»Die Großherzogin von Gerolstein«

Der Wahrheit und Dichtung

des Motivs einer bekannten Operette nachgespürt

Hans-Josef Schad

»Die Großherzogin von Gerolstein«, Operette von Jacques Offenbach, ist weithin bekanntgeworden. Oft, wenn sie auf rheinischen Bühnen dargeboten wurde, fuhr man zu Scharen aus Gerolstein hin, um zu erleben, was es denn nun auf sich habe mit der Fürstin des Gerolsteiner Namens. Man merkte bald, daß es sich mehr oder weniger nur um einen Titel handelt, der wohl einer dichterischen Laune entsprungen ist. Wer etwas weiter kombiniert, könnte auf den Gedanken kommen, da Jacques Offenbach in Köln geboren war, hätte er die Idee vom Großherzogtum Gerolstein vielleicht aus der Eifel. Aber leider stimmt das nicht, Operettenkomponisten vertonen meist Textvorlagen anderer Autoren. So auch Offenbach. Er schrieb die Operette in seiner Pariser Zeit nach einem Buch zweier Franzosen: Meilhac und Havely. Und die beiden Herren haben schwerlich Gerolstein gekannt. Fragt sich, ob selbst der große Meister Offenbach in Paris sehr viel mit dem Namen des damaligen Eifelfleckens anzufangen wußte. Aber irgendeine Bewandtnis muß es doch mit diesem Namen haben? Der Gedanke ließ mich nicht los. Ich versuchte ihm nachzugehen. Die Quellen dazu sind sicher nicht vollends ausgeschöpft, aber die Ergebnisse doch einigermaßen interessant (hoffe ich!).

»Der Großherzog von Gerolstein«

Die beiden Offenbach-Textbuchautoren haben die Großherzogin von Gerolstein auch nicht erfunden, sondern die Idee übernommen aus einem damals sehr bekannten Roman »Les Mysteres de Paris«, also »Die Geheimnisse von Paris« von Eugene Sue. Dieser Sue ist der eigentliche Erfinder der heute noch üblichen Fortsetzungsromane in Zeitschriften. 1842 war der Mammutroman in der Zeitschrift »Journal des Debats« zu lesen. Dieser schlug so beim Publikum ein, daß man in den Cafes Schlange stand und sich für je eine halbe Stunde gegen Leihgebühr die Zeitungen aus der Hand riß. — Dennoch: Der Roman entspricht in seiner literarischen Qualität etwa billigen Heftchenromanen unserer Tage. Die geschilderten Figuren sind in reiner Schwarzweiß-Malerei entweder gut oder böse. Sie können sich aber auch urplötzlich, wie von Gnade getroffen, von einem argen Bösewicht in ein frommes Lamm verwandeln. Bei den langatmigen »Geheimnissen« wird man den Eindruck nicht los, daß es nur darum geht, immer neue kraftvolle Szenen aus der Pariser Unter- und Gangsterwelt darzustellen. Gleich zu Beginn rettet ein strahlender Held ein Unschuldige in einer dunklen Gasse. Der Held entpuppt sich im Laufe der Handlung allmählich als feiner Herr, als ein ganzer Mann an Kraft und Mut, als Adeliger — und schließlich später als verkleideter »regierender Großherzog Rudolph von Gerolstein«. Nach weiteren Kapiteln erfahren wir, wie der edle Rudolph in seiner Jugend eine Schuld auf sich geladen und jetzt dafür büßt, indem er in Paris Arme und Unschuldige aus den Klauen der Unterwelthalunken rettet. Die schöne Unschuldige, die er zu Beginn aus einer Schlägerei herausreißt und die den schönen Namen »Marienblume« (Fleur-de-Marie) trägt, erweist sich nach vielen langwierigen und komplizierten Irrwegen und Ereignissen als seine längst gesuchte eigene Tochter, die Prinzessin Marie von Gerolstein. Rührend!

