Ein Herz für Daun

Lotte Schabacker

Jemand aus unserer Gruppe wollte seinerzeit von dem Baumenschen wissen, wo denn dieses Daun eigentlich genau läge. Mit dieser Frage habe er zuerst, so erklärte der, auch Schwierigkeiten gehabt. Er habe es nicht treffen können! Er wäre die angegebene Strecke immer hin und zurückgefahren, und wenn ersieh dem Flecken dann genähert hätte, wäre er auch schon drüberweg gewesen . . .

Besagten Baumenschen hatte vor rund zwanzig Jahren unsere im Kohlenpott ansässige Behörde beauftragt, am Rande dieses Daun ein Sanatorium großzuziehen; und die Gruppe, das waren jene Leute nebst Anhang, die später dort Patienten betreuen sollten. Um allen Mißverständnissen vorzubeugen: es handelte sich hier nicht um Strafversetzungen, hier war freier Wille am Werk. Was allerdings diese Knappschaftsmenschen zu ihrem sonderbaren Verhalten bewog, ist nie so recht ans Licht gekommen. Sie selbst redeten von Reizklima, frischer Luft und Gesundheit, ihre mitbetroffenen Angehörigen jedoch wurden den Verdacht nicht los, die Auswanderungssüchtigen wollten am Ende der Welt, eben auf einem einsamen Eifelberg, ein neues Leben beginnen. Jedenfalls versuchsweise und auf Zeit.

Ich habe Spielverderber noch nie leiden können und wollte auch selbst keiner sein; das war der einzige Grund, aus dem heraus ich, als Eheweib eines solchen Besessenen, ohne Gezeter mit nach Daun zog. Und einen kleinen Trost gab's selbst hier: Wie man sagt, geht auch nach großen Unglücksfällen das Leben weiter! Zudem stand ja fest: Nach der Pensionierung meines Mannes würden wir wieder in unseren Kohlenpott ziehen, dann würden wir bestimmt gesund genug sein.

Damit das Leben hinter den sieben Bergen — von Essen aus gesehen — auch wirklich weitergehen konnte, mußte Vorsorge getroffen werden. Der Sage nach ließen sich früher immer mal wieder Mutige, die an Expeditionen in Unländer, etwa zu den Polen oder in den Dschungel, teilnahmen, vorher die Zähne ziehen und die Blinddärme herausnehmen. Letzteren war ich zwar schon los, aber auch an mir gab es dies und das zu reparieren und zu renovieren. Mein Arzt tat, was er konnte!

Termine haben es an sich, daß sie näherrücken, ob man sie zum Kuckuck wünscht oder nicht. So auch für mich der Umzug nach Daun. Beim Einrichten unserer neuen Behausung schauten wir, meine Tochter, 13, und ich, immer mal wieder aus den Fenstern. Vorne: Wiesen und Wald. Hinten: Wald und Wiesen. Am nächsten Tag dasselbe. Am dritten auch. Dann rief mich die Tochter aufgekratzt ans Kinderzimmerfenster und deutete auf einen Punkt am Waldrand: »Guck mal, ein Mensch!« Der Mensch war keine Fata Morgana. Es kamen nach und nach mehrere von ihnen, einzeln oder in Gruppen, um sich die Unterkünfte der Fremdlinge hier oben anzusehen. Und das war ihr gutes Recht! Die Eifel gehörte ihnen — nicht uns. Noch nicht!

Aus obigem geht hervor, daß wir dieses Daun von unserem Domizil aus gar nicht sehen konnten, dafür mußten wir an den Rand unseres Berges treten, der Rosenberg genannt wurde, weshalb, weiß der Kuckuck, die Rosen nämlich pflanzten erst wir an.

Wenn wir unsere Besucher an besagten Bergrand führten, um ihnen Daun vorzuzeigen, riefen sie aus: »Wie reizend!« Oder auch: »Bezaubernd!« Wir machten dann: »Naja!« oder auch: »Ach ja!« Es dauerte aber gar nicht lange, bis wir einen gewissen Stolz auf dieses Städtchen entwickelten, so etwa, als hätten wir es höchstpersönlich entdeckt. Wie etwa Seefahrer früher Inseln fanden! Und gewiß suchte ein uns unbewußtes archaisches Gefühl schon einen Platz, auf dem wir unsere Fahne hissen konnten. (Vonwegen Fahne! Um das mal klarzustellen: Eine hier allseitig anerkannte wäre höchstens die des Eifelvereins gewesen!)

In der Tat gab dieses Daun, von oben gesehen, einen wunderhübschen Anblick ab, wie es sich da so gemütlich in ein Tal kuschelte, beschützt ringsum von Bergen, die zum Teil in alten Zeiten mal Feuer gespuckt hatten, nun aber eher wirkten wie betuliche Tanten, die gutmütig ihrer Aufsichtspflicht nachkommen. Aparterweise hatte sich in der Mitte des Tales ein kleiner Vulkan etabliert, den das Städtchen nun wie Efeu umrankte, und dem es vertrauensvoll ein Kirchlein auf den Kopf gesetzt hatte. Seinerzeit hätten da mal die Grafen von Daun gelebt, erfuhren wir. Na ja, auf einem Berg von Format hauste ja früher immer irgendwer!

