Das Kreuz am alten Rathaus zu Gerolstein

P. Josef Böffgen SAC

Alte Wegekreuze unserer Heimat finden wieder mehr Beachtung als vor Jahrzehnten. Wir sind uns bewußt, daß mit den steinernen Denkmälern mehr überliefert wurde als handwerkliche Fertigkeiten oder künstlerische Inspiration. Ein geistiges Erbe ist uns hier zu treuen Händen übergeben. So kann man nur dankbar feststellen wie auch unsere Straßenmeistereien dort, wo ein Wegekreuz aus praktischer Notwendigkeit entfernt werden muß, dieses ehrfürchtig und stilgerecht in unmittelbarer Nähe wieder aufgebaut wird. Die Ausstellung „Daun aktuell" im Jahre 1978 zeigte eindrucksvolle Beispiele, wie behutsam die Straßenmeisterei Gerolstein auf Anregung von Klaus Ewertz mit alten Kreuzen umgeht, und die Arbeiten, die Steinmetzmeister Josef Örters auf Anregung des Eifelvereins OG Gerolstein durchgeführt hat, verdienen Aufmerksamkeit und Nachahmung.

Unter den Wegekreuzen von Gerolstein verdient die Gruppe am alten Rathaus besondere Beachtung. Das Denkmal ist nicht nur seines Alters — es gibt ältere — und seines Kunstwertes — es gibt schönere —.wegen geachtet, es wurde 1940 zu einem Symbol des Widerstandes der Gerolsteiner gegen den Nationalsozialismus.

Wackenroder (Die Kunstdenkmäler des Kreises Daun, Düsseldorf 1928) widmet der Gruppe sechs Zeilen. Er schreibt (S. 80): „Kreuzabnahme. Freigruppe von weißem Sandstein, vor dem Hause Hauptstraße Nr. 47 (Faber) a. d. ersten Hälfte d. 19. Jh. nach der Schriftart des Bibelspruches an dem 3,80 m hohen Steinbalkenkreuz; die kleinen Figuren handwerklich, nach Gruppierung und auch z. T. im Faltenwurf noch im Charakter d. 18. Jh. Unter Berücksichtigung einer Erzählung scheint die Kreuzabnahme an Stelle eines alten Sühnekreuzes getreten zu sein."

Drei Dinge bedürfen der Erläuterung: 1. Der Standort des Denkmals; 2. Das Alter der Figuren; 3. Der Ursprung des Kreuzes.

Bis 1936 stand das Kreuz nicht wie jetzt zwischen der zum Rathaus führenden Doppeltreppe, sondern auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Darüber später.

Wackenroder nennt die Figuren älter als das Kreuz. Sie müßten also vorher an anderer Stelle gestanden haben. Eine Umfrage bei alten Gerolsteiner Bürgern brachte keinerlei Hinweise auf einen früheren Standort, weder aus persönlicher Erinnerung noch aus Kenntnis einer Tradition. Was allein hier weiterhelfen könnte, sind alte Reiseführer und Landschaftsbeschreibungen. Nur eine der bisher bekannten Schriften sagt etwas dazu aus: „Hat man die oberste Höhe des Schloßberges erstiegen, so betritt man zuerst einen runden, allenthalben mit zerrissenem Mauerwerk bedeckten Platz; auf dem weiten Raum vor demselben sieht man einen schön gearbeiteten steinernen Altar, die Abnahme Christi vom Kreuze darstellend, welcher in alten Zeiten den Bewohnern der Umgegend zum Wallfahrtsorte diente" — so schreibt Jakob Schneider in „Das Kyllthal.. (Trier 1843, S. 46). Der Feldaltar auf dem genannten Platz vor der Schildmauer der Löwenburg hat heute keine Figuren einer Kreuzabnahme mehr: das Kreuz aber hat im Volksmund nur den Namen „Nikodemus-Kreuz" („Nikedimes"), was wohl nicht allein darauf zurückzuführen ist, daß der vertikale Kreuzesbalken nicht über den horizontalen hinausragt — was leider später geändert wurde. Der tiefere Grund liegt wohl bei der Rolle des Nikodemus bei der Kreuzabnahme Christi. Kein Dokument und keine Tradition sagt etwas darüber aus, wohin die Figuren der Gruppe vor der Burg gekommen sind und woher die Figuren der Gruppe am Rathaus stammen. Nachdem die Burg immer mehr an Bedeutung verlor für das Leben der Stadt, ist es durchaus denkbar, daß die Figuren vom Vorplatz der Burg dorthin gebracht wurden, wo nunmehr das Leben der Bürger sich abspielte, zum Rathaus der Stadt. Der Größe nach passen sei zum einen wie zum anderen Kreuz. — Daß der,,Nikedimes" Ziel von Wallfahrten war, ist insofern noch lebendig, als die ältesten Bürger von Gerolstein zu berichten wissen, daß sich noch zu Anfang unseres Jahrhunderts jeden Sonntag um 14 Uhr Männer und Frauen hier versammelten und dann gemeinsam zur Büchkapelle gingen (s. Bild).