Das Leben im »Großherzogtum«

Natürlich ist es interessant zu lesen, was der gute Eugene Sue nun alles mit dem feinen Monsieur Rodolphe und seiner schönen Fleur-de-Marie vor allem in Gerolstein und am dortigen Hofe passieren läßt. Das fließt ganz allmählich in die Handlung des Romans ein. Da heißt es (erst Seite 120): »Um den Ehrungen zu entgehen, die seinem Rang als regierendem deutschen Fürsten zukamen, hatte er seit seiner Ankunft in Paris das Inkognito bewahrt. Sein Geschäftsträger am französischen Hof hatte wissen lassen, daß sein Herr die unerläßlichen Besuche unter dem Titel eines Grafen von Düren abstatten würde.« — Es kommt noch besser: Im Kapitel XVI ist eine komplette Genealogie des Großherzoglichen Hauses Gerolstein in der Art und Weise abgedruckt, wie sie in den bekannten Adelskalendern, etwa im »Gotha« zu finden sind und wie sie damals, als der Roman erschien, wohl jeder als geläufig fand. Da lesen wir erstaunt unter »Gerolstein«: »Großherzog: Maximilian Joseph, geb. 10. Dezember 1764, folgt seinem Vater Karl Friedrich Rudolph am 21. April 1785. Witwer seit Januar 1808 von Louise, Tochter des Fürsten Johann August von Bürgelen. — Sohn: Gustav Rudolph geb. 17. April 1803. Mutter: Großherzogin Judith, Witwe des GH Karl Friedrich Rudolph.«

Über das Gerolsteiner Hofleben gibt es am Schluß des Buches eine Menge Einzelheiten. Natürlich nimmt der glückliche Vater seine wiedergefundene Tochter Marie mit nach Hause und läßt sie behutsam in ihre neue Rolle hineinwachsen. Bei einem Besuch seines Verwalters, des Fürsten Otto von Herckhausen-Oldenzaal, begegnen sich Marie und Heinrich von Herckhausen-Oldenzaal. Sie verlieben sich. Das Happy-End scheint sicher. Aber nicht doch! Damals liebte man nicht so simple Hollywood-Schlüsse, vielmehr bevorzugte man das Tragische. So auch hier.

Kurze Zeit nach der Begegnung der beiden sympathischen jungen Menschen meldet das »Amtsblatt von Gerolstein« lakonisch, daß Ihre Königliche Hoheit, die Prinzessin Marie von Gerolstein, im Kloster der hl. Hermengildis vor den Toren Gerolstein den Schleier genommen habe.

In diesem Hauskloster des Großherzogtums, dicht bei Gerolstein — so etwas gehört halt in einen romantischen Roman! — war natürlich eine fürstliche Tante Äbtissin. Doch schon bald nach dem Eintritt der edlen Marie in dieses Kloster hatte sie sich durch ihre Frömmigkeit und Marienliebe eine solche Autorität über ihre Mitschwestern erworben, daß die Fürstin Juliane sie selbst zu ihrer Nachfolgerin als Äbtissin vorschlug, was dann auch geschah. Kurz darauf wird die junge Äbtissin krank, unheilbar. Ihr Zustand verschlimmert sich schnell. Der besorgte Vater und Fürst kann gerade noch seine neue Frau, Maries Stiefmutter und edle Freundin, benachrichtigen. Aber sie trifft erst aus der Normandie einen Tag nach Maries Tod in Gerolstein ein. »Und so war der Großherzog nicht allein in seinem Schmerz, als man Marienblume zur ewigen Ruhe bestattete.« — Das sind die Schlußworte des Romans. Man könnte noch weitere Einzelheiten aus dem Leben des Gerolsteiner Hofes in diesem Roman von Sue berichten. Etwa, wie der berühmte Franz Liszt dort am Hof ein vielbeachtetes Konzert gab. Also auch Franz Liszt in Gerolstein!

Historische Wahrheit?

