Die Eifler Beerenpflücker

Fritz Jaquemod

Die Älteren von uns erinnern sich wohl, teils mit wehmütigen, teils mit frohen Gefühlen an die Zeit der 20er und 30er Jahre, wenn die Erntezeit zum Beerenpflücken gekommen war. Dann denkt man insbesondere an die damalige Armut in unseren Eifeldörfern. Die Menschen lebten das ganze Jahr in der Hoffnung auf ein gutes Erntejahr. Sie verfolgten tagtäglich das Wetter und freuten sich auf die Erntezeit, um Kellerund Speicher für die Versorgung der Großfamilie aufzufüllen. Für den Tisch des Hauses mußten allerhand Vorräte herangeschafft werden; die lange Zeit des Winters war damals in der Eifel hart.

Den Anfang des Beerenpflückens machten die Kinder während der Heuernte mit wilden, kleinen Erdbeeren, Schulferien gab es zur Heu- und Kartoffelernte. Der Grund dafür war die Arbeitshilfe der Kinder. Setzte z. B. während der Heuernte eine Regenperiode ein, wurden die Ferien unterbrochen. Die Aufgabe des Ferienkindes bestand darin, früh morgens dem Vater, bzw. den Männern draußen in der Wiese den Kaffee zu bringen. Das Mähen mit der Sense begann meist schon um 4 Uhr früh. Solange das Gras noch vom Tau naß war, mähte es sich besser.

In die entleerte Kaffeekanne pflückte der Frühstücksträger die in der Nachbarschaft der Wiese an den Böschungen und Rainen stehenden Erdbeeren. Auf die Waffeln gestreut, schmeckten diese ausgezeichnet. Über die nach Hause gebrachten Beeren freute sich die Mutter. Sie fertigte eine wohlschmeckende Marmelade daraus. Die nächste Saison in Beeren brachten die Waldbeeren so Ende Juni bis Anfang Juli. Scharen von Sammlern gingen morgens mit Eimern, Körben oder Kannen, versorgt mit Butterbroten oder Waffeln nebst einer Flasche Stippkaffee los. Die Anmarschwege betrugen oft bis drei Stunden. Viele Eisenbahnerfamilien aus Gerolstein, bedacht darauf, die etwas schmale Haushaltskasse zu sanieren, schwärmten da aus bis auf die Höhen von Salm, Weidenbach, Oberstadtfeld und Neroth. Zur Bekleidung waren die ältesten Kleider gut genug, die Frauen trugen noch ausschließlich Kopftücher. Das Domizil für Waldbeeren waren Heide- und Ödlandparzellen, gelichtete Buchen- und Kiefernwälder. Wie schwarze Perlen glänzten die Waldbeeren in reichen Mengen an den Sträuchern. Es war schon eine Geduldsarbeit und doch eine wunderbare Befriedigung, nach Feierabend mit gefüllten Behältern nach Hause zu kommen. Manche Handvoll dieser kleinen schwarzen Beeren landete tagsüber im Magen des Pflückers. Auf dem Nachhausewege und bis in den nächsten Tag hinein waren Mund und Zähne schwarz. Daheim in der Küche wurden von der Mutter die Beeren zum Teil zu Marmelade verarbeitet, zum anderen Teil in Flaschen und Gläser eingeweckt. Ganze Reihen präsentierten sich später in Regalen und Schränken für den Jahresbedarf.

Kurz später kam die Himbeerzeit. Gelee, Marmelade und vor allen Dingen der aromatische Saft gaben das Endprodukt für die Küche. Die reichste Ernte spendeten in der Zeit von Mitte September bis Mitte Oktober die Brombeeren. Da volumenreicher, füllten sie auch die mitgebrachten Behälter schneller auf. Dafür machten die Dornen an deren Sträucher um so mehr zu schaffen, so daß es manche Fetzen an Hosen und Strümpfen gab.

Die aus Brombeeren hergestellte Marmelade oder das Gelee ergeben einen besonders gesunden und wohlschmeckenden Brotaufstrich. Auf den vorgenannten Flur- und Waldparzellen und den damals reichlich vorhandenen Gemeinde-Weideländereien war das Wachstum der Brombeeren so üppig, daß die Pflücker in der Vulkaneifel diese Ernte oft unmittelbar vor dem Dorfe vorfanden.

In Familiengruppen, aber meist Frauen und Kinder, ging man damals in diesen Erntezeiten zum Beerenlesen. Manche Familien, denen der Werktag zum Beerensammeln zu schade war, opferten den Sonntag nach dem Besuch der Frühmesse für diesen Zweck. Manch kleiner Schelm hat schon aus Langeweile oder Faulheit sein Eimerchen befuscht, indem er das untere Teil des Eimers mit Moos oder Gras auffüllte.

Waren die Behälter sonst richtig voll, wurden sie mit einem grünen Reisig geschmückt und der oft beschwerliche Heimweg unter Absingen heimischer Volkslieder angetreten. Eine kleine Ballade aus solchem Anlaß:

Holter, di Polter, dä Korv oss voll,

da Hänk, di oss von Eise,

 wän kan oss dä Wach no Jirelsten weise?

Außer für den eigenen Haushalt gingen damals auch eine Anzahl von Familiengruppen täglich hinaus um damit ein paar Mark zu verdienen, um die klägliche Haushaltskasse der Mutter aufzubessern. Zu Fuß, oder später etwas besser Gestellte mit Fahrrad, brachte man so einen Wassereimer voller Beeren nach Daun oder Gerolstein in ein Geschäft oder Hotel bzw. anderweitige Vorbestellung. Der Erlös hiervon betrug nach Jahrespreis etwas verschieden zwischen fünf und acht Mark. Mit den Brombeeren wurde außer Steinobst aus dem Garten die Einmachzeit der Hausfrau abgeschlossen. »Schaaf«, Schränke und Regale waren prall voll gepackt. Büchsen und Dosen kannte man nicht, außerdem hätte dafür keiner Geld ausgegeben.

Noch einige Jahre nach dem Kriege, so bis 1952, waren auf verschiedenen Dörfern Annahmestellen für Beeren eingerichtet. Die Lebensmittelgeschäfte übten diese Funktion aus. Im Laden oder auch im Hausflur stand ein großes Holzfaß oder ein Bottich zur Aufnahme der von den Sammlern gegen Abend gebrachten Beeren zur Verfügung. Mit dem Abwiegen bekam der Sammler vom Händler eine Gutschrift für den späteren Einkauf von Lebensmitteln. Kommenden Tages in der Früh fuhr dann ein Händler mit Lastwagen vor zur Übernahme der Beeren und Weitertransport zu den Markthallen Köln oder Koblenz.

Mit einem wehmütigen Auge blickt man heute dahin zurück, wo in unserer Eifel die Naturlandschaft dominierte. In den letzten Jahrzehnten wurde aber durch Menschenhand eine fast hundertprozentige Umformung zur sogenannten Kulturlandschaft vollzogen. Neben den gravierenden Nachteilen für die Kleintierwelt wurden damit auch viele Voraussetzungen für die Beerenernte im früheren Maßstab zunichte gemacht.