Lehrer- und Lehrjahre in Duppach

Friedrich Gehendges

Da ist doch wohl etwas dran an dem geflügelten Wort von der »guten alten Zeit«, die natürlich für jede Generation eine andere bedeutet. Erinnerten sich unsere Vorfahren dabei vor allem noch an »Kaisers Zeiten«, wo Glanz und Gloria eines Staates manche persönliche Alltagssorge übertünchte, so denken die heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen unwillkürlich an die ersten zwei Jahrzehnte nach dem furchtbarsten aller Kriege. In heute kaum noch glaubhaft zu machender Bescheidenheit erlebten die Menschen, daß es ihnen zunehmend wieder besser ging. Allerorts und in jedem Lebensbereich machte sich Zukunftshoffnung breit und trieb Bürger, Gemeinden und Staat in unerschütterlichem Fortschrittsglauben unbeirrbar nach vorne.

Auch die Schule machte hiervon keine Ausnahme. Wer jedoch rückblickend den Ausgangspunkt mit dem gegenwärtig erreichten Zustand vergleicht, muß mit einiger Enttäuschung feststellen, daß sich durchaus nicht alles zum Positiven gewendet hat, was mit fortschrittsgläubigem Elan in Angriff genommen wurde. Es käme einer Anmaßung gleich, wallte man in nur wenigen Zeilen das Pro und Kontra dieser Entwicklung erörtern. Man mag es mir jedoch erlauben, mit nur wenigen Gedanken in die Vergangenheit zurückzuziehen, die mich die ersten Schritte in mein Lehrerdasein tun ließ.

Was konnte einen jungen Menschen gegen Ende der Fünfziger Jahre wohl dazu bewegen, sich dem Lehrerberuf zu verschreiben und sich darauf einzustellen, mit größter Wahrscheinlichkeit in einem kleinen Eifeldorf — daß es Duppach sein würde oder ein anderes, war nur zweitrangig — zu landen? Ausschlaggebend war sicherlich angesichts der nur wenig lukrativen Zukunftsaussichten eine grundsätzlich positive Einstellung zum Umgang mit und zur Arbeit an jungen Menschen. Ohne diese Voraussetzung hätte ein noch so fleißiger und durchgeistigter Student der Pädagogik den im Volk verbreiteten Vorstellungen von einem Lehrer auch nicht annähernd entsprechen können. »Ein Herz für Kinder«, Verständnis für ihre kleinen und großen Sorgen und nicht zuletzt ein gerüttelt Maß an Geduld im Umgang mit den oft nicht leicht zu bändigenden Temperamenten verschiedenster Couleur waren unabdingbare Voraussetzung. Heute dagegen ist möglicherweise eher der intellektuelle, geistig durchtrainierte und verwissenschaftlichte Lehrer gefragt, der umfangreiches Spezialwissen in nur zwei oder drei Fächern mitbringt und den man an den Hochschulen in allen erdenklichen wissenschaftlich fundierten Strategien übt, seine geistige Ware in wohldosierten Mengen an die junge Kundschaft »zu verkaufen«.

Unvorstellbar, daß man vor mehr als zwanzig Jahren einen auf diese Weise vorbereiteten Lehrer in ein kleines Eifeldorf geschickt hätte! In das dörfliche Leben, wie ich es beispielhaft bei meinem Dienstantritt im Jahre 1960 im damals zum Kreis Prüm gehörenden Duppach antraf, wäre ein solcher Wissenschaftsvermittler kaum einzupassen gewesen. Und so war es wohl in allen kleinen Orten landauf und landab. Wie hätte ich dort mit meinem geistigen Ballast, den man mir heute mitgeben würde, vor den noch unverbildeten Dorfkindern gestanden! Auch meine Kollegen und ich schöpften damals aus einem breiten und fundierten Wissensvorrat, doch betrachteten wir uns nicht als seine Diener. Dienen wollten wir aus Überzeugung vor allem den uns anvertrauten Kindern. Was hätten wir auch gemacht, da uns in einer kleinen Lehrmittelecke nur wenige Hilfen zur Verfügung standen und von Fachräumen und kostspieligem Experimentiergerät noch keine Rede war! Vor allem das gesprochene Wort war Mittler zwischen den beiden sich im einzigen Schulsaal begegnenden Generationen.