Feldaltar am Westende des Burgberges in der Achse des Eingangstores der Burg, mit spätmittelalterlichem, etwa 4 m hohem Steinkreuz in Form eines Antoniuskreuzes; der Pfosten durch Nischenköpfe aufgeteilt. Die Mensa 1,25 m hoch u. 1,50 m breit. Noch bis etwa z. J. 1830 bei Prozessionen, welche um die Burg gingen, im Gebrauch. E. Wackenroder, Die Kunstdenkmäler des Kreises Daun, Düsseldorf 1928, S. 80

Die Tatsache, daß das Kreuz vor der Burg ein sog. „Nischenkreuz" ist, scheint gegen die Annahme zu sprechen, daß hier einmal die Gestalten der Kreuzabnahme standen. Aber die doppelseitige Nische war nicht — wie man annehmen könnte — Standort für kleinere Figuren, sondern der Platz zum Abstellen des Allerheilgsten bei theophorischen Prozessionen. Wenn — nach Wackenroder — der Feldaltar „noch bis etwa z. J. 1830 bei Prozessionen, welche um die Burg gingen, im Gebrauch" war, so ist das etwa die Zeit, in der das Steinkreuz vor dem Rathaus errichtet wurde. Und Paul Clemen betont im Vorort des Werkes ausdrücklich, daß ,,die Inventarisierung, die Abfassung des historischen wie des topografisch-kunsthistorischen Textes" nach den von den Pfarrern und Bürgermeistern ausgefüllten Fragebogen und an Ort und Stelle nach Rückfragen abgefaßt wurde und nennt in diesem Zusammenhang ausdrücklich Pfr. Rader und Rektor Krock in Gerolstein, beide Männer gründlicher Kenntnisse, was die Geschichte unserer Stadt betrifft.

