Modell einer Lebensgemeinschaft

Ein Denkanstoß aus Nerdlen

Marianne Schönberg

Es war ein klarer Tag im Jahre 1966. Das Ehepaar Becker fuhr durch die Eitel mit der Absicht, ein Haus zu kaufen. Vielleicht ein altes, zum Eigenbedarf und mit Möglichkeiten der Gestaltung für drei Kinder. Auf einer Anhöhe zwischen Kelberg und Daun kam der Ort Nerdlen ins Blickfeld, im Hintergrund der Umriß der alten Schule, kompakt, gemütlich, vom baulichen Grundriß und der Substanz ein ansprechender Anblick. Mutter Becker meinte, das wäre etwas für uns. Es wurde wirklich etwas für die Familie, sie kaufte das Haus, aber da mußte viel Umbauarbeit geleistet werden.

Gäste hat die Lebensgemeinschaft Nerdlen oft. Zum Jahresbeginn 1982 brachten die Leute von der Schreinerinnung Daun einen Geldbetrag für die neu zu errichtende Werkstatt. Ilse Becker, die Hausmutter (links) im Gespräch mit Auszubildenden sowie mit Obermeister Leuschen und Berufsschullehrer Assion (rechts).

 Günther Becker, von Beruf Architekt, sah das ganz nüchtern und wies seine Leute darauf hin, daß da Beachtliches geleistet werden muß. Trotzdem sagte jeder ja zu dem Vorhaben. Das Haus wurde in jahrelanger Kleinarbeit renoviert, restauriert, schließlich bezogen. Mit von der Partie war ein behinderter Jugendlicher aus dem Bekanntenkreis. Das sollte Kreise ziehen. Ilse Becker ist gelernte Töpferin. Später kam die Freude am Weben und das Aufarbeiten der Wolle mit zu ihrem Tagewerk. Sie hatte ihren Hauswirtschaftsmeister gemacht und viel Gespür für Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, führte sie auf einen ungewöhnlichen Weg, die Arbeit mit Behinderten. Nicht so am Rande, als Job, eine große Familie sollte es sein, die zusammen lebt und arbeitet, Freuden und Nöte des Alltags gemeinsam meistert.

 Im Jahre 1973 wurde die »Lebensgemeinschaft Nerdlen e. V.« daraus; bei den Beckers lebten bereits mehrere Behinderte. Als 1976 die Jugendherberge Darscheid zum Kauf angeboten wurde, griff die Familie Becker zu. Sie erwarb das Haus, ohne finanzielle Rücklagen, allein auf Bürgschaften aus dem Freundeskreis gestützt. Heute leben, wohnen und arbeiten in Nerdlen und Darscheid elf behinderte Menschen. Ihr Tagesablauf sieht etwa so aus: In jedem Haus wird um 6.30 Uhr geweckt, mit Flötenspiel. Das gemeinsame Kaffeetrinken bringt alle an einen Tisch. Danach stehen Pflanzenlehre oder Tierkunde auf dem Programm. Oft beschäftigt man sich auch mit Legenden, mit altem Volksgut. Gegen 8.30 Uhr beginnt die eigentliche Arbeit und hier hat beinahe jeder seine festen Aufgaben. Oft sind sie ganz gering, aber für den Betreffenden die persönliche Bestätigung, daß er nützlich ist, daß man ihn braucht. Unter fachkundiger Leitung wird bis zum Mittagessen gearbeitet. Der Nachmittag gehört auch häuslichen Pflichten, der Abend persönlichen Gesprächen und der Unterhaltung. Dienstags wird im Haus gesungen, unter fachkundiger Leitung und freitags geht's zum Volkstanz in die Landwirtschaftsschule Daun.

In der großen Stube kommt man zusammen, wenn bei der Lebensgemeinschaft Nerdlen ein Fest stattfindet, ein Vortrag angesetzt ist oder Besucher kommen. Hier hat jeder Behinderte aus der Großfamilie seinen Platz, den persönlichen Bedürfnissen angemessen.

 Als im Dezember 1981 die Werkstatt in Nerdlen verbrannte, wurde es sehr schwierig, allen Bewohnern täglich eine sinnvolle Arbeit zu übertragen. Das Schadensfeuer hatte Webstühle und Spinnräder vernichtet, dazu die bereits fertigen Arbeiten aus der Weihnachtsbestellung. Die Lebensgemeinschaft stand buchstäblich vor einem Trümmerhaufen. Trotzdem ließ man den Mut nicht sinken. Es fanden sich Spender aus den verschiedensten Bevölkerungsgruppen und das wurde mit viel Dankbarkeit aufgenommen. Oft waren es alte, einsame Menschen, die mit ihrem Scherflein Hilfe anboten. Das neue Haus, die Werkstatt, soll bald genehmigt sein und dann erfolgt umgehend der Aufbau. Jeder hilft da mit, so gut er vermag. Es ist besonders wichtig für Behinderte, meint die Hausmutter, wenn sie ihren neuen Arbeitsplatz wachsen sehen. Wenn die Werkstatt in Betrieb genommen wird, gibt's einen »Tag der offenen Tür« für alle Spender. Darauf freut man sich in Nerdlen schon heute.

Warum dieses Haus immer wieder »im Gespräch« ist? Das mag auch seinen Grund in der Geisteshaltung der Familie Becker haben. Sie sind Anthroprosophen; nach der Lehre Rudolf Steiners ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte. Anthropotechnik — Anpassung von Arbeitsbedingungen an die körperlichen und seelischen Eigenschaften des Menschen. Es ist ein Haus, das Achtung verdient. Es lebt aus freier Initiative und dem ganz persönlichen Einsatz einer Familie, ist offen für Behinderte aus der gesamten Bundesrepublik und wer einen Platz bekommt, darf hier zu Hause sein, solange er will. Er darf auch den Lebensabend in Nerdlen verleben und hier sterben. Das ist ungewöhnlich. Alte und Kranke schiebt man in unsrer Gesellschaft vornehmlich ab, auf Pflegestationen, in Altenheime. Nicht so bei der Lebensgemeinschaft. Hier hat alles seine Zeit, das Leben, das Sterben und mittendrin ist der Mensch. Ob man dieses Haus nun bejaht oder ablehnt, nachdenklich stimmt es auf jeden Fall. Ein umstrittenes Projekt, ein Modell?

Ein finnischer Sänger musizierte in Nerdlen, Günter Becker sprach mit dem Künstler in der Vortragspause. Das Nationalepos der Finnen, Kalevala, 1849 von Lönnrot zusammengestellt, wurde in Nerdlen dargeboten und man verstand sich, trotz unterschiedlicher Sprachen.

 

Unser Nächster ist nicht einer, der arm ist

oder krank. Sondern jener, den wir in die

nächste Nähe unseres Herzens vorlassen.

 Und dadurch, sagt Jesus, erfüllt man jenes

Gebot, das alle anderen zusammenfaßt

 und aufwiegt.

         Joe Übelmesser