Noch heute höre ich die geölten Fichtenbohlen unter meinen Füßen knarren, wenn ich daran denke, wie ich meine Kreise durch die Bankreihen zog und dabei zur Winterzeit einen weiten Bogen um den mitten im Saal blubbernden Riesenofen schlug, der in wöchentlichem Wechsel von Schülern der 8. Klasse bedient wurde. Neben seiner war es aber vor allem die menschliche Wärme, die alle im Saal Versammelten wohlig umspielte, angefangen vom ABC-Schützen bis hinauf zum hochaufgeschossenen Achtkläßler. Nur in dieser Atmosphäre war es möglich, daß mich der Erstkläßler Karl bereits am dritten Tage seines Schülerlebens in überschwappendem Eifer und mit sich überschlagender Stimme, den rechten Arm temperamentvoll in der Luft wirbelnd, mit »Papa! Papa!« anrief. Erst ein fragender Blick meinerseits ließ den Knirps errötend und leicht verschämt unter dem herzlichen Lachen seiner Kameraden den Boden der Realitäten wiederfinden.

Natürlich gab es auch nicht wenige Augenblicke und Ereignisse, die dem auf Gedeih und Verderb mit seinen Schülern verbundenen Lehrer deutlich machten, daß er als Wetzstein für die inzwischen weitgehend durchschauten Charakteren herzuhalten hatte. Wenn ihm dann notfalls der etwa meterlange »stumme Diener« zur Seite springen mußte, waren in den meisten Fällen selbst dem Unbändigsten die gottgegebenen Grenzen kindlichen Entfaltungsdranges rasch und nachhaltig aufgezeigt. Wer heute etwa glaubt, daß durch diese mehr oder weniger schmerzende Maßnahme das innige Verhältnis zwischen Exekutor und Delinquent einen irreparablen Bruch davongetragen hätte, vergißt einfach, daß sich das mit voller Rückendeckung durch die meisten Eltern vollzog und auch die Schüler in der Regel noch ein Empfinden für Zucht, Ordnung und Strafe besaßen.

Das gegenseitige Verständnis, das sich Schüler und Lehrer damals entgegenbrachten, erwuchs jedoch nicht allein aus dem pflichtgemäßen Beisammensein im Schulsaal. Anderes war nicht weniger wichtig: ein erfrischender Schulmorgen in einem nahen Wald, eine Ganztagswanderung zum »Schwarzen Mann«, freiwillige Werk- und Bastelstunden außerhalb des Stundensolls, Flötenstunden und hin und wieder Theaterproben. Wenn Mia sich als »Tausendschön« oder Manfred sich als »Piprifax- Paprika« auf der improvisierten Bühne der versammelten Dorfbevölkerung zeigten, wenn ein vorweihnachtliches Krippenspiel schauspielerische Talente entdecken half oder ein Auftritt im Chorraum der Kirche des hl. Hubertus den Kindern verdeutlichte, was Lampenfieber heißt, dann fühlte das ganze Dorf den Pulsschlag seiner Schule.

Doch auch in manch anderer Hinsicht stand der Lehrer damals noch im Dienst seines Dorfes. So bannte ihn allsonntäglich die »Residenzpflicht« an das Kopfende der fünften Kirchenbank, von wo aus er — die Elternschaft »im Rücken« — seinen Amtsblick über die fromme Schar seiner kleinen Beter schweifen ließ. Auch an besonderen Festtagen, wenn dieser Platz einmal leer blieb, weil sich sein Inhaber auf der Empore als Dirigent des »Cäcilia« zu betätigen hatte, wußten sich die Kinder unter seiner Kontrolle. Man konnte es als Schüler einfach nicht mit ihm verderben, da man ihm doch spätestens am kommenden Morgen wieder vor die Augen treten mußte.

Aber nicht nur Schule und Kirche erwarteten vom Dorflehrer tatkräftigen Einsatz. Auch die Zivilgemeinde und ihre Verwaltung bedienten sich seiner Person bei verschiedenen Anlässen. So wurde er bei Wahlen, Volkszählungen oder landwirtschaftlichen Erhebungen wiederholt zur rechten Hand des jeweiligen Bürgermeisters. Zwar brachten diese ehrenamtlichen Funktionen ihrem Träger keine nennenswerten Vorteile, doch vermittelten sie ihm immer wieder Kontakte zu den Familien seiner Schüler und lenkten seinen Schritt in ihre Elternhäuser. Nicht selten wurde er dabei ungewollt zum Geheimnisträger im Gespinst innerdörflicher Beziehungen, so daß er in die Lage versetzt wurde, ohne Wissen der Betroffenen aufkeimenden Feindseligkeiten das Wasser abzugraben und damit dem Dollfrieden insgeheim zu dienen. Nicht zuletzt boten auch der Frühschoppen nach dem sonntäglichen Hochamt oder der gelegentliche Dämmerschoppen hierzu Gelegenheit. Man hätte es dem »Herrn Lehrer« wohl kaum als besonders edlen Charakterzug angerechnet, wenn er diesen Jahrmarkt der Neuigkeiten und der Meinungen bei »Thommes« bewußt gemieden hätte.

