Ein Flurname erzählt

Herbert Wagner

1. Flurnamen (FIN) sind alle in der Landschaft vorkommenden Namen, jedoch ohne die Ortsnamen, also die Namen von Bergen, Tälern, Gewässern, Sümpfen, Wäldern, Äckern, Wiesen, Weiden, Ödungen, Bäumen, Steinen, Wegen und Gebäuden.

Neben ihrer praktischen Bedeutung als Orientierungshilfen in der Flur haben die FIN auch noch eine kulturelle Bedeutung: Die Leistung des Menschen, das Charakterische einer Flur zu erkennen und in Worten auszudrücken, so daß sich die „praktische Kulturarbeit des Bauern in der deutschen Flur, kulturelle Zustände der Dorfgemeinschaft, Märchen und Sagen, geschichtliche Ereignisse und anderes mehr in den FIN widerspiegeln" (1), die, „als Ganzheit betrachtet, einen sehr wichtigen Beitrag zur örtlichen Heimatkunde" liefern (2). Wegen der Bedeutung der FIN- Forschung nicht nur für die Orts- und Landesgeschichte, sondern auch als Hilfswissenschaft für andere Disziplinen, werden die FIN des Trierer Landes vom FIN- Archiv in Trier gesammelt, erforscht und wissenschaftlich bearbeitet mit dem Ziel der „Verwertung für die Sprachforschung, Siedlungsgeschichte, Volkskunde, Rechtsgeschichte, botanische Geographie usw." (3).

In den Jahren 1958—62 hat der Verfasser amtliche, im Volksmund gebräuchliche und geschichtliche FIN der Gemarkung Berndorf (Kr. Daun) gesammelt und, mit Deutungen und Erläuterungen versehen, in einer umfangreichen Arbeit (109 S.) zusammengestellt. Hier soll am Beispiel eines Namens verdeutlicht werden, was FIN über längst vergangene Zeiten und Ereignisse erzählen können, über die in Urkunden und Archiven nichts berichtet wird.

2. Der FIN AM SIECHENHÄUSCHEN ist seit der Flurzusammenlegung, die in Berndorf schon 1907—12 durchgeführt worden ist, aus dem Kataster verschwunden, aber noch im Volksmund gebräuchlich. Als älteste schriftliche Belege fanden sich für 1821 Am Sieghaeuschen (4), 1822 An Sichhäusgen (5) und 1838 Am Sieghäuschen (6). Der FIN wird für den westlichen Teil der Gewanne Hinter dem untersten Berg auf Flur 14 südlich des Mittelsten Berges (P 531,0) und östlich des Untersten Berges = Rauhheck (P 493,0) gebraucht (7), etwa 1 km von der alten Kirche entfernt (vgl. Abb. 1).

Der FIN ist ein zusammengesetztes Hauptwort mit dem Grundwort -häuschen und dem Bestimmungswort siech-. Haus, hier in der Verkleinerungsform Häuschen (ahd. hüs, mhd. hüs, hous) hat die Grundbedeutung: das Verbergende (8); siech (adh. sioh, mhd, siech) bedeutet: (von Dämonen) ausgesaugt: krank sein, und wurde besonders für den auszehrenden Zustand der Aussätzigen gebraucht (9).

3. Der Aussatz oder die Lepra, im Mittelalter auch Miselsucht (von lat. misellus = sehr unglücklich) oder Maltzei genannt, wurde durch römische Truppen und später wieder von Kreuzfahrern aus dem Orient nach Europa eingeschleppt, war eine der großen Volksseuchen des Mittelalters und verschwand erst gegen Ende des 17. Jhs. fast ganz. Da es damals gegen diese ansteckende Krankheit (10) keinen Schutz und kein Heilmittel gab, wurden die Leprakranken aus der Gemeinschaft entfernt, „ausgesetzt" (11); daher der Name „Aussätzige" für die Kranken und „Aussatz" für die Krankheit.

Zur Aufnahme der Ausgesetzten wurden vor den Ortschaften einsam gelegene Leprosen- oder Siechenhäuser erbaut, in denen die Aussätzigen aus- und abgesondert leben mußten. Städte hatten größere Leprosenheime mit oft vielen Insassen und einem eigenen Vorsteher; bei kleinen Orten wurde oft nur eine elende -Hütte für den einzigen Aussätzigen errichtet (12). Tagsüber konnten die Kranken, die dazu noch imstande waren, ihre Unterkunft verlassen und an den Landstraßen oder Stadttoren betteln; die Ortschaften selbst durften sie nicht betreten (s. Abb. 2). Damit sie schon aus der Ferne als Aussätzige erkennbar waren, mußten sie eine besondere Tracht tragen: Einen dunklen Mantel mit Kapuze, Handschuhe und einen Hut von eigenartiger Form; in der Hand hielten sie eine Ratsche oder Klapper („Lazarusklapper"), mit der sie sich bemerkbar machen mußten, wenn sich ihnen jemand nähern  wollte. Man legte ihnen Almosen oder Eßwaren auf die Erde bzw. in einen Napf, die sie erst an sich nehmen durften, wenn der Geber sich wieder entfernt hatte. Mit diesen strengen Isolierungsmaßnahmen versuchte man die Verbreitung der Lepra zu verhindern.

