Das Schicksal einer jüdischen

Familie

Christoph Stehr

Als die Eifel in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in das deutsche und belgische Eisenbahnnetz, eingebunden wurde, erregte Gerolstein über die Grenzen des Kreises Daun hinaus, die Aufmerksamkeit geschäftstüchtiger Kaufleute. Die jüdische Familie Alexander Levy, seit Generationen in Aach bei Trier heimisch, entschloß sich, die vielversprechenden wirtschaftlichen Möglichkeiten des aufblühenden Ortes wahrzunehmen. Im Jahr 1880 ließen sich Alexander Levy (1840 -1920) und seine Frau Helene, geb. Lewy (1836-1921) in Gerolstein nieder. Andere Juden folgten ihrem Beispiel, und sie alle fügten sich rasch in die Dorfgemeinschaft ein. Ihr Beruf, das Gewerbe, lebte vom Umgang mit Menschen, so daß ihnen bald nichts Fremdes mehr in den Augen ihrer zumeist katholischen Mitbürger anhaftete. Pater Josef Böffgen weiß: »Das Verhältnis der Juden in Gerolstein zur christlichen Bevölkerung war ausgesprochen gut.«

Alexander Levys ältester Sohn Nathan (geb. 1870) bezog im Jahr 1900 seinen Neubau Hauptstraße Nr. 35 (heute Bürobedarf Hoffmann), indessen Erdgeschoß er ein Herrenkonfektionsgeschäft einrichtete. Eine enge Freundschaft verband ihn mit der Familie des Polizeiwachtmeisters Wimmer, die sich im ersten Stock des Hauses eingemietet hatte. Um 1908 trat Nathan sein Haus in der Hauptstraße an seine Brüder Lazarus und Heimann ab und erwarb das neuerrichtete Wohn- und Geschäftsgebäude Bahnhofstraße Nr. 35 (heute Handarbeiten Knie). Aber erst mit dem Bau des »Kölner Kaufhauses« (Bahnhofstraße Nr. 12, heute Eisenwaren Kreuz) in den Jahren 1912/13, gelang es ihm, ein Geschäft von beinahe städtischem Zuschnitt in den ländlichen Raum zu verpflanzen. Tatsächlich erinnerten das großzügige Ladenlokal und das breitgefächerte Warenangebot des »Kölner Kaufhauses« an die Tempel des Konsums in Köln.

Seit 1925 stand Nathan Levy der jüdischen Gemeinde Gerolstein vor. Er war verheiratet mit der Jüdin Gertrud Adler aus Zell an der Mosel; ihre Kinder hießen Sebald (geb. 1899), Julius (1902-73) und Rosa. Sebald hielt sich seit 1910 nicht mehr in Gerolstein auf. Nach erfolgreich abgeschlossenen Studien eröffnete er in Köln eine Praxis in Steuer- und Wirtschaftsberatung, die er im Januar 1936 unter dem Druck antisemitischer Verordnungen aufgeben mußte. Zwei Monate darauf wanderte er nach Paraguay aus. Er lebt heute in der Landeshauptstadt Asuncion. Sein Bruder Julius spielte Fußball im SV 1919 Gerolstein, er galt jahrelang als stärkster 100-m-Läufer im Kreis Daun. 1932 fand er Beschäftigung in München, 1936 heiratete er Hanna Leopold aus Honnef. In München wurden sie Zeugen des von der SA gesteuerten Pogroms in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 (»Reichskristallnacht«). Bestürzt über den Haß, der ihnen und ihren Glaubensfreunden entgegenschlug, suchten sie fieberhaft nach einem Weg, Deutschland zu verlassen. Doch als Antwort auf die Geschehnisse vom 9. und 10. November weigerten sich die Staaten in Europa und Übersee, den erneut anschwellenden Strom der Emigranten aufzunehmen. Die Einwanderungsbewilligung einer paraguayischen Behörde, die Sebald dem jungen Ehepaar zugeschickt hatte, verlor ihre Gültigkeit. Trotzdem wagten Julius und Hanna im Januar 1939 die Überfahrt nach Mittelamerika und mit viel Glück fanden sie eine neue Bleibe in Paraguay. Nathan Levys einzige Tochter Rosa heiratete 1925 den Juden Fritz Mansbach aus Bewerrengen/Weser; an ihn fiel die Leitung des »Kölner Kaufhauses«, nachdem Nathan sich aus dem Geschäftsbetrieb zurückgezogen hatte. Herr Mansbach wuchs in die Rolle eines von Juden wie Christen hochgeachteten Bürgers hinein. Jahr für Jahr kleidete er ein Kind aus einer bedürftigen Familie zur Erstkommunion ein. 1929 regierte er als Faschingsprinz das närrische Volk.

