Wird das Dorf überleben?

Skizzen und Zeitbilder zum Wandel im ländlichen Lebensraum der Eifel

Nico Sastges

„Unser Dorf soll schöner werden" lautet ein bekannter Slogan, der dem Wiederaufbauwerk der Nachkriegsjahre folgte und dazu anregt, den dörflichen Lebensraum zu verbessern. Langzeitprogramme des Bundes und der Länder zielen darauf ab, das in allen Lebensbereichen seit jeher sichtbare Gefalle zwischen Stadt und Land abzubauen. Beflügelt wurden die Bestrebungen zur Verbesserung des ländlichen Lebensraumes vor allem von der nach dem Krieg einsetzenden Abwanderung der Landbevölkerung in die Ballungszentren der Industrie. Es schien lange Zeit, als wolle sich der Treck der verarmten Bevölkerung vor einem Jahrhundert nach Amerika nun im heimischen Nahbereich wiederholen. Dies zu verhindern, ist in den jüngst vergangenen Jahrzehnten auf dem Sektor der Wirtschaft Enormes geleistet worden. Flurbereinigungen zur Stärkung der Landwirtschaft und des Weinbaues sowie die kontinuierlich betriebene Ansiedlung junger Industriezweige haben weithin zu augenfälligem Strukturwandel geführt. Die Schaffung von Wirtschafts- und Bildungszentren hat nicht nur den Abwanderungstrend aus dem ländlichen Raum aufgefangen, sondern gleichzeitig einen Umschichtungsprozeß der Bevölkerungsbewegung eingeleitet, in mancher Region sogar einen Trend der Flucht aus der Stadt auf das Lad bewirkt. Diese Umschichtung berührt in besonderem Maß die Eigenart des ländlichen Raums, vor allem das spezifische Eigenleben des Dorfes.

Altes Gehöft in Houverath

Das Bilderbuchdorf des Zeitwandels zum 20. Jahrhundert, in dem noch barfüßige Kinder die Kühe zur Weide trieben oder einem gelegentlich verirrten motorisierten Vehikel nachliefen, ist dahin. Aber auch das von Spreng- und Brandbomben zerfetzte Dorf des Jahres 1945 ist nur noch der älteren Generation in Erinnerung. Da und dort finden sich noch einige Ruinen als stumme Zeugen jener Zeit. Ansonsten ist die alte Volksschule des Dorfes längst zum Jugendheim oder Kindergarten umgestaltet oder privat bewohnt. Im verlassenen Dorfladen erklingt zur Abendstunde Musik einer Diskothek. Neben der bis in die 50er Jahre erhaltenen Schmiede stehen ausschlachtfähige Autos, und entlang der Dorfstraße stören etliche morsche Mauern ungenutzter Ställe und Scheunen das ansonsten um- und ausbaufreudige Bild des Dorfes. Die romantischen Dorfbrunnen, die sich bis in die 70er Jahre als Kühlbecken für die Milchkannen bewährten, erfreuen das Auge des Wanderers mit gepflegter Blumenpracht. Und die alte Mühle im Tal erweist sich mit Getränkeverkauf als willkommene Ruhestätte für müde Wanderer oder ist als Fremdenpension Domizil erholungshungriger Gäste geworden.

Wer etwa in der Dorfschenke rastet, gewahrt den Milieuwandel im Stimmengewirr zwischen heimischem Dialekt und landsmännisch unterschiedlich akzentuiertem Hochdeutsch. Wo einstmals am runden Tisch die Bauersleute mit preußischer Pünktlichkeit nach ausgedehntem Marktbesuch ihre Erlebnisse austauschten, plaudert heute ein gemischter Chor derer, die von langen Fernfahrten heimkehren und den vielseitig Berufstätigen aus angesiedelten Industriezweigen mit heimischen Handwerkern, die sich für technische Neuerungen interessieren. Neben dem hier schon in der menschlichen Begegnung spürbar werdenden Wandel der Infrastruktur bewirkte die Schrumpfung von Kleinbetrieben der Ernährungswirtschaft den entscheidenden Durchbruch der verbliebenen bäuerlichen Betriebe zu rationeller Agrarerzeugung und auf dem Sektor der Viehhaltung zu qualifizierter Veredlungswirtschaft. Das „Kuhdorf" alter Prägung gibt es nicht mehr.