Könnte am Ende doch manches ein bißchen wahr sein? Einiges ist ja auf den ersten Blick ohne Zweifel als reine Erfindung zu erkennen, etwa das Nonnenkloster zur hl. Hermengildis bei Gerolstein. So etwas hat es nie gegeben. Auch kein Liszt-Konzert in Gerolstein! Aber die Großherzöge? Da gab es doch in Gerolstein eine Burg. — Ja, richtig! Aber auf der Burg Gerolstein, die man heute allgemein »Löwenburg« nennt, haben nie Adelige gewohnt, die nur den Namen »Gerolstein« geführt hätten. Mit anderen Worten: Es gab nie ein Geschlecht »von Gerolstein«.

Erbaut wurde die Burg von den Grafen von Blankenheim. Von denen lebte auf Burg Gerolstein ein Zweig, der sich »Blankenheim-Gerolstein« nannte, aber selbst das währte nur knappe 100 Jahre bis 1406. Dann kam Gerolstein über die Grafen von Loen an die von Manderscheid. Auch dieses Eifeler Geschlecht bildete eine Nebenlinie »von Manderscheid-Gerolstein«. Es existierte von 1524 bis 1697. Dann fiel das Erbe an die in Böhmen ansässigen Grafen von Sternberg, die von den Franzosen 1794 vertrieben wurden. Es hat danach auch nie ein Geschlecht gegeben, das sich »von Gerolstein« genannt hätte; erst recht wurde ein solches Adelsgeschlecht nicht in den Stand von Großherzögen erhoben, und schon gar nicht regierte es um 1840, wie in dem Roman unterstellt wird. Damals war in der gesamten Eitel alles einheitlich preußisch. Also: Eugene Sue hat »Geschichte« erfunden. Kein Wunder übrigens, er war Schiffsarzt und hatte seinen literarischen Ruhm mit See-Abenteuern und Piratengeschichten begründet. Phantasie hat er schon gehabt! Ein interessanter Mann war er obendrein. Er war bekannt für seine Sympathie für die Unterdrückten, so daß er als sozialrevolutionärer Abgeordneter in die 1848er Pariser Nationalversammlung einzog. Es gibt glatte Sympathie-Erweise für Kommunisten bei ihm. Schließlich floh er ins Exil nach Savoyen.

Gut, wenn der Autor also die Figuren der Gerolsteiner samt dem Großherzogtum erfunden hat, dann muß er doch ein Motiv dafür gehabt haben! Natürlich. Aber dieses Motiv heute noch zu ergründen, ist nicht so einfach. Mir ist es jedenfalls bisher nicht gelungen. Man müßte dazu einen Spezialisten der französischen Literaturgeschichte finden, der sich mit eben diesem Herrn Sue befaßt hätte. Vermutlich wird man nie dahinterkommen, wie jener 1804 in Paris geborene Arztsohn Sue dazu kam, seinen Romanhelden aus der Eifel und aus Gerolstein kommen zu lassen. Vermutlich wußte er nicht einmal, daß Gerolstein in der Eifel liegt, denn der Name Eifel kommt nie vor.

Wir sind also auf Vermutungen angewiesen. Der Romanautor braucht einen Namen — und aus weiß Gott welchem Zufall kommt ihm Gerolstein in die Quere. Er macht daraus ein kleines souveränes deutsches Großherzogtum. Dichterische Freiheit nennt man das. Für Paris ist Gerolstein weit weg, im unheimlichen Deutschland. Sauber, gediegen, solide — so muß die Heimat der Helden sein, die in der Unterwelt von Paris bestehen. Gerolstein, das ist so etwas wie »Wölkenkuckucksheim« oder »Dingsda«. Es liegt so unüberprüfbar weit weg, daß man die Geschehnisse glauben kann. Das imaginäre Großherzogtum ist dem Ort der übrigen Ereignisse in eine unbestimmte Ferne entrückt wie auf eine ferne Insel.