 

Alexander und Helene Levy ruhen auf dem Judenfriedhof Gerolstein.

 

Der Sieg des Nationalsozialismus 1933 ließ schwere Jahre für die deutschen Juden erahnen. Aber niemand war auf die unbedingte Gewalt vorbereitet, mit der die Menschen jüdischen Glaubens beraubt, entrechtet, ja vernichtet werden sollten. Die antijüdische Hetze in den Zeitungen versuchte, den Rückhalt der Juden in der christlichen Bevölkerung auszuhöhlen. Bespitzelungen, in Gerolstein niederträchtiges Vergnügen der wenigen bedingungslosen Nationalsozialisten, vergifteten das zwischenmenschliche Klima.

»Arier«, die mit Juden sprachen, waren verdächtig. Pater Josef Böffgen schreibt: »Frau Rosa Mansbach rief einmal auf dem Friedhof Frau Edith Moog zu, sie möge ihr doch etwas Stoffarbe gegen ein paar Eier aufs Grab legen. Selber zu Frau Moog hinzugehen und mit ihr zu sprechen, wagte sie nicht; es hätte beiden Schwierigkeiten bereiten können.« Die Gerolsteiner Juden durften sich der stillen Anteilnahme eines Großteils ihrer christlichen Nachbarn gewiß sein, als sie zusehends von den wenigen Statthaltern des Unrechtsregimes aus der Mitte der Ortsgemeinde ins Abseits gedrängt wurden. Ihre Häuser standen zwar im Ort, doch sie lebten wie außerhalb. Herr Mansbach nahm mehrere Gelegenheiten, außer Landes zu gehen, nicht wahr, weil er seine schwerkranke Schwiegermutter nicht allein ihrem Schicksal überlassen wollte. Finanziell das bestgestellte Mitglied der jüdischen Gemeinde, war er bevorzugtes Ziel häufiger Schikanen seitens Gestapo und NSDAP. Plakate mit der Aufschrift »Kauft nicht bei Juden« warnten auf der Hochbrücke und in der Bahnhofstraße vor dem Besuch des »Kölner Kaufhauses«. Parteiangehörige überwachten den Ladeneingang und notierten die Namen »arischer« Kunden.

Ein Gerolsteiner Bürger behielt die »Höhere Knabenschule Gerolstein«, das heutige St.-Matthias-Gymnasium, als eine Quelle des Judenhasses im Gedächtnis. Welche Demütigungen mußte Mansbachs Sohn Horst, später Siegfried genannt, als Schüler dieser Anstalt hinnehmen, ehe er 1938 vom Unterricht entfernt wurde! Zwei Jahre zuvor war Nathan Levy gezwungen worden, das »Kölner Kaufhaus« an das Parteimitglied Kreuz zu verschleudern. Nach Abschluß des Kaufvertrages verweigerte ihm Herr Kreuz das schriftlich festgehaltene Recht, auch weiterhin im ersten Stock des Hauses wohnen zu dürfen. Nathan befürchtete, über Nacht die Unterkunft zu verlieren und bezog zusammen mit der Familie seines Schwiegersohns das Haus Sarresdorfer Straße Nr. 21, das er von dem Juden Moritz Herz erworben hatte.

