum Bahnhof fortsetzte. Diese Bitte wurde ihr gewährt. Außer der Stubenwärme erhielt sie noch ein unseren nicht gerade üppigen Verhältnissen entsprechendes warmes Mittagessen. Nun kam für mich das Schlimmste. Die Traud bat meine Mutter, mich zu beauftragen, mit meinem Rodelschlitten ihre Taschen zum Bahnhof zu fahren. Da ich die Gesinnung meiner Mutter kannte, gab es für mich keinen Zweifel: sie würde zustimmen. Und so geschah es. Ich wurde kreidebleich vor Schrecken. Nicht etwa, daß ich mich vor dieser hilfebedürftigen Frau fürchtete oder der Gedanke, daß ich keinen Lohn zu erwarten hatte, nein, meine Betroffenheit gründete einzig und allein in der bangen Frage: Was würden wohl die anderen Kinder dazu sagen? Wer schon von diesen hielt es für selbstverständlich, dieser alten und hilflosen Frau ihr Gepäck tragen zu helfen? Schließlich war .die Kolverather Traud ja etwas anderes! Sicher, das Besondere an ihr bestand darin, daß eine Frau vagabundierte, was für ländliche Verhältnisse damals nicht alltäglich war. Das Glück schien mir dennoch hold gewesen zu sein. Genau zu der Zeit, in der ich schweren Herzens meinen Schlitten belud, war die Dorfstraße fast menschenleer. Es war gerade die Zeit der Mittagsruhe angebrochen. So konnte ich denn ungestört die alte Frau zum Bahnhof begleiten. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit schien sie dankbar zu sein für den kleinen Dienst. Sie unterhielt mich unterwegs mit freundlichen Worten. Am Ziel angelangt, verabschiedete sie mich mit dem Trost: „Dau böß ön jode Jung, ech bränge dia och Kamilleblome mött!". Und damit war ich von meiner Qual erlöst. Als ich eilends nach Hause schritt, hatte ich mitnichten das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben. War dieses etwa von dem Gefühl maßloser Erleichterung verdrängt worden? Ich weiß es nicht!

Dies war nicht meine letzte Begegnung mit der Traud. Viele Jahre später sah ich sie noch ein einziges Mal, Der Ort des Zusammentreffens mit ihr war in diesem Fall recht ungewöhnlich. Eines sonntags, zur Sommerzeit, nahm ich am Gottesdienst in unserer Pfarrkirche in Uess teil. Während des Hochamtes stand ich hinten in der Kirche, nicht weit vom Eingang entfernt. Ich möchte heute nicht beschwören wollen, ständig an denjenigen gedacht zu haben, zu dessen Ehre der Gottesdienst stattfand. Wohin meine Gedanken auch abgeschweift sein mochten, gewiß sind sie nicht zu jener Person gewandert, deren Schicksal mich früher oder später nachdenklich machte: zu der Kolverather Traud. Doch der Sinneswandel sollte auf der Stelle eintreten, als sie, kurz vor Beendigung der Messe, plötzlich leibhaftig vor mir stand. Sie war gerade in die Kirche eingetreten. Ein deutlich vernehmbares Raunen ging durch die Menschenmenge. Alle erkannten sie auf den ersten Blick. Äußerlich hatte sie sich nicht verändert; ihr Verhalten jedoch war seltsam. Sie kicherte und grinste beständig, wodurch sie beinahe freundlich und liebenswürdig wirkte. Dann schaute sie lange und teilnahmlos zur Seite. Ihr Geist schien verwirrt. Sie machte mehr denn je einen erbarmungswürdigen Eindruck. Der Gottesdienst ging seinem Ende zu, die Menschen strömten aus der Kirche. Die Traud war meinen Blicken entschwunden. Ich habe sie nie mehr wiedergesehen. Auf dem Heimweg jedoch weilten meine Gedanken bei ihr. Ich dachte wieder an unseren gemeinsamen Gang zum Bahnhof, aber auch an den Kamillentee, den sie mir damals versprochen hatte. Wie gut hätte ich ihn manchmal gebrauchen können! Aber woher sollte sie das gewußt haben?

Wer war nun diese „Kolverather Traud", die zumeist Spott und Abneigung herausforderte, selten dagegen Mitleid oder Verständnis ihrer Mitmenschen erregte? In einer Zeit, die geprägt ist von den stetigen Bemühungen der Gesellschaft um die sogenannten Sozialschwachen, sollte einmal darüber nachgedacht werden, welcher sozialer Standort ihr zugewiesen war. Der Fall steht heute sozusagen als Symbol für eine gesellschaftliche Randgruppe in unserem sozialen Rechtsstaat da. Denn das Problem der Nichtseßhaften ist heute wie damals ein brennendes; ihre Zahl (allein in der Bundesrepublik) geht in die zig-Tausende.