Auch der letzte Satz bei Wackenroder verdient besondere Beachtung: „Unter Berücksichtigung einer Erzählung scheint die Kreuzabnahme an Stelle eines alten Sühnekreuzes getreten zu sein". Das Denkmal soll also seine Entstehung einer alten Sage verdanken. Alle, die davon berichten, erzählen diese Sage inhaltlich gleich: Schneider, das Kyllthal, Trier 1843; Rehm, Das Hochland der Eifel, II. Teil, Trier 1890; Dohm / Stadtverwaltung, Gerolstein 1953. Hier der Text aus Dohm (S. 69): „Einst wurde ein Mann schwerer Verbrechen angeklagt und zum Tode durch das Beil verurteilt. Obschon er immer wieder seine Unschuld beteuerte, verharrte das Gericht bei seinem Spruch und ließ ihn ohne Erbarmen zur Richtstätte auf das Schloß Löwenburg führen. Eine große Volksmenge aus der Stadt folgte dem Zuge. Als der Unglückliche vom Henker vor den breiten Holzklotz gestellt wurde, durfte er, dem Brauch folgend, die Abschiedsworte sprechen. Mit sicherer, stolzer Stimme rief er: .Höret es alle, ihr Bürger von Gerolstein! Hier im Angesicht des Todes beteure ich zum letzten Male: Ich bin unschuldig! Und zum Beweis dafür wird mein Haupt, wenn es durchs Beil gefallen ist, drei Sprünge machen: den ersten auf diese Richtstätte hier, den zweiten auf jene hohe Mauer dort nach der Stadt zu, und den dritten in den Brunnen unten auf euerem Marktplatz.' In eisig-ablehnendem Schweigen verharrte die Menge und kein Mitgefühl regte sich. Ungerührt wandte sich der erste Schöffe zum Schergen und rief: Schlag zu! da reckte sich der Verurteilte ein letztes Mal hoch auf. Mit markerschütternder Stimme rief er: .Gerolstein ist ratsarm und wird ratsarm bleiben!' Der Henker holte aus und das Haupt schlug hart auf den Boden. Kaum jedoch hatte es diesen berührt, machte es einen Sprung über die entsetzten Zuschauer, landete auf der Mauerkrone im Hintergrund und verschwand in der Tiefe, wo die Stadt lag. Die Menge wagte nicht mehr zu atmen. In die lautlose Stille erklang aus der Tiefe das Aufklatschen im Marktbrunnen. Voll eisigen Entsetzens erkannten nun alle, Gericht und Einwohner, daß der Enthauptete die Wahrheit gesprochen und man einen Unschuldigen getötet hatte. Als sie verstört und erschüttert in die Stadt zurückkamen, sahen sie, daß das Wasser im Brunnen blutigrot war. Noch am selben Tage schütte man ihn zu und errichtete dem Ärmsten ein hölzernes Kreuz. Später wurde es durch einen Steinaltar ersetzt."

Nun sind Erzählung, Sage und Märchen je verschiedene literarische Gattungen. Wenn Wackenroder vorsichtig von Erzählung spricht, dann will er nichts darüber aussagen, ob es sich um eine Reportage, eine Sage oder ein Märchen handelt; er will lediglich mitteilen, daß ein bestimmtes Ereignis, das im Zusammenhang steht mit der Errichtung des Denkmals, von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Die Reportage legt Wert auf möglichst getreue Wiedgergabe eines Ereignisses, historisch getreu was sowohl die Gestalt selber angeht wie auch das Rankenwerk, von dem sie umgeben ist.

Die Erzählung (nicht als Wiedergabe), sondern als literarische Gattung schmückt das Rankenwerk schon aus. Sie darf es, wenn dadurch Taten und Charaktereigenschaften der Gestalt klarer hervortreten.

Der Sage ist das Rankenwerk schon wichtiger. In freier Form werden vor allem jene Einzelheiten ausgeschmückt, die das Gemüt ansprechen. Lob, Tadel, Kritik und Ermunterung, kurz alles, womit man sein Herz erleichtern möchte, finden breiten Raum. Klares Beispiel dafür ist der Tendenzspruch am Ende obiger Sage.

Das Märchen geht noch einen Schrittweiten Ihm ist nicht nur alles belebt, kann denken und sprechen; Wunderwelten treten ein in unser Leben; und vor allem: mit erhobenem Zeigefinger wird eine Lehre mitgegeben; sie möglichst eindringlich zu geben, dazu ist jedes Mittel recht.

So können wir davon ausgehen, daß im Grunde einer Sage, auch der vom zugeworfenen Brunnen, ein geschichtliches Ereignis steht. Es ist kaum zu verstehen, daß man bisher nicht der Frage nachgegangen ist, welches dieses Ereignis sei. Der erste, der wenigstens einen Verdacht in dieser Richtung äußerte, war Dr. B. Dohm (T ). Er erzählte mit einmal: Die Sage vom zugeworfenen Brunnen habe wahrscheinlich einen geschichtlichen Hintergrund: Der auf der „Keks" (= Hinrichtungsplatz) Enthauptete, sei wohl ein Spion aus Lissendorf gewesen; weil sein Blut den Brunnen verunreinigt habe, sei er zugeschüttet worden. Als ich ihm ein paar Wochen später einen diesbezüglichen Text bei Rehm zeigte, wunderte sich Dr. Dohm, daß Rehm „so viele Einzelheiten" kenne.