Was also unterscheidet das Dorf noch von der Stadt? Geteerte Straßen und Bürgersteige kaum. Zivilisatorische Einrichtungen und Wohnkultur sind weithin einander angeglichen. Auf dem Bildungssektor ergeben sich im ländlichen Raum lediglich Probleme zur Überwindung weiter Entfernungen zu den Schulzentren. Das Bildungsangebot selbst vermag bis zur Oberstufe der Gymnasien und gleichwertig berufsbezogenen Fachschulen mit städtischem Niveau Schritt zu halten. Unterschiede zwischen Stadt und Land sind also vorwiegend im Umgang der Menschen miteinander sowie in ihren Beziehungen zur „Natur vor der Haustür" zu suchen, wohl ein bedeutsames Plus gegenüber den Bürgern der Großstädte.

Der Volkstums- und Heimatgedanke erscheint im Dorf tiefer verwurzelt als in den Städten, wiewohl die Sehnsucht nach einem Stück Land oder einem Garten bei Stadtmenschen sicher nicht geringer einzuschätzen ist als etwa der „gewachsene" Besitz solcher Güter bei der Landbevölkerung. Daher und vom kontinuierlich aufgestockten Bildungsangebot her mag der Trend zur Flucht aus der Stadt aufs Land sich ausgebreitet haben, beflügelt von günstigeren Angeboten zum Eigenheimerwerb.

Daß der daraus resultierende Bevölkerungszuwachs in manchen Landgemeinden bemerkenswerte Einflüsse auf dörfliches Gemeinschaftsleben bewirkt, entspricht der Umkehrung der Verhältnisse, wie sie in den Entwicklungsjahren der Industrie im auslaufenden 19. Jahrhundert ob der Landflucht in die Großstädte zu beobachten waren. Flüchtlingsstrom und berufliche Umschichtungen in den Nachkriegsjahrzehnten sind nicht spurlos am Dorfleben vorbeigegangen. Es gab über Jahre hinweg Anzeichen, daß die dörfliche Lebensgemeinschaft vom Sog der Bevölkerungsbewegung und deren Einflüssen auf das gesellschaftliche Milieu erfaßt und dementsprechend neu modelliert werde. Aber gerade im Miteinander der Menschen erwiesen sich dörfliche Traditionen als wertbeständig. Denn je stärker da und dort der Drang zur Umwandlung oder gar zur Vorherrschaft angesiedelter Volksgruppen bemerkbar wird, so duldsam-zielstrebig setzt sich in Vereinen und Berufsgruppen das beharrende Element dörflichen Eigenlebens durch. Dies führt, je kraftvoller der Umgestaltungswille hervortritt, zur Auslösung vielfach schlummernder Energien zur Bewahrung dörflicher Eigenarten, die tief verwurzelt sind im Geist der Generation überspannenden Nachbarschaftspflege.

Das Wort Nachbarschaftspflege beinhaltet nicht nur die Verbundenheit im engen Kreis einiger Familien, sondern die Verzahnung des Zusammenstehens und -Wirkens vieler Nachbarschaften in der Dorfgemeinschaft findet in Pfarreien mehrerer Orte sowie parallel dazu gewachsenen kommunalen Verbänden und traditionellen Zukunftsvereinigungen einen starken Hort gemeinsamen Verantwortungsbewußtseins. „Volkstum und Heimat" sind keine leeren Begriffe.

Wendet man sich dem Wandel im ländlichen Bildungsbereich zu, so mußte der Verlust der Dorfschule mancherlei berechtigte Sorgen auslösen, das Dorf könne vereinsamen, zumal parallel dazu auch der Priestermangel immer spürbarer wurde. Der Wohnungswechsel des mit dem Dorf verwachsenen Lehrers und die Vakanz kleinerer Pfarrerein lösten zunächst Unbehagen bei der Landbevölkerung aus, weil damit zwei stabile Säulen dörflicher Eintracht eingestürzt schienen. Kein Wunder, daß der Ruf nach der Einheit Kirche-Schule-Elternhaus sich verstärkte, je mehr Schülerinnen und Schüler zur Fahrschülern zum Besuch entfernter Bildungszentren wurden. Doch mit der im Schulwesen offenkundig werdenden Hebung des Bildungsniveaus löste sich langsam das Mißbehagen gegenüber zentralen Schulen, wenngleich es geraumer Zeit bedurfte, um die Führungslücken auf dem Sektor der Jugendfreizeitbetätigung im Dorf zu schließen.

