Das Wunder vom Mühlenberg

Ein Stück Zeitgeschichte aus den Jahren der Türkenkriege Alois Mayer

Am 2. Januar 1945 zerstörten wenige Zentner tödlichen Sprengstoffes die fast 1 000jährige St. Nikolauskirche in Daun. Wertvolles Kulturgut, unbezahlbare Werte versanken in Schutt und Asche. Im Inneren des Gotteshauses befanden sich neben dem Hauptaltar noch einige Seitenaltäre. Einer davon stand dort, wo heute die St. Josefsfigur ihre schützenden Hände über das Gotteskind Jesu hält. Der reich geschmückte Gabentisch trug den Namen »Marienaltar« und war mit mehreren Stiftungen versehen. Das Alter dieses Altares ist genau bekannt, gab doch eine Inschrift, in Stein gemeißelt, darüber Auskunft: Hoc altare erex. Joh. Balt. Bolen et Gert, nata Zieglein a. 1670 et ren. per vid. El. Bolen nata Nelis a. 1839. (Dieser Altar wurde im Jahre 1670 von Johann Balthasar Bolen und Gertrud, geborene Zieglein, errichtet und im Jahre 1839 durch die Witwe Elisabeth Bolen, geb. Nelis, renoviert.) Früher, kein Lebender erinnert sich daran, hingen über diesem Marienaltar große Ketten aus Eisen. Um diese Eisenfesseln und den Altar rankt sich eine Legende, die Kunde gibt von einem Stück Zeitgeschichte.

Philipp Ernst Herr von und zu Daun war durch freundschaftliche Beziehungen mit dem österreichischen Herrscherhaus verbunden. Absolute Treue hielt der Graf auf seiner Dauner Burg dem kaiserlichen Herren, weshalb er später in den Reichsgrafenstand, auch gültig für Böhmen, erhoben wurde. Für all die Ehre, Lehen und Vergünstigungen, die Graf Philipp Ernst von und zu Daun erhielt, mußte er aber Waffentreue in Notzeiten und Kriegen leisten. 1663 brach der erste von mehreren Türkenkriegen aus. Große Not und Bedrängnis befiel die europäischen Völker, als die Türken raubend und mordend Städte und Dörfer verwüsteten und eine breite Spur des Todes und der Vernichtung hinterließen.

Es war im Sommer 1665, als ein Kurier des Kaisers mit seinem Rappen den steilen Weg zur Dauner Burg heraufpreschte, daß Funken aus den Steinen stoben. Während ein Stallbursche sein naßgeschwitztes Pferd im Burghofe trokkenrieb, betrat der Kurier die große Eingangshalle, ließ sich melden und überreichte dem Grafen Philipp Ernst ein versiegeltes Schreiben des Kaisers, in dem dieser ihn inständig bat, in dem gottlosen Kriege gegen die heidnischen Türken, die bereits tief in den österreichischen Landen wüteten, ihm zur Waffenhilfe zu eilen. Der Dauner Graf zögerte nicht lange, ließ eine Truppe Männer im waffenfähigen Alter zusammenstellen, mit Waffen, Proviant und Pferden ausrüsten und zum Abmarsch bereithalten. Zu diesem Waffendienst gerufen war auch Johann Balthasar Bolen, ein rechtschaffener und wohlangesehener Einwohner der Stadt. Er wohnte mit seiner Familie glücklich am östlichen Abhänge des Burgberges in der Herrenmühle, jenem stolzen Hause, das seine Vorfahren vor über hundert Jahren gekauft und neu erbaut hatten. Wegen seiner Gerechtigkeit und gläubigen Aufrichtigkeit war er überall beliebt und deshalb vom Grafen zum Anführer des kleinen Dauner Söldnertrupps bestellt.

Johann Bolen nahm herzlichen Abschied von seiner Frau Gertrud und seinen Kindern. Viele Tränen weinte seine Lebensgefährtin, und die Kinder klammerten sich an den Vater, wußten sie doch nicht, warum er von ihnen und den klappernden Mühlrädern fortmußte und ob sie ihn jemals wiedersehen würden.