Schneider (Das Kyllthal) und Rehm (Hochland der Eifel) haben die gleiche Erzählung. Hier der Text von Schneider:

Hans Gerhard (geb. 1536, Oberhofmarschall am Hofe Kaiser Maximilian II.) „hatte das Unglück, von dem Grafen Philipp von der Mark, mit dem er verfeindet war, hinterlistig überfallen und schwer verwundet zu werden. Graf Philipp hatte ihm schon früher durch seinen Schultheißen in Gillenfeld, Johannes Breidenbach, nachstellen lassen, dem er jedoch glücklich entging. Als aber bald darauf Graf Hans Gerhard von Lissendorf, wo er eben Gericht gehalten hatte, in Begleitung einiger Diener nach Hause zurückkehren wollte, wurde dies dem Grafen Philipp durch einen Spion, Namens Kellers Dietz, verrathen, worauf jener alsbald mit 16 Mann von Kerpen aus aufbrach, ihn bei dem Dorfe Schönfeld am 17. Mai 1594 überfiel und schwer verwundet liegen ließ. Der Verräther, Kellers Dietz, wurde für diese Tat von dem Schöppengerichte zu Tode verurtheilt und geköppt." (S. 49)

Dem Grafen Philipp von der Mark-Lunay scheinen alle Mittel zur Vermehrung seines Besitzes recht gewesen zu sein. Als sein Schwager Dietrich VI. (1560-93) von Blankenheim-Schleiden kinderlos starb, ,,besetzte Philipp die Schlösser und Herrschaften Kerpen, Kasselburg und Neublankenheim, bemächtigte sich der Vogtei Fleringen, der Grafschaften Schleiden und Kronenburg... Philipp und seine Gattin Katharina fanden in Niederehe ihre letzte Ruhestätte". (Marx/ Schug/Schuler, Gedichte der zum ehemaligen Eifeldekanat gehörenden Pfarreien . . . Trier 1956 S. 29).

Daß die Enthauptung dieses Kellers Dietz der Anlaß war für die Errichtung eines Sühnekreuzes, kann nur vermutet werden. Jedenfalls wurde zunächst ein Holzkreuz errichtet. Die Keks, wo es aufgestellt wurde, war damals noch das wirkliche Zentrum der kleinen Stadt, das erst recht, als das dort gelegene, 1710 errichtete Gebäude Bürgermeisteramt wurde (1890) und die Schule nur 100 m davon entfernt ihren Standort fand.

Durch Jahrzehnte hindurch wurde das Kreuz hier liebevoll gepflegt. Frauen sorgten stets für frischen Blumenschmuck, und den Männern war es mehr als alter Brauch, es war ungeschriebenes Gesetz, daß man beim Vorbeigehen den Hut zum Grüßen zu lüften habe. So blieb es bis in den Krieg hinein — trotz Nationalsozialismus — bis 1940 jene Ereignisse eintraten, die das Kreuz zum Symbol des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in Gerolstein werden ließen.

Das Kreuz stand ursprünglich gegenüber dem Rathaus. Zwischen „Hotel Ratskeller" und dem jetzigen, nach dem Kriege erbauten stadteigenen Hause standen drei Wohn- und Geschäftshäuser; vom „Ratskeller" aus gesehen waren es Weinhandlung Faber, Schneidermeister Looso, dann Familie Würschem. Die Häuser standen etwa sieben Meter von der Straßenfront zurück, hatten Vorplatz oder Vorgarten. Zwischen den Vorgärten von Faber und Looso stand das Kreuz direkt an der Straße, (s. Bild).

 

Kreuzabnahme, Freigruppe von weißem Sandstein, vor dem Hause Hauptstraße Nr. 47 (Faber), a. d. ersten Hälfte d. 19. Jh. nach der Schriftart des Bibelspruches an dem 3,80 m hohen Steinbalkenkreuz; die kleinen Figuren handwerklich, nach Gruppierung und auch z. T. im Faltentwurf noch im Charakter d. 18. Jh. Unter Berücksichtigung einer Erzählung scheint die Kreuzabnahme an Stelle eines alten Sühnekreuzes getreten zu sein.