Schließlich wollte und konnte das Dorf auf seinen Lehrer ebensowenig verzichten wie auf »den Haar«, dem das Seelenheil der rund 500 Menschen anvertraut war. Angesichts der Bedeutung der örtlichen Schule ließ es auch Duppach sich nicht nehmen, in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs seinen Kindern ein modernes, geräumiges Schulgebäude und seinen Lehrpersonen freundliche, neue Wohnungen zu errichten. Inzwischen war nämlich die Schülerzahl derart angestiegen, daß dem Dorf Duppach in der Person von Frl. Hohmann eine zweite Lehrperson zugeteilt worden war. Da bis zur Fertigstellung des Neubaues ein zweiter Schulsaal jedoch fehlte, mußte vorübergehend Schichtunterricht eingeführt werden, so daß die Klassen 1 bis 4 und 5 bis 8 im Wechsel den Vor- nd Nachmittag zum Unterricht nutzen mußten. Mit Bezugsfertigkeit der Neubauten im Jahre 1964 wurden jedoch nicht nur günstigere Voraussetzungen für die schulische Arbeit geboten. Auch für den Lehrer selbst eröffnete sich die " Möglichkeit, auf die Fertigstellung seiner Dienstwohnung mit der Gründung einer eigenen Familie zu reagieren. Nicht ganz ohne Wehmut trennte er sich von jener Familie, im Dorf »Millesch« genannt, die ihn als Junggesellen fast vier Jahre lang mehr aus christlicher Nächstenliebe denn aus materiellen Beweggründen heraus mit Kost und Logis betreut hatte.

Ein Wandertag der einklassigen Schule Duppach — erfrischend für Körper und Gemüt.

Wer jedoch damals die Zeichen der Zeit — unter dem gleichen Titel traten die Duppacher Kinder und ihr Junglehrer auch einmal im Fernsehen auf — erkannte, konnte nicht übersehen, daß mit dem einige Jahre darauf neu eingefühten und gleich von Beginn an in einer Nachbarschule zusammengefaßten 9. Schuljahr eine Entwicklung eingeleitet wurde, die dem Dorf seine Schule nehmen würde. Vorbei würde es sein mit der innigen Verbindung zwischen der Dorfjugend und ihrem Lehrer. Daß sie fruchtbar war, zeigen nicht nur diejenigen seiner Schüler, die den jahrelang vermißten Sprung von der Dorfschule zu einer weiterführenden Schule schafften und zusammen mit ihren übrigen Schulkameraden vollwertige Mitglieder unserer heutigen Gesellschaft geworden sind. Dem Lehrer selbst drängte sich mit Anbruch der »neuen Zeit« aber auch die Verantwortung für die Zukunft seiner eigenen Familie auf, die ihn dazu bewog, sich um eine Dienststelle an einer zukunftssicheren größeren Schule zu bewerben. Es war nicht etwa Fahnenflucht, bei der man seine dem Untergang geweihte Truppe feige im Stich läßt! Was hätte es angesichts der von staatlicher Seite eingeleiteten Reformen des Schulwesens noch zu retten gegeben?

Es war eine dankbare Aufgabe, in der damals nicht selten belächelten kleinen Dorfschule, die sich heute so mancher wieder herbeisehnt, die ersten Gehversuche als Junglehrer machen zu können, wo man an Ort und Stelle auch die Früchte jahrelanger Kleinarbeit reifen sehen konnte — ein Erlebnis, auf das die Lehrer in den zeitgenössischen Mammutschulen weitgehend verzichten müssen. Ich möchte jedenfalls meine acht Lehr(er)jahre auf dem Dorf nicht missen, die mir soviel Rüstzeug für den Umgang mit jungen Menschen vermittelt haben. Wer sich als Lehrer und Leiter einer kleinen Dorfschule mit allen ihr eigenen großen und kleinen Schwierigkeiten herumschlagen und sich dabei »freischwimmen« mußte, sollte wohl auch im Meer der sich gelegentlich überschlagenden reformpädagogischen Wogen nicht ertrinken.