Dichter haben dafür Gespür. Auch heute noch. Da läßt Günter Grass in einem neuen Roman sich 1647 die barocken deutschen Dichter treffen (komplette Erfindung!) und wo?, in Telgte bei Münster. Auch so ein Ort. Oder bleiben wir in der Eifel. Nach dem Krieg schrieb der Belgier Ferdinand de Nothomb einen dreiteiligen Roman mit vielen literarischen und politischen Ideen unter dem Titel »Der Prinz von Olzheim«. Da wird ein nie existierendes Fürstentum Olzheim als eine Art Mini-Luxemburg zwischen Deutschland und Belgien bis zur Hitlerzeit beschrieben. Man merkt: das gibt es nicht! Aber der Reiz liegt eben darin, daß sich an erfundenen Tatsachen Dinge klarlegen lassen, die an der Realität schwerer zu verdeutlichen sind. In diesem Sinne können wir Sues Griff zum »Großherzogtum Gerolstein« also als nichts anderes als einen literarischen Kunstgriff deuten.

Und Jacques Offenbach?

Ohne Zweifel hat Offenbach den Stoff seiner Operette von Sues Roman. Der Großherzog Rodolphe de Gerolstein war so in Paris eingeschlagen, daß in einem Textbuch halt daran angeknüpft wurde, diesmal mit einer Grand-Duchesse de Gerolstein, einer Großherzogin. Heute füllt die Operette gelegentlich Programmlükken des Fernsehens. Aber 1867 war sie eine Sensation. Und die Großherzogin von Gerolstein machte als Operettenfigur ein bißchen große Geschichte. Denn die Operette selbst war explosiv — damals. Es war die Stunde Bismarcks. Alle sprachen vom Krieg. Nach dem Geschmack der Zeit ließ man sich in Satiren gegen den Krieg aus; er wird in der Operette lächerlich gemacht. Der Operettenkrieg ist von General Bumm deshalb erklärt worden, weil Baron Puck der Großherzogin eine kleine Zerstreuung schaffen will. Aber nicht nur der Krieg und das Militär wurden gehörig auf den Arm genommen, auch der Absolutismus. Die Großherzogin befördert den Füsilier Fritz zum General, weil sie ihn liebt — und degradiert ihn wieder zum Füsilier, weil Fritz seine Wanda nicht aufgeben will.

Die Operettenhandlung ist nur zum Teil an das Erfolgsbuch von Sue angelehnt und aus Sicherheitsgründen (wegen der Zensur) ins 18. Jahr-hundert zurückverlegt. Vor allem sahen die Experten von damals in der Operette eine unzweideutige Anspielung auf die Verhältnisse in Petersburg, am russischen Zarenhof. Angeblich konnte man die Parallelen geradezu mit Fingern greifen. Kein Wunder, daß sich alle Potentaten Europas, die die Pariser Weltausstellung besuchten, diesen Kunstgenuß nicht entgehen ließen. Napoleon III., König Wilhelm v. Preußen, sein Kronprinz, Bismarck, Moltke, sogar Zar Alexander. Jeden Abend ließ sich eine andere Majestät im Theater und in der Garderobe bei den Künstlern anmelden. Und der Star des Jahres war die Sängerin der Rolle der Großherzogin, die aus Deutschland stammende Hortense Schneider. Sie steigerte sich so in ihre Rolle, daß sie auch außerhalb der Operettenbühne mit den Phantasieorden der Großherzogin herumstolzierte; und als man sie einmal an der Absperrung der Weltausstellung in ein Gelände, das nur Fürsten und Prinzen vorbehalten war, nicht einlassen wollte, rief sie: »Platz da! Ich bin die Großherzogin von Gerolstein!« — und man ließ sie ein.

Literaturangaben:

Eugene Sue: Die Geheimnisse von Paris, bearbeitet von

Francois Fosca. Verlag Jak. Villinger, Wadenswil-Zürich

1944.

Siegfried Kracauer: Pariser Leben — Jacques Offenbach und

seine Zeit, München 1962