Der Gang zur Christmette

Peter Emonts-Pohl

Die Heilige Nacht, die geheimnisvolle Nacht der Erwartung, war gekommen und wölbte ihre blauschwarzen Abgründe mit den silbernen Lichtbrücken ungezählter Sterne über das schlafende Land. In der frostklaren Nacht kreisten die Himmelslichter in zitternder Bewegung und leuchteten in die Gründe der verschneiten Wälder, die dunkel am südlichen Horizont standen. Ich hörte, wie im warmen Stall zuweilen eine Kuh ans Krippengebälk stieß und wie sie im Traum sanft muhte. Die Weihnachtsfreude hatte mich schon früh aus dem Schlaf geweckt; ich schlüpfte in die warmen Kleider und sah, wie über Nacht an den Scheiben ein glitzernder Wald silberner Farne gewachsen war. Die alte Wanduhr mit dem buntgemalten Zifferblatt und den kupferglänzenden Gewichten tickte überlaut in der großen Stille und holte schnarrend zum Schlag der vierten Morgenstunde aus. Schnell nun noch den Mantel, den Ohrenschützer und die gestrickten Handschuhe angezogen, den Wollschal bis zur Nasenspitze hochgebunden und den Vater angefaßt, der schon zum Kirchgang bereitstand. Wirtraten hinaus in die klirrende Kälte. Pulverschnee schrie unter unseren Schuhen. Die Straße schlug einen Haken und übersprang den Iterbach auf dem Rücken der alten Brücke aus Blaustein. Das sonst so geschwätzige Bächlein schlief unter einer schimmernden Eisdecke; selbst die Rausche war zu einem kleinen Wasserfall aus Silber erstarrt. Vereinzelt zeichneten erleuchtete Fenster warme, gelbe Vierecke in die dunklen Häuserwände, vermummte Gestalten kamen aus den schwarzen Höhlen der Flure und Dielen. Sie tauchten in die Nacht, die im Widerschein der Sterne frostklar schimmerte. Den Bach begleitend, verließ die Straße den alten Ortsteil Neudorf und lief in die verschneite Wiesenlandschaft hinaus, die dunkle Hecken in große und kleine Vierecke aufteilten. Nach einer Viertelstunde dämmerte die Masse der Dorfkirche vor uns auf; ein schwacher Lichtschimmer ließ die Fläche der gotischen Fenster ahnen; der spitze Turmhelm stach gerade mitten in den Großen Bären hinein. Der Bach bog plötzlich in einem scharfen Knick nach rechts ab und verlor sich in erlenbestandenen Auen. Der Weg verengte sich zum Pfad. Einen anderen, ganz schmalen Pfad hatten frühe Kirchgänger schon in den Schneeverwehungen ausgetreten.

Vater hatte meine kleine froststarre Hand mit seiner großen, warmen umschlossen und in seiner Manteltasche geborgen. Ich wußte, nun würde er mir wieder wie alljährlich von der Kriegsweihnacht 1915 erzählen, die er als Verwundeter im Lazarett zu Marienburg in Westpreußen verbracht hatte. Mit ihm erlebte ich noch einmal den Weihnachtsgottesdienst in der Kirche der alten Ordensritterburg, die Bescherung mit einfachen Liebesgaben und die heimweherfüllten Gespräche der bärtigen Soldaten, die alte Weihnachtserlebnisse heraufbeschworen. Es war da auch immer die Sprache von einem jungen Verwundeten, der aus dem Quell einer nie versiegenden Heiterkeit schöpfend, über die Sehnsuchtsstimmung hinweghalf, die fern der Heimat aufkeimte. Auf einmal schwang sich ein zaghafter Glokenton in die Nacht hinaus, ein zweiter, tieferer lief dem ersten nach, und nun öffnete eine Glocke nach der anderen ihren Mund und ein Jubel, ehern und vielstimmig, rollte über das weiße Land, brandete die Vennhänge hinan und verebbte im welligen Unterland.

