Das Gedicht

Vergessen und doch nicht vergessen

Hans Mühlhaus

Es geschah an einem Altentag. Die Senioren saßen an geschmückten Tischen bei Kaffee und Kuchen. Sie erfreuten sich des Wiedersehens und waren in ihren Gesprächen fast nicht zu unterbrechen. Als jedoch jemand an die gemeinsam verbrachte Schulzeit erinnerte, verstummten die »Tischreden» mehr und mehr, die Anregung wurde einstimmig begrüßt, und viele waren sichtlich bemüht, eine schöne Erinnerung aus längst vergangener Zeit los zu werden. Dabei siegte die Poesie! Die auswendiggelernten Gedichte waren es, die es in sich hatten, solange präsent zu bleiben. Es begann eine Rekapitulation von kleinen Werken der Dichtkunst, die einzeln oder miteinander, manchmal auch nur stückweise, jedoch mit großer Freude und ungeniert, aller Bande ledig vorgetragen wurden.

»Droben stehet die Kapelle«

(Uhland: Die Kapelle)

»Urahne, Großmutter, Mutter und Kind«

(Schwab: Das Gewitter)

»Jehova, dir kund ich auf ewig Hohn, ich bin

der König von Babylon« (Heine: Belsazar)

»Und dräut der Winter noch so sehr«

(Geibel: Hoffnung)

»Lieblich war die Maiennacht«

(Lenau: Der Postillon)

»Als Kaiser Rotbart lobesam«

(Uhland: Schwäbische Kunde)

»Arm am Beutel, krankam Herzen«

(Goethe: Der Schatzgräber)

»Der Pilger, der die Höhen überstiegen«

(Chamisso: Die Kreuzschau)

»Es ist so still, die Heide liegt im warmen Mittagssonnenstrahle«

(Storni: Abseits)

»Fest gemauert in der Erden«

(Schiller: Das Lied von der Glocke).

Aber die höchste Leistung der Stunde begann, als der älteste Teilnehmer der Altentagsrunde aufstand, wie einstens in der Schule, und zu deklamieren begann:

 

Die alte Waschfrau

von Adalbert von Chamisso

 

Du siehst geschäftig bei dem Linnen

die Alte dort in weißem Haar,

die rüstigste der Wäscherinnen

im sechsundsiebenzigsten Jahr.

 So hat sie stets mit sauerm Schweiß

ihr Brot in Ehr und Zucht gegessen

und ausgefüllt mit treuem Fleiß

den Kreis, den Gott ihr zugemessen.

 

Sie hat in ihren jungen Tagen ,

geliebt, gehofft und sich vermählt;

sie hat des Weibes Los getragen,

die Sorgen haben nicht gefehlt,

sie hat den kranken Mann gepflegt;

sie hat drei Kinder ihm geboren;

sie hat ihn in das Grab gelegt

und Glaub' und Hoffnung nicht verloren.

 

Da galts, die Kinder zu ernähren;

sie griff es an mit heiterm Mut;

 sie zog sie auf in Zucht und Ehren,

der Fleiß, die Hoffnung sind ihr Gut.

 Zu suchen ihren Unterhalt,

entließ sie segnend ihre Lieben,

so stand sie nun allein und alt,

 ihr war ihr heitrer Mut geblieben.

 

Sie hat gespart und hat gesonnen

und Flachs gekauft und nachts gewacht,

 den Flachs zu feinem Garn gesponnen,

 das Garn dem Weber hingebracht;

der hats gewebt zu Leinewand.

 Die Schere brauchte sie, die Nadel

und nähte sich mit eigner Hand

ihr Sterbehemde sonder Tadel.

Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, sie schätzt es,

 verwahrts im Schrein am Ehrenplatz;

es ist ihr Erstes und ihr Letztes,

ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz.

 Sie legt es an, des Herren Wort

am Sonntagfrüh sich einzuprägen;

dann legtsie's wohlgefällig fort,

bis sie darin zur Ruh sie legen.

 

Und ich, an meinem Abend, wollte,

ich hätte, diesem Weibe gleich,

erfüllt, was ich erfüllen sollte

 in meinen Grenzen und Bereich;

ich wollt, ich hätte so gewußt

am Kelch des Lebens mich zu laben

und könnt am Ende gleiche Lust

 an meinem Sterbehemde haben.

 

Ein brausender Beifall belohnte den Vortragenden, er hatte das dichterisch wertvolle Kunstwerk würdig aufgesagt. Dabei soll angemerkt sein, daß der Dichter Chamisso ein Franzose war, der in den Wirren der französischen Revolution nach Deutschland floh und bei uns seine zweite Heimat gefunden hat. Er selbst hat dies in einem Dokument, das er nach einer Weltreise als Naturforscher hinterlassen hat, wie folgt bestätigt:

O Deutsche Heimat! woll' ihm nicht versagen

 für diese Liebe nur die eine Bitte:

 Wann müd am Abend seine Augen sinken,

auf deinem Grunde laß den Stein ihn finden,

darunter er zum Schlaf sein Haupt verberge.

»Der Dichter dieser Verse«, so schrieb Prof. Dr. Eduard Engel, »gehört zu unsern deutschesten Menschen«.