»Guten Tag!«

Vom Wert des freundlichen Grüßens auf Wanderwegen

Lotte Schabacker

Der Freund tat uns leid! Statt der geplanten wilden Jagd durch Asien und Umgebung mußte er aus gesundheitlichen Gründen eine Kur machen und das Vaterland hüten, genauer gesagt, einen stillen mittelgebirglichen Badeort. Und statt der Flugkarte mußte er sich Wanderschuhe kaufen. Welch Malheur! Was war nun mit all den Andenken, die er sich da unten hatte einhandeln wollen? Was konnte man schon aus Deutschland nach Deutschland mitbringen?

Und dann war ihm doch ein Fund gelungen, ein kostbarer sogar. Vorzeigen konnte man ihn allerdings nicht, sondern höchstens beweisen: außer einer besseren Gesundheit hatte er sich selbst als einen anderen Mitmenschen mitgebracht, so hoffte er. Und das kam so: Nach ärztlicher Verordnung bestand seine Haupttätigkeit im langsamen Abschreiten von Wanderwegen. Man ging also im Walde so für sich hin, und es war einem halt grün vor den Augen. Nach und nach begann man dann Einzelheiten zu sehen. Welche genau, das könne der, den es interessiert, in Stifters »Der Waldsteig« nachlesen; diese köstliche Erzählung gelte als Botanikbuch auch heute noch. Die eigentliche Überraschung aber war die Menschenleere in Deutschlands Wald und Flur, wenn man sich abseits der Straßen hielt. Sieh da, kein Mensch! Irgendwann kam einem dann doch mal einer entgegen. Siehe da, ein Mensch! Im Vorübergehen sagte der Mensch freundlich »Guten Tag«. Ach ja, der uralte Brauch in einsamen Gegenden! In Ephesus etwa traten sich die Touristen in die Hacken, da knurrte man höchstens »Pardon«.

Nächstes Mal würde man höflicher sein und als erster »Guten Tag« sagen. Aber es kam lange keiner. Und dann kam doch einer. Sollte man? Würde er? »Guten Tag« sagte man zur selben Zeit und sah sich einen Augenblick lächelnd ins Gesicht. Das war nett! Beim Weitergehen mußte man noch ein bißchen darüber nachdenken, konnte feststellen, daß sich das Lächeln für einige Sekunden in den Mienen eingenistet hatte. Man ertappte sich schließlich dabei, daß man schon auf die nächste Begegnung wartete, sich freute auf das nächste »Guten Tag«. Oder das nächste »Grüß Gott«, denn auch süddeutsche Infarktanwärter sollten hier genesen. Und dann kam man einem Lehrsatz auf die Spur: Je fortgeschrittener die Kur, desto herzlicher der Gruß! Eine Selbstverständlichkeit wurde hierzu einem Kult, den man mit Vergnügen zelebrierte. Aber stimmte das überhaupt? War es das Alltägliche, sich die Zeit zu nehmen, dem Nächsten einen freundlichen Gedanken nachzuschicken? Den ehrlichen Wunsch, der heutige Tag möge ihm gut sein? Nein, das war es nicht, und dafür ließen sich auch Erklärungen finden: Auf verstopften Autobahnen oder in überfüllten Warenhäusern tut man sich recht schwer mit der Erleuchtung, der Mensch sei doch irgendwie unter den Dingen dieser Welt etwas Bemerkenswertes, ja, Apartes, wert und bedürftig eines frommen Wunsches. Auch ist es wohl einfacher, dem fremden Wanderer wohlgesonnen zu sein, als dem Nachbarn, der einem auf die Nerven geht. Und dann mußte man sich selbst auch erst, um den anderen klar in den Blick zu bekommen, von der Staubschicht befreien, die der Alltag, wie er heute nun einmal beschaffen ist, angesetzt hat.

Das alles stimmte, aber es erklärte doch nicht ganz, daß aus dem, was hätte alltäglich sein sollen, Heiterkeit geworden war, ein Glanztupfer, der nicht verschwommen idealistisch etwa jenes ältere Ehepaar verklärte, das gerade grüßend vorüberging und das einem vielleicht vor kurzem die Vorfahrt genommen hatte, sondern eine einfache Freude an sich selbst, über sich selbst.

Er hatte länger darüber nachgedacht, was es mit diesem warmen Gefühl wohl auf sich hatte, und dann war ihm das Licht aufgegangen: er hatte etwas gefunden, was er immer schon besessen hatte (und alle anderen auch) ohne es zu wissen, nämlich einen Überschuß an Menschenfreundlichkeit, ein Guthaben über den notwendigen Eigenbedarf, die Selbstliebe, hinaus!

Er für sein Teil wollte nun endlich — so hatte er sich vorgenommen — damit aufhören, immerfort wie hypnotisiert auf »das sogenannte Böse«, den Aggressionstrieb, zu starren wie das Karnickel auf die Schlange. Er wollte lieber immer mal wieder den Edelstein blankputzen, den er da in sich ausgegraben hatte. Zur vielbesungenen Arterhaltung sei beim augenblicklichen Stand der Menschheitsgeschichte das eine doch wohl wichtiger als das andere.