(1) Gewanne „Hinter dem untersten Berg" (_) mit „Am Siechenhäuschen" (111/1} auf Flur 14 (—)

(2) Ein Aussätziger und ein Krüppel betteln am Stadttor. (Miniatur aus einer franz. Übersetzung des Speculum historiale von Vinzenz von Beauvais vom Anfang des 14. Jhs. — Repro aus Le Goff, Kultur des europäischen Mittelalters, Deutsche Ausg. München-Zürich 1970).

War doch ein Mitbürger angesteckt und durch die vereidigten Leprabeschauer bei ihm Aussatz festgestellt worden, dann wurde die Aussetzung in einem kirchlichen Trennungsritus vollzogen (13). Bei dieser Zeremonie wurde durch symbolische Gesten zum Ausdruck gebracht, daß der Kranke endgültig aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und als gestorben angesehen wurde. Wie bei einer Beerdigung wurde er in Prozession von seinem Haus abgeholt und in die Kirche geleitet, wo über ihn eine Messe gelesen wurde, das Requiem oder eine Bußmesse, diese jedoch stets mit dem Introitus „Circumcederunt" vom Sonntag Septuagesima: „Todesstöhnen umdrängte mich, Höllenqualen umschlossen mich, in meiner Pein schrie ich zum Herrn . . .". Mancherorts mußte der Aussätzige während der Messe in eine Grabgruft hinabsteigen oder als lebendiger Leichnam auf einer Totenbahre liegen. Nach der Messe wurde ihm in der Kirche oder am Siechenhaus, wohin er ebenfalls in Prozession gebracht wurde, die Absolution erteilt und ihm seine Aussätzigentracht und ein Bettelsack überreicht. Unter den Zeremonien des kirchlichen Grablegungsritus wurde er in seine Hütte eingewiesen und so endgültig aus der Gemeinschaft „ausgesetzt". Zum Zeichen, daß er für sie tot sei, wurde Erde über ihn gestreut und vor dem Siechenhaus ein Holzkreuz als sein Grabkreuz aufgestellt. Der Tag der Aussetzung wurde als sein Sterbetag in die Kirchenregister eingetragen.

(3) Karte von 1683 mit dem Kerpener Galgen an der Grenze (....) zwischen dem kurtrierischen Amt Hillesheim und der Herrschaft Kerpen. (StA Koblenz Abt. 702 Nr. 344)

Von nun an mußte der Aussätzige im Siechenhaus wohnen und sich, wenn nicht Verwandte oder frühere Mitbürger für ihn sorgten, wie andere Ausgestoßene — Arme, Krüppel, Landstreicher, Verbrecher — von Bettelei ernähren. Die Gesellschaft verabscheute die Ausgestoßenen und lebte in Angst vor ihnen, da sie eine Gefahr für Leben und Besitz bedeuteten; gleichzeitig aber brauchte sie sie, um ihnen durch Almosengaben christliche Barmherzigkeit erzeigen zu können und damit sich selbst ein gutes Gewissen zu sichern: „guote liute" nannte man die Aussätzigen bezeichnenderweise und „Gutleutehaus" das Leprosenhaus, das vor der Ortschaft in der Einsamkeit lag, doch nicht allzuweit von einer Straße und nicht selten in der Nähe des Richtplatzes, wie auch das Berndorfer Siechenhäuschen am Weg nach Kerpen dem Kerpener Galgen auf dem Koberg benachbart war (s. Ab. 3). „Die Verbannung des Aussätzigen in die Wüstenei ist der Isolierung des gehenkten Verbrechers innerlich verwandt. Sie war nicht allein im modernen Sinne hygienisch motiviert, wenngleich die Furcht vor Anstekkung im Mittelalter groß gewesen ist. Nach dem alten Volksglauben, daß Laster und Verfehlungen auf den Täter zurückschlagen und ihn mit Krankheit und Unglück strafen, trägt der Aussätzige sichtbare Stigmata eigener Schuld ... Nur aus dieser primitiven Mentalität wird die Behandlung des im Mittelalter um viele Lebensgüter rigoros verkürzten Leprosen verständlich. So gebührt ihm, der nach (all-) . gemeiner Vermutung das Walten einer höheren Gerechtigkeit . . . furchtbar an seinem Leibe erfahren hat (14), fast naturgemäß die schimpfliche Wohnstatt nächst dem Galgen" (15).