In der ersten Zeit unseres Eifellebens hielten wir uns Daun, wie sich andere Leute ein Schoßhündchen leisten: Es war ulkig, ein Luxus, aber zu nichts nutze! Ohne Nutzen unser Daun auch da, wofür Städte sonst gut sind: Zum Einkaufen! Zwar ließ sich die Lebensmittelversorgung hier gut an, aber für den Erwerb von Kleidungsstükken und Haushaltsdingen, die über die Größe etwa eines Handfegers hinausgingen, mußten wir natürlich in unsere alte Heimat fahren, oder doch wenigstens nach Koblenz oder Trier. Das betrieben wir, bis ich mir eines Tages eine ganz besondere Jacke wünschte. Wir stellten also wie üblich eine Liste auf mit dem Gedöns, das wir sonst noch brauchten, damit sich die große Fahrt auch lohnte; die, was besagte Jacke anging, ein totaler Reinfall wurde. Die fand ich hinterher in einem Schaufenster in Daun; und das andere Gedöns hätten wir auch hier bekommen können, merkten wir. — Heute kommen unsere Kinder aus dem Kohlenpott angefahren und machen mit Vorliebe und aus gutem Grund ihre Einkäufe in unserem Städtchen. Autos inclusive.

Die Sache mit der Zeitung ging ähnlich aus. Längere Zeit ließen wir uns unser Essener Blatt nachsenden. Schließlich stellten wir fest, daß die Hiesigen, was die Weltläufte anging, auch nicht dümmer waren als wir. Dagegen wußten wir, wo es in Essen gebrannt hatte und in Bochum neue Einbahnstraßen gab. Wo es aber in Daun gebrannt hatte und in Trier neue Einbahnstraßen gab, wußten wir nicht! Das störte uns allmählich. Als wir dann auch noch fatalerweise verpaßten, auf eine wichtige Todesanzeige in der hiesigen Zeitung zu reagieren, wurden wir kurzentschlossen unserem Essener Blatt untreu und stiegen auf Trier um. Irgendwie war das Umbestellen der Zeitung für uns sowas wie ein nochmaliger, aber diesmal innerer Umzug — wir waren nun wirklich Dauner.

Die ersten echten Dauner, die ich hier näher kennenlernte, traf ich kurz nach unserem Umzug im Wald. Ein älteres Ehepaar, das da geruhsam vor sich hinging. Und das exakt so ländlichbieder wirkte, wie ich mir die Eingeborenen vorgestellt hatte, und das ich deshalb ansprach. Sie waren ganz reizend, die beiden, aber aus Daun waren sie nicht, sondern aus Berlin! — Auch das Umgekehrte passierte. Wir trafen auf Menschen, die mitsamt ihren Ahnen hier geboren waren und jederzeit auf Düsseldorfs Kö gute Figur gemacht hätten, eine bessere jedenfalls als manche Düsseldorfer. Hier gab's keine Regeln.

Man sagt den Eifelern allerlei bemerkenswerte Eigenheiten nach, die sicherlich auch mit der Geschichte dieses Grenzlandes zu tun haben. Nachzulesen etwa bei Clara Viebig, Alfred Andersch oder auch in den Dauner Jahrbüchern. Aber erstens hat jede andere Stammbevölkerung ebenfalls ihre Besonderheiten, und zweitens war der berühmte Sack Salz, den man der Sage nach mit »Eingeborenen« erst essen muß, ehe man akzeptiert wird, hier überflüssig. Im Schnitt fanden wir uns inmitten eines freundlichen Menschenschlages wieder — sofern auch wir freundlich waren. Eine gute Grundlage für's Heimischwerden. Selbst dann, wenn wir auch heute noch immer mal wieder bei Gesprächen mit Einheimischen »Bahnhof« verstehen, denn die hier üblichen Dialekte sind für die meisten Auswärtigen sowas wie Chinesisch. Und das ist nun wirklich etwas Ausgefallenes!

Ein paar Krisen allerdings blieben unserer netten Beziehung zu Daun nicht erspart. Nicht wahr, das kann man ja verstehen: Wir hatten uns — nach anfänglichen Vorbehalten, aber dann umso heftiger — in ein Ministädtchen verliebt. Mit der Betonung auf mini! Und was tat das Ding nun? Es begann sich auszubreiten, aufzublähen, die Berghänge hinaufzuklettern, es ließ sich mit der deutschen Wehrmacht ein, entpuppte sich als eine eingebildete Kreisstadt und brütete Zentren aus, riß sich die umliegenden Dörfer unter den Nagel, siedelte sowas wie Industrie an, lockte Urlauber an mit Kneipp-Kuren und dem alten Trick »Kommt alle her, weil es so schön einsam hier ist«, neue Stadtviertel entstanden, in den alten wurden um- und ausgebaut . ..

Das war ja gar nicht mehr unser Ministädtchen, das war die Höhe!

Doch es dauerte nicht lange, da hatte unsere Bequemlichkeit uns wieder eingeholt: Wo mehr Menschen sind, da gibt es mehr Lokale, mehr Steuerberater, mehr Konsumgüterauswahl, mehr Unterhaltung, mehr Fachärzte, mehr Konkurrenz, ein größeres Krankenhaus, sogar eine neue Ampel! Wie praktisch das alles! Außerdem: Man kann kein Ding am Wachsen hindern, ohne es zu verunstalten, keinen Grashalm, kein Tier, keinen Menschen und eben auch kein Städtchen!

Als schließlich die oben erwähnte Pensionierung heranzog, suchten und fanden wir eine neue Wohnung. In Daun! Irgend etwas hinderte uns daran, den ehemaligen Plan einer Rücksiedlung in den Kohlenpott überhaupt ernsthaft zu diskutieren: Das waren ganz sicher die Wurzeln, die wir hier inzwischen geschlagen hatten!

Das Gewissen ist eine Uhr, die immer

richtig geht; nur wir gehen manchmal

falsch.

                    Erich Kästner 1899-1974