Wenn der Holunder blüht

Hans Mühlhaus

Im Juli, wenn die Zeit des sommerlichen Blühens ihren Höhepunkt erreicht hat, entfaltet der Schwarze Holunder (Sambucus nigra) als letzter Wildstrauch im Dorfbild der Eifel seine weißen Blütenschirme und umweht mit aromatischem Duft Haus und Hof.

Als alter heiliger Baum aus frühgeschichtlicher Zeit sowie als Spender natürlicher Heilmittel, genießt er immer noch eine stille Verehrung. Er war als wundervoller Baum der Göttin Freia geweiht, die im Märchen als Frau Holle weiterlebt in unsere Tage hinein. Ihr Name—es liegt nahe anzunehmen — übertrug sich auf, den Holunder, den Hollerbusch, den Baum der Frau Holle. Sie war die holde Fee, die das Haus beschirmte, das Brot buk, die Kinder überwachte, für Ordnung sorgte und den Fleiß belohnte.

Die Etymologen deuten das Wort Holunder, Nebenform Holder, ahd. holuntar, holtbar als hohler Baum, d. h. seine Zweige sind mit weißem Mark gefüllt und lassen sich leicht aushöhlen und werden von der Jugend gebraucht, um daraus Knallbüchsen und Wasserspritzen zu machen.

Wegen der erstaunlich vielen Heilkräfte, die in allen Teilen dieses Großstrauches oder Baumes enthalten sind, hat man den Schwarzen Holunder des »Herrgotts Hausapotheke« genannt. Besonders geschätzt waren die dunkelgrünen Fiederblätter, die weißen Blütchen der großen Scheindolden und der rote Holundersaft, den die schwarzen Beeren lieferten. Ein erquickender Labetrunk!

Unsere Ahnen kannten noch die heilenden Kräfte der Natur. Sie wußten, aus Holunderblättern und Holunderblüten Tee zu bereiten, der das Blut reinigt und das Fieber herabsetzt. Sie verstanden es auch, aus den schwarzen Beeren des Holunders den roten Saft zu gewinnen, ihn als Hausmittel aufzubewahren und bei Erkältungskrankheiten zum Wohle des Kranken einzusetzen. »Vor dem Holunder« so sagten sie, »den Hut herunter«!

Auch heute noch kennt das Volk seinen Holunder, es sagt von ihm: »Der Holunder wächst wie ein Wunder.« Wie kommt das? Ganz sicher, weil er bei uns heimisch ist, unseren Boden und unser Klima verträgt und sich selber weiterpflanzt. Für das kleine Bißchen Fleisch um den winzigen Kern des schwarzen Holunderbeerchens trägt ein Vogel ihn weiter, scheidet das unverdaute Kernlein aus und bald keimt und wächst ein neues Holunderchen empor zum Licht. Wir finden es überall: unter Hecken, an den Rändern der Mauern, auf schattigen und auf sonnigen Stellen. Das schnellwüchsige Holz wächst über Nacht unbekümmert drauflos. Es macht Spaß, seine Wuchsfreudigkeit zu erleben. Bald hängen die Zweige in eleganter Bogenform nach unten, die Blätter bilden eine schirmförmige Krone, und aus ihr brechen die weißen Blütenteller hervor und verwandeln den Baum zu einem weithin leuchtenden Blütenstrauß. Ein malerischer Anblick, der auch im Volkslied ein Lob findet:

»Rosestock, Holderblüh, wenn i' mei Dirnderl sieh, lacht mir vor lauter Freud 's Herzerl im Leib!«

Sicher gehört der Holunder zu den wilden Gesellen, die einst ganze Bergrücken zu einem »Lunderich« machten. Für diesen Wildwuchs kann er keinen Freibrief bekommen, aber dennoch hat er es verdient, daß wir ihm wohlgesonnen bleiben. Er war dereinst der einzige Zierstrauch in der Nähe des Bauernhauses. Unter ihm stand die Bank für den Feierabend. In seinem Schatten spielten die Kinder, und in seinen Zweigen tummelten sich die Vögel und erfreuten durch den Zauber ihrer Lieder. Ein Idyll, das erhalten bleiben sollte.

Ein Holunder im Hausbereich müßte möglich sein, zumal er ein immerwährender Freudenspender ist, der jedes Jahr wiederkommt, auch nach dem strengsten Winter.

Wenn er im Sommer, geschmückt mit den stattlichen Blütentalern, dasteht, gleicht er der Goldmarie des Märchens, die von der Frau Holle reich belohnt wird für ihren Fleiß, ihre Treue und ihr kindliches Herz.