Lange währte schon der Kampf gegen die Türken und schon über ein Jahr waren Johann Bolen und seine Dauner Schar in fremden Landen, wehrten den Angriffen der Christenfeinde und sahen viele Freunde und Feinde sterbend auf den Schlachtfeldern. Von einigen kleinen Wunden abgesehen, -hatte Johann Bolen noch stets Glück und Erfolg. Doch heute war der Kampf besonders heftig. Hin und her wogte das Kampfgetümmel. Rauch und Hitze, Geschrei und aufpeitschendes Trommeln erfüllten die Luft. Bolen hatte Befehl, mit seinen Mannen von der kleinen Anhöhe herab den Türken in die Flanke zu fallen. Stolz saß er auf seinem Pferd, schaute zurück zu seinen Soldaten, die ihren tapferen Anführer sehr liebten, winkte dem Fahnenträger zu, der stolz das Dauner Wappen mit der goldenen Krone hochhielt, gab das Zeichen zum Angriff und galoppierte vorneweg den Hang hinunter. Er bemerkte, wie eine Gruppe Türken, die ihn und seine Schar kommen sah, ihm aufgeregt entgegenstürmte, erblickte noch die Banner mit dem roten Halbmond und die blitzenden Krummsäbel; da stolperte sein Pferd und brach in vollem Lauf zusammen. Mit einem Aufschrei stürzte Bolen in hohem Bogen hart auf den Boden auf und verlor das Bewußtsein.

Als er langsam wieder zur Besinnung kam, wußte er nicht, wie lange er in dunkler Ohnmacht gelegen hatte, wußte auch nicht, wo er sich befand. Es war dunkel, ringsum erkannte er schemenhaft Zelte, glimmende Lagerfeuer, angebundene Pferde, vernahm gröhlendes Lachen und Stimmengewirr. Johann Bolen wollte aufstehen, doch es gelang ihm nicht. Erst jetzt bemerkte er, daß seine Beine mit schweren Eisenketten gefesselt waren, die seine Knöchel wund scheuerten und schmerzten. Tödliches Entsetzen erfaßte ihn. Er war gefangen. In türkischen Händen.

Nun gewahrte er neben sich noch andere weinende und stöhnende Menschen, die das gleiche Schicksal erlitten hatten. Von ihnen erfuhr er, daß die letzte Schiacht zu Ungunsten der Christen ausgegangen war. Die meisten seines Dauner Fähnleins waren den tötenden Krummschwerten zum Opfer gefallen, viele wurden gefangen, der Rest des Christenheeres war geflohen. Trauernd dachte Bolen an seine Landsleute, die mit ihm einen solch weiten Weg des Leidens und der Entbehrungen unternommen hatten, um in fremden Landen für eine gute Sache zu sterben. Tiefe Wehmut befiel ihn, als er an Daun dachte, wo nun aus vielen Häusern Weinen und Klagen zu hören sein würden, als seine Gedanken bei seiner geliebten Frau Gertrud verweilten, die sicherlich viel Arbeit und Sorgen mit seinen Kindern und der Bewirtschaftung ihres Besitzes im Schatten der Burg hätte.

Doch jäh und schmerzhaft wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Die Türken brachen auf. Er und die anderen Gefangenen wurden zusammengekettet und mit Peitschenschlägen fortgetrieben. Tag für Tag, Woche für Woche, hetzte man sie wie Vieh über endlose Weiten, über hohe Berge mit Schnee, durch tiefe steile Schluchten und reißende Fluten immer weiter fort in das Reich der Muselmanen. Viele gefangene Christen hauchten unterwegs ermattet und zerschunden ihr Leben aus.

Die goldene Pracht des Orients, die bunte Vielfalt von Kuppeln, Moscheen und Basars, das Stimmengewirr, die seltsamen Gerüche, die Musik und farbigen Kleider, all das konnte kaum die Aufmerksamkeit von Johann Bolen erregen, der grau geworden und von Leid und Entbehrung gezeichnet nun auf dem türkischen Markte stand, angekettet und zerlumpt, zum Kaufe feilgeboten. Man befühlte und betastete ihn wie man Zugvieh begutachtet, man betrachtete sein Gebiß, handelte, feilschte und wurde einig.

Johann Bolen wurde als Sklave an einen Bauern verkauft, der ihn an einem Strick hinter sich herzog, so wie er das letztens noch mit seinem Esel tat, der ihm eingegangen war. Johann Bolen durchlebte harte, traurige Zeiten. Wie ein Tier mußte er arbeiten, den Pflug ziehen, graben und das Wasserrad drehen. Wie ein Tier schlief er im Stall auf Stroh und wurde selten satt von den Essensabfällen und der dünnen Suppe. Wie ein Tier wurde er behandelt, spürte allzuoft Fußtritte und den Schlagstock seines Besitzers.

Johann Bolen war nicht wiederzuerkennen. Abgemagert, von Krankheit und Elend gezeichnet, geschunden und von Heimweh gepeinigt. Die Gedanken an seine Eifelheimat und an seine liebe Familie am Fuß der Dauner Burg, dort wo die Lieser den Mühlgraben speiste, ließen ihn die vielen langen Monate der Sklaverei erdulden. In Gedanken sah er stets das liebliche Gesicht seiner Frau Gertrud vor sich, wie sie ihn mit Tränenschleier in den Augen beim Abschied zuwinkte. Er sah die Kinder an ihrer Seite, jene nicht verstehend, warum der Vater nicht wiederkomme. Und dann glaubte er stets, ihre Stimmen zu hören, wie sie ihm in Gedanken zuriefen, nicht zu verzagen, nicht aufzugeben, durchzuhalten, fest daran zu glauben, daß das Schicksal sich auch für ihn zum Guten wende. Die Kraft des Gebetes und sein unerschütterlicher Glaube an den, der am Kreuze noch mehr erlitten hatte, gaben ihm in Stunden der Verzweiflung stets Trost und Gewißheit, daß er zumindest im Gespräch mit Gott seiner Familie am nächsten war.