Kapelle bei Burg Ringsheim/Schweinheim

Daß die Kirche in den Pfarrverbänden zur stärkeren Beteiligung von Laien am pastoralen "Dienst überging, wirkte auch auf anderen Sektoren dörflichen Lebens anspornend. Vor allem in den Vereinen regten sich initiative Kräfte, die stärker denn je sich der Pflege heimischen Brauchtums annehmen. Man muß heute schon mit der Laterne suchen, um herauszufinden, wo im Dorf traditionelles Brauchtum gänzlich verlorengegangen wäre. Gewisse Veränderungen der Szenerie, teils durch Rücksicht auf Verkehrssicherheit bedingt oder durch fortschreitende Technik den Verhältnissen aus Großvaters Zeiten entrückt, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß das spezifische Eigenleben des Dorfes trotz aller Nachkriegswehen der Bevölkerungsumschichtung erhalten bleibt.

Die mancherorts kritisch vermerkte Besorgnis, der Strom zugewanderter Bevölkerungsgruppen könnte dörfliche Eigenarten zunichte machen, erweist sich weithin als Trugschluß. Dörfliches Gemeinschaftsleben war selten so ausgeprägt und traditionsbewußt gepflegt wie heute. Es läßt sich kaum übersehen, daß von den im Dorf angesiedelten und um Einordnung in die Gemeinschaft bemühten Neubürgern vielerorts positive Impulse zu nützlicher Freizeitbetätigung ausgelöst wurden. Daß dabei im täglichen Miteinander auch das Bemühen zur Aufnahme heimischer Dialektsprache mit oft delikaten und humorvollen Akzentuierungen vorherrscht, ist ein weiteres Indiz für den hohen Stellenwert heimischer Mundart zur Verständigung in der Gemeinschaft des Dorfes. Mag gepflegtes Hochdeutsch, wie es heute — gottlob — die Fünfjährigen bereits aus dem Kindergarten in Omas Stube mitbringen, für die Entwicklung der Kinder und Heranwachsenden von unschätzbarem Wert sein, doch die heimatliche Mundart kann darunter nicht leiden. Sie pflanzt sich fort, solange die Pflege guter Nachbarschaft den Kern dörflichen Lebens bildet. Und es gibt, wenn sich da und dort zeit- und entwicklungsbedingt auch gelegentlich Negatives einschleicht, genügend Beispiele dafür, daß selbst in schnell wachsenden Trabantendörfern am Rand von Großstädten eine einander völlig fremde Bevölkerung, sobald sie Gemeinschaftsleben entwickelt, den Quellen der Heimat- und Volkstumspflege stärker nachspürt als dort, wo hundertjährige Traditionen die Gemeinschaft geformt haben und den Rhythmus ländlichen Lebens bestimmen.

Doch auch die Bewahrung von historisch Verankertem stellt zu jeder Zeit neue Aufgaben. Diese bleiben nur lösbar, wenn sich Frauen und Männer bereit finden, Nachbarschaft und Vereinsleben aktiv zu pflegen. Gegenwärtig dürften sich in westlichen Regionen nur spärliche Ansätze finden, die Besorgnisse um die Überlebenschancen des Dorfes rechtfertigen. Das Vereinsleben steht, wie sich statistisch belegen läßt, in hoher Blüte, nicht nur nach dem Prozentsatz der Aktiven, sondern auch in der Qualität dessen, was unter dem Sammelbegriff Bildung —Kultur von Dorf zu Dorf geleistet wird — trotz Fernsehens und vieler anderer Angebote.

Das Dorf hat, so läßt sich nach über 30jähriger Nachkriegsentwicklung feststellen, ob vielerlei Wandlungen seinen Charakter als Lebensgemeinschaft bewahrt und ist vielen Neubürgern zur Heimat geworden.