Wir waren unterdessen bei der Kirche angelangt und schritten durch das dunkle Portal in den spärlich erhellten Raum. Nur wenige Kerzen warfen einen schwachen Lichtschimmer über die vergoldeten Barockornamente an den Gewölbegurten. Girlanden aus Tannengrün wanden sich um die kräftigen Säulen aus Maria-Therisienmarmor. Milden anderen, die gekommen waren, das Christwunder zu erleben, knieten wir in den dunklen Eichenbänken. Der wunderbare Hauptaltar, einem griechischen Tempel nachgebildet, dämmerte mit marmorierten Säulen, vergoldeten Kapitellen und kühn geschwungenem Bogengiebel mit den Adelswappen der Stifter in der Apsis. Das geheimnisvolle Helldunkel des großen Altarbildes von Meister Reinhardstein nahm mich wie immer gefangen: Gruß des Engels an Maria im stillen Kämmerlein zu Nazareth. In schimmerndes Gold gekleidet stand der Cherub vor der demutvollen Bescheidenheit der Magd und wies auf die Taube des Heiligen Geistes, die in einem Strom überirdischen Lichtes aus dem geöffneten Himmel niederschwebte, umkreist von jubelnden Engelchören. Von dem geheimnisvollen Geschehen schwang sich ein unsichtbarer Bogen zur Krippe vor dem Sebastianusaltar. Hier fand die himmlische Verheißung ihre irdische Erfüllung, wie in einem lebenden Bilde dargestellt von den gefaßten Holzfiguren.

War jenes Ereignis, das auf dem dunklen Bildgrund in wenigen, leuchtenden Farben aufblühte, noch in himmlische Räume hinausgehoben, so vollzog sich die Menschwerdung des Gottessohnes in der gewohnten bäuerlichen Welt mit Ochs, Esel, Hirten und Schafen, mit dem Heu in der Krippe und dem Stroh auf dem Dach. Darum schien mir das Altarbild so göttlich und die Krippe mit dem lächelnden Kinde so menschlich.

Der Mesner hat nun, eine nach der anderen, die vielen, vielen Kerzen angezündet und die Leuchter in hellem Licht erstrahlen lassen. Die Glocken schwangen aus. Der Organist hatte hinter dem Spieltisch der Orgel Platz genommen und das Register Vox coelestis, die himmlische Stimme, gezogen. Und nun hauchte ganz zart eine Melodie durch die hohen Gewölbe, schwoll an, und aus der Flut der Töne formte sich allmählich das Lied von der Heiligen Nacht, das in immer neuen Variationen bald innig verhalten, bald jubelnd und brausend, in die Herzen drang. Wie fern stand dieses Glaubensgefühl der rationellen Nüchternheit unserer Tage! Das Orgelspiel brach ab. Die Sänger und Sängerinnen auf der Empore räusperten sich vor ihrem großen Auftritt; Cello, Geige und Kontrabaß stimmten sich dudelnd und brummend ein, und das Glöckchen gab das Zeichen zum Beginn der heiligen Handlung. In Rot und Weiß, Leuchter in den Händen, zogen die Meßdiener in langer Reihe in den Chor ein, gefolgt von den Priestern in Goldbrokat. Weihrauch wölkte empor, das Orchester begann mit dem Vorspiel zum Kyrie und der Chor setzte ein, erst sanft und zögernd, dann sich zu einer machtvollen Fülle steigernd, daß die Gewölbe zu erzittern schienen. Das Gloria jubelte auf, das Credo schwoll an zu einem machtvollen Bekenntnis und im Sanctus schienen alle Engelchöre mitzuschwingen im Lob und Preis des Allerhöchsten. Das Agnus Dei flehte in Moll um Erbarmen und die erste Messe klang aus, während die Gemeinde darauf brannte, in der nun folgenden Singmesse ihre Stimme mit den altvertrauten Weihnachtsliedern zu erheben. Die dritte, stille Messe war zu meiner Freude nur kurz. Unausgeschlafen, wie ich war, erwartete ich nun mit leiser Ungeduld die Heimkehr ins alte Bauernhaus, wo Mutter schon ein flackerndes Herdfeuer entfacht hatte, und wo die bescheidenen Gaben des Christkindes auf sieben Tellern der Besitzergreifung durch uns Kinder harrten. Im Osten stieg die Sonne aus dem Kältedunst der Berge empor. Mit roten Gesichtern tauchten die Heimkehrer in die anheimelnde Wärme der Stube, die nach Seife, Backwerk und Äpfeln duftete. In der Mitte des weißgedeckten Frühstückstisches lag der gekochte Festtagsschinken und in der Ecke schimmerte der Weihnachtsbaum im milden Licht der Kerzen wie Altgold.

Die jüngeren Geschwister waren nun auch aufgestanden, und wir zeigten uns jubelnd die Geschenke, die Äpfel, Nüsse und Printen, lauter Kostbarkeiten, die unsere bescheidenen Erwartungen reichlich erfüllten. Im Stall standen die Kühe mit ihren großen und sanften Augen an der mit duftendem Heu gefüllten Krippe, als wären sie sich der Ehre bewußt, die ihrem Vetter, dem Ochsen wiederfahren, als er das Kind in der Krippe mit seinem Atem erwärmen durfte.