Mühle in Niederelz, in der Frau Feiler zuletzt wohnte

Geboren war Gertrud Feiler — so ihr „bürgerlicher" Name — am 27. November 1884 in Kolverath, am Fuß des Hochkelbergs gelegen (früher Kreis Mayen, seit der Verwaltungsreform von 1970 zum Kreis Daun gehörend). Eltern: Ackerer Mathias Joseph Feiler und Maria Feiler geborene Schneider, beide katholischer Religion. Soweit also die behördlichen Aufzeichnungen, wie sie die Urkunde des früheren Standesbeamten in Virneburg Nr. 130 vom 29. November 1884 ausweist. Sie verraten nichts Außergewöhnliches, im Gegenteil, sie deuten darauf hin, daß die Traud von Hause aus nicht anders war wie ihre Zeitgenossen. Sie entstammte einer biederen Bauernfamilie, sie war ein „Kind der Eifel", dem an der Wiege gesungen wurde und das mit Puppen mit Porzellanköpfen spielte, ein Kind also wie alle anderen Kinder. Eines Tages starb der Vater. Durch widrige Umstände ging das nicht unbeträchtliche Vermögen verloren. Mutter und Tochter wurden Obdach- und damit heimatlos. Sie waren ratlos und suchten ihr Glück auf der Landstraße. Und damit nahm das Schicksal für alle beide unablässig seinen Lauf. So zogen sie nun jahrein, jahraus durch die nähere und fernere Umgebung. Man kannte sie dort überall: in den Dörfern des westlichen Kreises Mayen, des südlichen Kreises Ahrweiler, der nordöstlichen beziehungsweise nördlichen Teile der Kreise Daun und Cochem, um nur einige Beispiele zu nennen. Sogar bis in die weitab gelegene Kreisstadt Mayen und noch weiter darüber hinaus wurden sie bekannt. Sie ernährten sich von den Almosen, die sie da und dort von mitleidvollen Menschen bekamen. Auch verkauften sie Kamillentee, den sie an Weg- und Feldrainen pflückten. Ihre Nachtlager richteten sie oft im Freien ein, wenn es die Witterung einigermaßen zuließ. Bei schlechtem Wetter und im Winter mußten sie mit einem Nachtquartier in Ställen vorliebnehmen. Hin und wieder gewährte man ihnen auch Unterkunft in Häusern. So ging das viele Jahre hindurch. Auf einmal starb auch die Mutter. Die Tochter, die keine Geschwister hatte, stand nun alleine da. Was sollte sie in ihrer verzweifelten Lage tun? Aus ihrer Sicht gewiß nichts anderes, als das bisherige Leben weiterführen. Denn aus ihr war inzwischen eine „echte" Landstreicherin geworden, wie man dazumal zu sagen pflegte. Heute würde man sie eine „Person mit besonderen sozialen Schwierigkeiten", eine „Person ohne festen Wohnsitz" oder eine „Nichtseßhafte" nennen, vornehmere Bezeichnungen fürwahr, jedoch am Inhalt vermögen sie so gut wie nichts zu ändern. In ihren letzten Lebensjahren fand Frau Feiler eine Zeitlang eine Behausung in einer alten, nahezu baufälligen, Mühle in Niederelz. Schließlich mußte sie in einer Nervenklinik untergebracht werden, um eine völlige Verwahrlosung zu verhindern.

Dorfstraße in Kolverath

Viele meinten, ihre schlechten Beziehungen zu ihren Mitmenschen verdanke die Traud ihrem Lebensstil, ihrem asozialen Verhalten, so würde man im modernen Sprachgebrauch sagen. Im gewissen Sinne stimmt dies. Es war eben ein Teufelskreis, in den sie geraten war und dem sie aus eigener Kraft nicht mehr zu entfliehen vermochte: Weil sie sich asozial verhielt, wurde sie, was nicht wunderzunehmen braucht, von ihren Zeitgenossen geächtet; sie gab sich gesellschaftsfeindlich, da sie sich begreiflicherweise von der Gesellschaft verstoßen fühlen mußte. Hier die Frage nach ihrer Schuld stellen zu wollen, wäre in der Tat müßig.

Am 4. Dezember 1964 hatte ihr ruheloses Leben ein Ende. An diesem Tage starb Frau Feiler, achtzigjährig, krank an Leib und Geist, in der Landesnervenklinik in Andernach. Ihre letzte Ruhestätte fand sie auf dem dortigen Anstaltsfriedhof. Der schlichte Namensstein, der ihr Grab kennzeichnet, läßt nicht ahnen, welchen Leidensweg sie zu ihren Lebzeiten gegangen ist. Mir dünkt, als habe der Texter der Operette „Der Rattenfänger von Hameln" im Jahre 1886 den Kehrreim bereits für sie, die Kolverather Traud, geschrieben: „Mir ward keine Liebe, kein heimatlich Land ..."!