So lag Johann Bolen auch an jenem 5. Dezember nach harter Feldarbeit auf dem klammen Stroh und war mit seinen Gedanken wieder zu Hause. Leise bewegten sich seine Lippen zum Gebet. Er fand Kraft und Festigkeit im Glauben und deutlich war nun im Stalle zu hören: >>. . . und so flehe ich auch zu dir, St. Nikolaus, du guter Freund der Bedrängten und Verfolgten. Heute am Vorabend deines Namenstages bitte ich dich, Mitleid mit mir Betrübtem und Versklavtem zu haben. Du bist der Schutzpatron meiner geliebten Dauner Heimatkirche, die sich so trutzig, stolz und stark über dem Liesertal erhebt. Wie selig wäre ich, wenn ich noch einmal ihr Inneres betrachten und im traulichen Kerzenschein meine Knie vor dem Allerheiligsten beugen dürfte. Ich gelobe, daß ich einen Altar stiften würde, dir und der leidgeprüften Muttergottes zu Ehren. Regelmäßig sollen Gottesdienste an ihm gehalten werden zum Tröste der Unterdrückten und Verzagten. Ständig sollen Kerzen an jenem Altare brennen, um Licht und Wärme zu spenden für all die, die jammern und klagen in diesem Tal der Trauer.«

Tränen liefen über das zerfurchte, gramvolle Gesicht von Johann Bolen. Dann umfing ihn der Schlaf mit all seiner dunklen Gütigkeit. Er drehte sich zur Seite, spürte die scheuernden Ketten und dann war es ihm, als hätte er einen wunderschönen Traum. Er fühlte sich auf einmal so leicht und schwebend, allem Schweren und Schmerzendem entrückt, enge Räume sprengend und Länder, Meere und Berge überquerend. Glocken füllten seine Ohren mit wohltuendem Klange, machten ihn erschauern. Immer lauter wurde das Geläute, und darüber erwachte Johann Bolen. Er öffnete die Augen, das Licht tat ihm weh; er blinzelte und dann war er mit einem Schlage hellwach. . .

Da war nicht mehr der enge dunkle Stall und das feuchte Strohlager. Da gewahrte er duftenden Wald, grüne Wiesen und immer noch Glockenklang. Johann Bohlen richtete sich auf. Er rieb sich die Augen, nicht verstehend, was geschehen. Er glaubte, mit offenen Augen zu träumen. Aber es war kein Traum. Es war bekannte Wirklichkeit. Dort unten erblickte er die murmelnde Lieser talabwärts eilen, drüben rauschte der mächtige Wehrbüsch und er stand hoch aufgerichtet auf dem Mühlenberge gegenüber der alten Dauner Pfarrkirche, von der noch immer mit kräftigem Schalle die Glocken alle Gläubigen zum Gottesdienst zu Ehren des Schutzpatrons, des hl. Nikolaus, riefen. Johann Bolen kniete nieder, dankte inbrünstig dem Himmel und der Muttergottes für seine wundersame Rettung aus türkischer Sklaverei. Dann nahm er die schwere Eisenkette, die von seinen blutunterlaufenen Fußgelenken abgefallen war und folgte dem einladenden Ruf der Glocken, Tränen der Freude in den Augen und bereit, sein Gelübde sofort wahrzumachen. ..

Dem Wahrheitsgehalt nachgespürt

Das Dauner Grafengeschlecht und die wohlangesehene Familie Bolen waren eng verwandt und befreundet mit dem Herrschaftshaus Luxemburg. In Vianden, das im luxemburgischen liegt, gab es den Trinitarier-Orden, der sich der Aufgabe angenommen hatte, mit Hilfe christlicher Spendengelder Gefangene aus türkischer Sklaverei und grausamer Knechtschaft freizukaufen, die sonst unweigerlich zugrunde gegangen wären. Die Dauner erbaten sich die Hilfe dieses Ordens. So wurde der Dauner Johann Bolen aus türkischer Gefangenschaft freigekauft, was für ihn und auch für andere gläubige Menschen durchaus als Wunder anzusehen war. An Zeugnissen wundersamer Errettung von Menschen aus Not und Bedrängnis ist ja auch unsere hochzivilisierte Welt nicht arm.