(4) Kreuz am Siechenhäuschen

 

Mit dem allmählichen Aussterben der Lepra sind seit etwa 1700 die meisten Siechenhäuser verschwunden (16), auch das Berndorfer Siechenhäuschen. Es ist zwar nicht gewiß, aber doch ganz gut möglich, daß es identisch war mit dem St.-Anna-Häuslein, das bei der Visitation 1716 baufällig war, und von dem verlangt wurde, daß es wieder instandgesetzt werde. Das scheint jedoch nicht geschehen zu sein; denn 1719 war es fast ganz verfallen (17). Heute halten nur mehr ein — noch — im Volksmund gebräuchlicher FIN und ein schlichtes Holzkreuz die Erinnerung an das Berndorfer Siechenhäuschen wach.

Quellennachweis:

1) Frank, Die Flurnamen der Gemeinde Wewelsburg, Münster 1943.2) Dr. Laufner in: Wagner, Geisfelder Ortskunde, Trier 1960.

3) Dr. Märet, Aus der Arbeit des Flurnamenarchivs Trier, in: Mittlgn. zur trier. Landesgesch. u. Volkskde., 1 n 957.

4) Katasteramt Daun, Fluratlas Berndorf 1821. 5| Pfarrarchiv Berndorf, Lagerbuch 1822.

6) Katasteramt Daun, Verzeichnis über die Aufnahme der Feldlagen, wie solche wirklich ortsüblich sind, in der Gemeinde Baerendorf, Bürgermeisterei Kerpen, Kreis Daun, 1838.

7) Z. Z. wird das Kalksteinvorkommen am Untersten Berg abgebaut; dadurch verschwindet dieser Berg mit dem volkskundlich interessanten ,,Hasenbackofen".

8) Mit Haus verwandt ist Hose.

9) Bemerkenswert ist, daß Pastor Lenz (1819—48) im Lagerbuch den FIN richtig Sich-häusgen schrieb, während die ortsfremden Katasterbeamten daraus ein Sieg-häuschen machten.

10) Die Lepra (von gr. lepros = schuppig, rauh), hervorgerufen durch das Mykobakterium leprae, wird durch Tröpfchen- und Schmutzinfektion übertragen, braucht oft viele Jahre, bis sie zum Ausbruch kommt, und hat einen schleichenden Verlauf. Es bilden sich Knoten, vor allem im Gesicht („Löwengesicht"), oder Flecken auf der Haut mit Unempfindlichkeitszonen, die schließlich zu Zerfall und Verstümmelung besonders der Nase und Gliedmaßen führen. Heute kann die Lepra chemotherapeutisch behandelt werden; das Hauptgewicht ihrer Bekämpfung liegt aber immer noch auf strengster Isolierung der Kranken.

11)Vgl.3Mose 13,45-46.

12) Bei Trier gab es die Leprosenhäuser Estrich und St. Jost. — Der Friedhof Melaten (frz. malad = krank) in Köln befindet sich an der Stelle des ehem. Siechenhauses, das in der Nähe einer Richtstätte stand. — Pfarrer Ost von Demerath, Kr. Daun, berichtet 1863, daß man fast in jeder Dorfgemarkung der Dauner Gegend noch die Stelle zeige, auf der ehemals eine Siechenhütte gestanden habe (Dr. Kyll).

13) Ein „Modus eijciendi seu separandi leprosos a sanis in Diocoesi Treuirensi" aus der 1. Hälfte des 18. Jhs. befindet sich in der Hs. 2104—34 des Archives Royaume de Belgique in Brüssel, Blatt 227r-229r, und ist abgedruckt bei Dr. Kyll, Ein Trierer Ritus zur Absonderung der Aussätzigen, in: Vierteljbl. der Trierer GfnF., 1/1960.

14)Vgl. Hiob4,7.

15) Helfer, Positionsmerkmale des Galgenplatzes am unteren Mittelrhein, in: Rhein. Jb. für Volkskde. 13/14, Bonn 1963.

16) Das Trierer Leprosenhaus Estrich war verfallen, „weil dasselbe seit dem J. 1721, als der letzte Kranke gestorben, leer gestanden". (Lager, Einige noch erhaltene Notizen über die ehemaligen Leprosenhäuser Estrich und St. Jost bei Trier, in: Trier. Archiv, Erg. Heft 3/1903).

17) Schug, Geschichte der Pfarreien, Bd. V, Trier 1956.