Unser Dorfkirchlein in Katzwinkel 1810

Peter Koch

Eben senkt sich an einem Wochenende die goldene Sonne dem Westen zu. Abenrot leuchtet über die Höhe am Afelskreuz. Vom nahen Römerturm der Pfarrkirche Uess läuten uralte Glocken den Sonntag ein. Wie auf Engelsflügeln getragen, weht ihr Schall über die Fluren und Täler des oberen Uessbachtales hinüber nach Katzwinkel. Mächtig und erhaben tönt die schwere Donatusglocke. Das bescheidene Kathrinenglöcklein läutet silberklar von unserer Dorfkirche. Es mischt sich mit seiner fast kindlichen Stimme freudig in den Ruf der ehrwürdigen Schwester. In der Natur ist der Abendfrieden eingekehrt. Ich sitze auf einer Ruhebank oberhalb unseres Dorfes. Nur noch vereinzelt hört man Vogelstimmen aus dem nahen Bergwald. Leise säuselt ein lauwarmer Abendwind im Schall der Glocken.

Meine Gedanken irren ab von der Gegenwart weit zurück in die Jahre meiner Kindheit. Unser ehemaliges altes Dorfkirchlein in der Mitte des Ortes habe ich noch deutlich vor Augen. Wer von uns Alten hat dieses graue Kirchlein vergessen? Wohl keiner. Waren es doch unsere Ahnen, die aus tiefgläubiger Frömmigkeit unter ärmlichen Verhältnissen zu Ehren der heiligen Katharina dieses Kirchlein erbaut hatten. Was mag die Kapelle wohl alles erlebt haben, bis sie grau, mürbe und baufällig wurde. 1810 wurde sie erbaut und 1954 war ihre Lebensdauer zu Ende. 144 Jahre — eine lange Zeit. Unsere junge Generation weiß schon nicht mehr, wo sie gestanden hat. Aber für uns Alte ist das kleine Kirchlein unvergessen. Ich kann sie mir noch genau vorstellen, mit ihrem alten grauen Verputz. Auf jeder Längsseite hatte sie zwei Fenster mit bleiverglasten Butzenscheiben. Das Schieferdach mit dem kleinen Glockentürmchen gab unserer Kapelle ein trautes und heimatliches Geborgensein.

 

Im Giebel, welcher fast an der Straßenrinne stand, war die Kirchtüre. Der Fußboden lag tiefer als die Straße. Im Herbst und bei Regenwetter stand das Kirchlein oftmals fußtief unter Wasser. Alte eichene Kirchstühle, je sechs Stück auf jeder Seite. Reihum befanden sich in Mannshöhe die Kreuzwegstationen. Der Boden war mit Naturplatten belegt, welche aus der Gegend von Bongard stammten. Vorne der so schöne Barockaltar mit einer rechteckigen Nische und gedrechselten Säulen. Drei Holzfiguren, die hl. Katharina, die Gottesmuter und der hl. Donatus, zierten den Altar. Oben im Turm das eherne Glöcklein der hl. Katharina, der Schutzpatronin unseres Dorfes.

Früher ging das Betglockläuten monatlich reihum. Wie oft ging ich als kleines Kerlchen an der Hand meiner Mutter mit zum Läuten. Meine noch so kleinen Kinderärmchen gingen wie die Arme der Mutter am Glockenseil auf und nieder. Meine Blicke schweiften durch die Seilluke in der Decke auf das hin und her schwenkende Glöcklein. Die Augen der Mutter sahen gütig in mein mit Sommersprossen übersätes Bubengesicht. Meine flachsblonden Haare turnten übermütig wie das Glöcklein im Turm. Wie viele Katzwinkeler Verstorbene mag ihre Stimme begleitet haben, wenn sie im düsteren Sarg auf einem klapprigen Ackerwagen am Kirchlein vorbeifuhren. Immer war es unser Dorfkirchlein, welches den Dorfbewohnern kund tat: »Gott hat einen von den Unsrigen zu sich gerufen.« Das Glöcklein tönte so traurig und wehmütig, als flehte es um Gnade und Barmherzigkeit für die Seele des Verstorbenen. Dieses Glöcklein mußte 1942 abgegeben werden. Die Kirche selbst überstand beide Weltkriege.

In meinen Kindheitstagen war jeden Monat einmal Messe in unserem Dorf. Außer den Kranken gingen dann alle zur Kirche. Wir Kinder standen im Halbkreis um den Altar, weil die Kirche bis zur Tür gefüllt war. Wenn wir uns auf den harten Steinboden knieten, schmerzten die Kniescheiben, vor allem in der Fastenzeit, wenn jeden Abend im Kirchlein der Rosenkranz gebetet wurde.

Eine wahre Begebenheit habe ich noch gut in Erinnerung. Wie erwähnt befanden sich drei Holzstatuen in dem Kirchlein. Die hl. Katharina links auf dem Altar, in der Mitte der Nische die hl. Gottesmutter mit ihren strengen Gesichtszügen, rechts der hl. Donatus. Dieser Donatus hatte es mir angetan. Obwohl ich schon früh Meßdiener war, ließ meine Bubenfrömmigkeit nach Meinung unseres frommen Pastors Schuster zu wünschen übrig. Ein klein wenig Recht muß ich dem Herrn Johannes Schuster da wohl geben, denn an Bubenstreichen war ich sehr einfallsreich. Eines Abends vor dem Rosenkranz nahm ich mir den hl. Donatus vor. Er stand auf der rechten Seite des Altars mit erhobenem rechten Arm. Seine Hand war halb geschlossen. Früher trug er damit wohl ein Schwert, das er im Laufe der Zeit verloren hatte. In dieser Hand steckte bei Beginn des Rosenkranzes eine krumme, bis fast zur Spitze entglättete Korbweide. Wuchtig wehte Donatus mit seiner Weide im Zugwind des offenen Fensters. Grimmig schauten die drei Heiligen auf den Übeltäter hernieder. Besonders die Gottesmutter schien mir nicht zu verzeihen. Beim Anblick der Tat wurden mir die Knie weich. Auf der Mannsseite herrschte Heiterkeit und großes Gejohle, während auf der Frauenseite Entrüstung und Zorn entstanden. Ich habe damals den Vers aus Schillers »Glokke« begriffen. Wehe wenn sie losgelassen, dann werden Weiber zu Hyänen. Zu meinem Leidwesen war auch noch meine Mutter in der Kirche. Sie kam durch den Gang nach vorne und griff mich zielbewußt aus der Bubenschar. Bis zur Kirchentür war es für mich das reinste Spießrutenlaufen. Nun ging es aber schnell die Dorfstraße hinauf nach Hause.

Jetzt erwartete ich das dicke Ende. Mein Vater war zwar sehr streng, verstand aber auch Humor. Als die Mutter ihm berichtete, was ich wieder angestellt hatte, zog eine heitere Morgenröte über sein Gesicht. Lächelnd nahm er mich auf den Arm und ich mußte ihm versprechen, nie mehr so etwas zu tun. Er nahm die ganze Sache auf die leichte Schulter und ich stand zu meinem Versprechen. Dieses Kindheitserlebnis ist eine schöne Erinnerung an unser altes Dorfkirchlein. 1954 wurde diese kleine Kirche abgerissen. Viele Bürger unseres Dorfes sahen mit wehmütigem Herzen zu.