E. Wackenroder, Die Kunstdenkmäler des Kreises Daun, Düsseldorf 1928, S. 80

Ein Parkplatz in der Nähe des Rathauses war seit langem erwünscht und wurde immer dringender, Amtsbürgermeister Laroche ging 1936 daran, den Parkplatz gegenüber dem Rathaus zu errichten in den Vorgärten Looso und Faber. Dazu mußte auch das Kreuz versetzt werden. Laroche gab ihm einen Ehrenplatz direkt vor dem Rathaus.

Nach dem tragischen Unfalltode von Bürgermeister Laroche wurde am 1. 10. 1939 Emil W. neuer Amtsbürgermeister. Gewisse Leute, Zugezogene, die keinerlei Verhältnis hatten zur Geschichte der Stadt, nahmen schon lange Anstoß daran, daß das Kreuz an dieser so repräsentativen Stelle stand; sie machten sich stark dafür, daß es aus dem Zentrum der Stadt entfernt werde. Der Bürgermeister entschied sich für eine Verlegung auf den Friedhof. Dies begründete er in einem amtlichen Bericht mit notwendigen Umbauten. Wie wenig er dafür den Platz des Kreuzes brauchte, ergibt sich aus der Tatsache, daß er an seine Stelle zwei aus Sandstein gehauene Löwen setzen wollte, die früher vor dem Hotel Heck standen und die Jakob Heck ihm in Unkenntnis der Zusammenhänge schon zugesagt hatte. Später, als das Kreuz wirklich entfernt wurde, nahm Herr Heck brieflich seine Zusage zurück. Der wirkliche Grund für die Versetzung des Kreuzes erhellt aus einem Ausspruch, der in Gerolstein bekannt wurde: Ich kann nicht jeden Tag an dem Judengesicht vorbeigehen. Ein Lehrer an der damaligen Rektoratschule scheint den Ausspruch getan zu haben. Ihm wurde jedenfalls die Hauptschuld an der ganzen Kreuzgeschichte zugeschrieben. Das beweist ein Gedicht, das in der ganzen Stadt verbreitet wurde. Es stammt von Dr. Dohm, wurde von Josef Schildgen (Rejinne Jupp) auf der Schreibmaschine vervielfältigt und von seinen beiden Töchtern Maria und Regina bestimmten Personen nachts unter die Haustüre geschoben. Das Gedicht lautet:

„Geschichtsassessor Lickefett, dein Tun war hundsgemein.

Drum lass dir raten lieb und nett: verlasse Gerolstein!

Es gibt auf dieser schönen Welt gewiß noch manche Stadt,

die keine alten Sagen kennt und keine Kreuze hat.

Dort stört dich dann kein Steingesicht,

das dir nicht arisch scheint

Dort läßt du leuchten dann dein Licht.

Hier keiner Tränen weint

wenn du verschwindest weit weit fort

statt uns'res heil'gen Steins

der stehen bleibt an seinem Ort

zur Zierde Gerolsteins."

Er blieb nicht stehn!

Die dramatischen Ereignisse begannen am 15. 8.1940. Ihr Ablauf läßt sich aus den Akten der Geheimen Staatspolizei und den persönlichen Erinnerungen einiger der Hauptbeteiligten genau festlegen. Der Amtsbürgermeister stellte in einem Brief an die Gestapo fest, daß das Kreuz vor dem Rathaus „einfach nicht mehr dahin passte"; im Zuge eines Umbaues des Rathauses sollte es aus der Stadt entfernt und auf dem Friedhof aufgestellt werden.

