Der erste Frost

Lotte Schabacker

Bei allem Respekt für die wunderbare Filigranarbeit, die das Geäst kahler Bäume gegen den Winterhimmel zeichnet, und anderer kalter Spezialitäten wie Baureif und rote Nasen — aber wer wird schon behaupten wollen, die Gegend würde sich nach dem ersten ernsthaften Nachtfrost verschönern? Mit den Garten- und Balkonblumen ist es nun vorbei, klagen die Leute traurig am anderen Morgen. Nein, der erste Frost wird nicht geliebt, dabei hat er eine große kulturelle Aufgabe: Er schafft Klarheit! Wenigstens in der Provinz, auf dem Land, auch in unserer schönen Vulkaneifel! Aus dem Blumenkorso wird nun wieder das Dorf. . .

Wer sich jetzt Zeit nimmt, geruhsam über Land zu fahren, der kann nach hochgestapelt buntem Sommer ein Wiedersehen mit den nunmehr ungeschminkten Dörfern feiern; ich meine, mit jenen kleinen, die baulich wenigstens in ihrem Kern noch bäuerlichen Charakter haben. Denn nun, nach dem ersten Frost, räumen ordentliche Landleute ihr Anwesen auf, lassen all die Behältnisse mit den jetzt vergammelten Blumen verschwinden, die nach sonderbaren Gesichtspunkten während der wärmeren Jahreszeit entlang den Mauern, auf den Höfen und an allen Ecken und Enden herumstanden: alle die kuriosen Bottiche, alten Waschmaschinen, die Steinguttröge und Fässer, in denen vor dem Gefrierzeitalter Bohnen und Sauerkraut überwinterten, die Einkochkessel, die Zinnbadewannen, die ausgedienten Koch- und sonstigen Töpfe und jene Kunststoff- oder Eternitkübel in Barock- oder Diaboloform aus dem Blumencenter, das sich im Dorf etabliert hat, um den eingeredeten Bedarf zu decken aus den fernen Riesentreibhäusern. In denen das herangezogenen wird, was man nach allgemeinem Übereinkommen Balkonblumen heißt: Lebendige Farbtupfer für graue Asphaltlandschaften, wo Erde nur noch in Kästen vorkommt oder auf Friedhöfen!

Was dort ein gutes Geschenk ist, ist hier unlauterer Wettbewerb. Nehmen wir mal stellvertretend für all die kakelbunte Pracht die Geranien mit ihrem fuchsteufelswilden Rot; sie spielen den ganzen Sommer lang Krieg gegen den ehrwürdigen Blumen-Landadel der alten Bauerngärten mit ihren fröhlichen, aber eher sanften Farben, gegen Astern und Löwenmäulchen auf ihren angestammten Plätzen, gegen die schönen Stauden, die noch die Mutter pflanzte, gegen all die Blumen, die sich, eingeschworen auf Boden und Klima, jedes Jahr selbst säen.

Nun ist sie also verschwunden, die prächtige, vorlaute Konkurrenz, die Kirmes ist vorbei, die fremden Federn dahin. Alternde Astern entfalten jetzt schnell noch mal vor dem Winter einen Hauch von Poesie, und die letzte Rose, die überm Zaun hängt, sagt »Ätsch«!