Catharina Ockenfels schildert in einem Brief vom 12. Februar 1947, wie man die 1938 erlassene »Verordnung über die Anmeldung des Vermögens der Juden« im Falle der Familie Levy-Mansbach handhabte: »Ihnen wurde von den Nazis gesagt, sie sollten eine Liste vom gesamten Vermögen aufstellen. . . Als sie die Listen eingereicht und natürlich daraufhin alles angaben, ging man hin und beschlagnahmte alles. . . Sogar Bügeleisen, Nähmaschine und Rasierapparat nahm man ihnen ab.«

Die »Reichskristallnacht«, die Einblick gab in die Abgründe der neuen Unmacht, hinterließ in der Erinnerung Nathan Levys untilgbare Spuren: Gegen 21.30 Uhr stürmten SA-Kräfte aus Bitburg das Haus Sarresdorfer Straße Nr. 21. Teppiche, Gemälde, Radio und Kristall fielen ihrer Zerstörungswut zum Opfer. Die im Keller eingesperrte Familie hörte Pistolenschüsse. Nathan Levy und Fritz Mansbach wurden in »Schutzhaft« genommen, am folgenderfTage aber wieder entlassen. Ihr Dasein war illegal und und einsam geworden, den Angehörigen von Partei und SS zum grausamen Spiel. Als der Krieg ausbrach, hungerten sie, denn für ihre Lebensmittelmarken bekamen sie nur Brot, kein Fett, kein Fleisch. Fritz Mansbach hielt auf einer Wiese an der Kyll eine Milchkuh, die der Familie wenig Käse und Butter lieferte. Manche Christen halfen: Frau Weyand, die in der Bahnhofstraße einen bescheidenen Lebensmittelhandel besorgte, gab ebenso wie Bäcker Böffgen Waren an Rosa Mansbach ab, obwohl dieser die nötigen Marken fehlten. Pfarrer Wiebel und Schwester Edmee von der evangelischen Kirche nahmen sich ihrer jüdischen Nachbarn an. Ab dem 19. September 1941 verrichtete Fritz Mansbach Zwangsarbeit in einem Steinbruchbei Hohenfels. Tochter Inge, 15 Jahre alt, wies man in ein Mineralwasserwerk ein.

Nathan Levy, seine Frau Gertrud und deren Schwester Johanna Adler wurden 1942 deportiert; Fritz Mansbach, Frau Rosa und Kinder Horst und Inge am 20. Februar 1943. Allein Pfarrer Wiebel, sieht man von den bewaffneten Polizisten ab, begleitete die Familie Mansbach zum Bahnhof. Catharina Ockenfels:». . .ich und viele Gerolsteiner vergessen nie den Tag, an dem die arme Familie Mansbach von hier fort mußte. Rosa war an dem Nachmittag noch bei mir und erzählte mit sehr aufgeregt, daß ein Freund ihres Mannes soeben verhaftet worden sei und sie befürchte, es käme die Reihe an seine Familie und es war tatsächlich so, als Rosa nach Hause kam, war die Polizei bereits dort und alle vier mußten mit ins Gefängnis. Wir waren am Abendbrot, als die Küchentür aufging und Rosa und Fritz weinend hereinkamen. . . Der Transport, mit dem die Familie Mansbach fort mußte, ging nach Trier, dort nahm man die Kinder den Eltern fort. Das Geld, 50 M durften sie mitnehmen, nahm man ihnen ab. So ging der Zug seinem traurigen Ende entgegen, nach Polen, wo sie vergast wurden«. Familie Mansbach wurde in die Nähe von Lublin verschleppt, dann in die eigentlichen Vernichtungslager. Nathan Levy, Frau Gertrud und Johanna Adler, Fritz Mansbach, Frau Rosa und Kinder Horst und Inge sind umgekommen.

Literatur:

Pater Josef Böffgen, Unsere jüdischen Mitbürger von Gerolstein, Mitteilungsblatt der VG Gerolstein, Gerolstein 1978