Gerolsteiner Baufirmen versagten dem Bürgermeister dabei ihre Mitarbeit, weil sie sich „die Knochen nicht verfluchen lassen" wollten. Schließlich wurde eine auswärtige Firma für die Arbeit gewonnen. Der Bauführer auch dieser Firma verzögerte den Beginn der Arbeit, da auch er „von dunklen Mächten infiziert" war — so schrieb der Bürgermeister. Schließlich begannen die Vorarbeiten am 15. 8. 1940. Am Morgen dieses Tages ging Frau Morbach mit dem Kinderwagen zum Amt. Da ihr Mann im Kriege war, bezog sie eine Versorgungsrente, die sie an diesem Morgen auf der Amtskasse in Empfang nehmen wollte. Sie bemerkte die Vorbereitungsarbeiten am Kreuz und fragte auf der Kasse Herrn Schlömer, was da geschehe. Dieser sagte ihr: Sie entfernen das Kreuz; ihr Kriegerfrauen habt es in der Hand, das zu verhindern. Holt euch die „Kleppern" und geht damit durch den Ort, alarmiert die Bevölkerung! — Als Frau Morbach wieder zu Hause war, kam die Vorsitzende des Katholischen Deutschen Frauenbundes, Frau Dunsbach, zu ihr und bat sie: Geh, ruf die Frauen zusammen, wir müssen das verhindern! Von hier aus wurde nun der Widerstand organisiert. Schon am Vormittag des 15. 8. nahm eine Gruppe von Frauen den Arbeitern gegenüber eine bedrohliche Haltung ein. Diese verlangten darauf für die Fortführung der Arbeit ein besonderes Trinkgeld. Als das abgelehnt wurde, verließen sie gegen 11 Uhr die Arbeitsstätte. Am Nachmittag des gleichen Tages versammelten sich ca. 150 meist Frauen — die Männer waren im Kriege — vor dem Rathaus und verlangten in Sprechchören, das Kreuz auf seinem Platz stehen zu lassen. Ein neues Arbeitskommando wurde für den folgenden Tag 6.00 Uhr früh bestellt. Unter Polizeischutz begann die Arbeit. Die Frauen hatten die ganze Nacht am Kreuze Wache gehalten. Sie und die Kirchgänger, die am Morgen den Wiederbeginn der Arbeiten feststellten, alarmierten die Bevölkerung, „die die Arbeiter durch Zurufe belästigten".

Nachdem die Hälfte der Kreuzigungsgruppe abgebaut war, zogen auch diese Arbeiter gegen 7.30 Uhr ab. Die Bevölkerung harrte aus beim Denkmal. Am Nachmittag des 16. 8. „punkt zwei Uhr sperrten die Gendarmeriebeamten schlagartig die Straße rechts und links zum Rathaus ab, dann wurde das Denkmal in zweieinhalb Stunde restlos abgebaut" (so im Brief des Bürgermeisters). Als die Lastwagen die Absperrung durchführen, wurden Pfuirufe laut.

Die Entfernung des Denkmals war vom Amtsbürgermeister nach dem ersten Widerstand zu einer „Frage der Staatsautorität" deklariert worden — und blieb es noch weiter. Ein aufrechter, mutiger Bauersmann, Josef Schildgen (Rejinne Jupp), spannte die Pferde vor seinen Wagen und fuhr zum Friedhof, um das dort abgestellte Kreuz wieder an seinen alten Standort zurückzubringen. Der Wagen wurde geschmückt und 10—12 Mädchen mit Blumensträußen in den Händen stiegen auf den Wagen. Die Bevölkerung wußte darum und hatte sich vorbereitet, den Wagen mit dem Kreuz prozessionsartig zurück zu geleiten und unterwegs Blumen zu streuen, ganz wie bei einer Fronleichnamsprozession. Unterwegs zum Friedhof begegnete dem Wagen der Führer eines Lagers der „Deutschen Arbeitsfront" in Gerolstein, der dem Fuhrmann zurief: „Wohin mit deiner Hochzeitskutsche?" Josef Schildgen antwortete: „Das Kreuz holen, das die Kommunisten vor dem Rathaus entfernt haben!" Gerolsteiner Bürger halfen ihm beim Aufladen. Aber auch die Behörden hatten von dem Plan erfahren. Zwei Polizeibeamte wurden zum Friedhof geschickt mit dem Auftrag, den Wagen dort festzuhalten. Gerade hatte sich der Wagen mit dem aufgeladenen Kreuz in Bewegung gesetzt, als die Beamten eintrafen und die Weiterfahrt verhinderten. Sie verlangten zunächst, das Kreuz zum Friedhof zurückzubringen. Als Josef Schildgen sich weigerte, wurden ihm die Pferde ausgespannt. Die Polizei brachte den Wagen zurück zum Friedhof, Josef Schildgen seine Pferde nach Hause und begab sich dann sofort zum Bürgermeister, um zu protestieren. Inzwischen hatte der Bürgermeister die Gestapo zur Hilfe gerufen. Vier Frauen wurden verhört und ihnen „staatspolizeiliche Zwangsmaßnahmen" (gleich KZ) angedroht. Am 19. 8. 1940 wurde Josef Schildgen verhört, vorläufig festgenommen und am gleichen Tage in das Amtsgerichtsgefängnis Hillesheim eingeliefert. Der Einlieferungsschein trägt handschriftlich den Vermerk des Gestapobeamten: „Sollte wider Erwarten kein; Haftbefehl erlassen werden, so bitte ich, ihn in Polizeigewahrsam zu halten und mich sofort zu benachrichtigen." Nachdem der Amtsrichter Schildgen verhört hatte, sagte er ihm: „Nach den mir vorliegenden Gesetzen haben Sie keine strafbare Handlung begangen und von mir aus könnten Sie nach Hause gehen, aber die Gestapo hat angeordnet, daß Sie hier bleiben."

