Provinz steckt an

Lotte Schabacker

Wenn das Kleinstädtchen, in dem unsere Freunde seit einigen Jahren hausen, nicht so weitab läge, hätte die nächste Großstadt es längst aufgefressen. Doch so wie es ist, sind die Stadt-Flüchtlinge ganz im Recht mit der Behauptung, daß sie eigentlich auf dem Lande leben. Ein Umstand, der ihnen bislang sehr behagte und bekam.

Doch bei unseren letzten Besuchen fanden wir sie in Schwierigkeiten. Es wuchsen ihnen Phrasen von der verdummenden Wirkung des Landlebens aus den Ohren, wohin vor kurzem aus der Großstadt gezogene Nachbarn sie gepflanzt hatten. Die Worte »Keine geistigen Anregungen« ragten besonders hervor.

Jene Leute, ein nicht mehr ganz junges Ehepaar, waren nicht in dieses hübsche Nest umgesiedelt — sie waren »in das Kaff verschlagen« worden, und nun lebte besonders die Frau in dauernder Angst vor ihrem geistigen Verfall. Sie merkt selbst, so sagt sie, wie ihre psychischen Funktionen nachlassen, wie sie stumpfsinnig wird, mit glasigem Blick aus dem Fenster starrt, keine Lust mehr hat, mal den Berg zu erklimmen, der vor ihrer Nase liegt und der an Wochenenden und in der Urlaubszeit für viele Großstädter ein beliebtes Ausflugsziel ist; keine Lust, sich umzuziehen und einen Besuch zu machen. Überhaupt keine Lust mehr zu nichts und wieder nichts.

Ihr Mann spürt dann, daß sie sich auf das Niveau der sie umgebenden Kleinstädter — deren größter Teil aus ehemaligen Großstädtern besteht— herabgesunken fühlt. Dann setzen sich die beiden in ihren Wagen und fahren die gute Stunde in die nächste City, um ihre höheren Ansprüche zu befriedigen. Wobei die unabdingbaren Standard-Vergnügungen das Auswärts-Speisen, der billige Einkauf und der Schaufensterbummel sind. Und wenn sie dann nach Hause kommen, ist für ein paar Tage die Welt wieder rund, weil man »Großstadtluft« geschnuppert hat. . .

Der Hinweis, daß man heute auch da, wo die Füchse gute Nacht sagen, aller, aber auch alles genauso schnell erfährt wie mitten im Menschengewühl, tröstet nicht. Und auch der Theater-Lehrsatz kommt nicht an: Der Landbewohner, der den Weg ins nächste Theater scheut, ist auch nicht hineingegangen, als er noch daneben wohnte! Nein, es kommt rein gar nichts an. »Die Leute hier sind einfach indolent!« klagt die Frau. »Und wenn man länger hier lebt, wird man es auch. Daß Sie das gar nicht merken!« trat sie den immer hilfsbereiten Freunden auf die Füße. Irgendwo hat jeder seine Empfindlichkeiten, nicht wahr. Die hätte man ja nun in Sicherheit bringen können, aber ein gemeinsamer Boß hatte die Neuen den schon Alteingesessenen zur Eingewöhnung ans Herz gelegt. Was auch ohne die genannten wunden Fußpunkte ein Problem war, da man mit der Frau nichts Rechtes anzufangen wußte. Sie war eines jener Wesen, die immer darauf warten, daß etwas mit ihnen geschieht, daß ihnen Dinge und Menschen selbsttätig zustoßen.

Die Sage von der geistig verarmenden Landwirkung hat diese Frau sicher irgendwo gelesen. Auch laufen ja immer wieder solche Filme über die Mattscheiben: Umstände ergeben, daß irgendein Mitbürger aufs Land zieht, dort seelisch verkümmert und schließlich zu spinnen anfängt. Das wehrlose Land hat eben eine schlechte Presse, das heißt, genauer gesagt, die bundesdeutsche Landschaft; denn warum ist man kein Dorftrottel, wenn man als Steuerflüchtling aus der BRD in einem stillen Schweizer Tal wohnt? Und wie kommt es, daß das, was drüben »splendid Isolation« heißt, sich hüben als »finstere Provinz« zeigt? Sind es die teureren Häuser, die höheren Berge oder die gewaltigeren Konten in Zürich?

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