Frau und Tochter durften den Gefangenen besuchen, und dieser bat sie, beim Kreisbauernführer für ihn zu intervenieren. Dessen Fürsprache ist es wohl zu verdanken, daß Josef Schildgen — es war ja mitten in der Erntezeit — nach 11 Tagen entlassen wurde.

Josef Schildgen und mit ihm andere haben damals Kopf und Kragen gewagt. Das Kreuz aber wurde zu einem geschichtsträchtigen Symbol. Zwar fand es damals seinen Platz beim Friedhof, fernab allen städtischen Verkehrs. Nach dem Kriege aber kam es wieder an den Platz, den ihm Bürgermeister Laroche gegeben hatte.

Genau 26 Jahre später erstand ein neuer Wirbel um eben dieses Kreuz. Am Morgen des 7. 8. 1966 stellten die Bürger von Gerolstein fest, daß das Haupt der Christusstatue abgehauen und verschwunden war. Die Polizei nahm sofort die Ermittlungen auf, die folgenden Tatbestand ans Licht brachte: Eine Gruppe von sieben jungen „Erwachsenen" aus dem Kölner Raum war auf dem Wege zum Nürburgring, quartierte sich am Samstag in Gerolstein ein, sprach dem Alkohol reichlich zu und ließ seiner enthemmenden Wirkung freien Lauf. In einer öffentlichen Fernsprechkabine wurde der Hörer mit Gewalt abgerissen, Kanaldeckel in den Straßen der Stadt wurden aufgehoben, ein öffentlicher Parkplatz von Glasscherben von Bierflaschen übersät und schließlich das Kreuz in der angegebenen Weise geschändet. In der gleichen Nacht wurde die Polizei alarmiert und zwei Namen von Mitgliedern der genannten Gruppe konnten ermittelt werden. Wahrscheinlich war diese Tatsache der Anlaß, daß auch der Kreuzesschänder nicht hoffen konnte, unbekannt zu bleiben. Er meldete sich brieflich bei der Stadtverwaltung, gab einen unglaubwürdigen Bericht über den Hergang seiner Tat, genauso wie wenige Tage später der Zerstörer der Telefonanlage. Den abgeschlagenen und entführten Christuskopf hatte der Täter in einer der folgenden Nächte stillschweigend wieder unter das Kreuz gelegt.

Die Bevölkerung von Gerolstein war an empfindlicher Stelle getroffen, und das nicht nur, weil die Schändung eines Kreuzes einen jeden Christen im tiefsten verletzt, sondern auch, weil dieses Denkmal so eng mit der Geschichte ihrer Stadt verknüpft ist und außerdem dieses Symbol des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus besondere Verehrung genoß. Es war nicht nur Zeugnis alter Geschichte, sondern selber Gegenstand der Geschichte geworden.