Vor 15 Jahren in und um Kerpen

»Dort läßt sich glücklich leben«, schrieb Neußer Zeitung 1968

Heinz Ohletz +

Das vierspurige Vorwärtswüten mit kilometerberauschtem Tacho — ein Schluck Kaffee im Sausewind hinterm Steuer — und das Ziel, ein überfüllter Parkplatz inklusive Kurtaxe, Sonnenbrand und Mehrwertsteuer: Diese Reize für robuste PS-Hengste in der Hauptreisesaison sind entbehrlich, wenn man genügend Erfahrungen und nervlich hinreichend Federn gelassen hat. Schon seit geraumer Zeit gleitet der Traum meiner Urlaubsreisen auf Schienen, sacht und entspannend.

Man vergleiche nur die hektische Betriebsamkeit einer Autobahnraststätte beispielsweise mit der malerischen D-Zug-Station Jünkerath/Eifel, wo die Diesellok auf ihrer Strecke von Köln nach Trier mit der langen Wagenreihe in einer Waldschlucht hält und die Aussteigenden an den Fingern einer Hand abzuzählen sind. Hier steht ein Bahnhof wie aus der Spielzeugschachtel. Hier stehen noch Mauern aus römischer Zeit, als Trier Kaiserstadt war und Ausonius das Land an der Mosella besang.

Wer nach Kerpen will, dessen Burg der Kreis Grevenbroich soeben aufkaufte und künftig vorzugsweise als Landschulheim betreibt, steigt hier in Jünkerath in einen weinroten Schienenbus um und läßt sich 20 Minuten lang vier Stationen behaglich weiterbefördern. Diese Art des Reisens läßt nicht erst das Ziel genießen, sondern schon den Weg dorthin: Die stille Bahnstrecke windet sich hinter Hillesheim — dem zentralen Amtssitz von 14 Dorfgemeinden — in großen Bögen an Felswänden entlang und um Hügel herum, nimmt sich Zeit wie in heiterem Spiel; schon lange vorher grüßt von ferne zuerst linker Hand der trutzige Burgturm von Kerpen herüber, über die Schwingungen der Felder und Weiden; kurz darauf taucht der Burgberg an der anderen Seite auf, verschwindet aufs neue hinter einer Kuppe, — es ist wie beim Hasen und dem Swinegel.

Im übrigen werden die Bahnstationen immer kleiner, stiller. Im Burgdorf Kerpen, mitten in der wunderbaren Hohen Eifel, ist der Mini-Bahnhof — wie alle seine kleinen Brüder auf der Nebenstrecke zwischen Hillesheim und Ahrhütte/ Dümpelfeld — zwar noch offiziell ein Bahnhof, weil vorschriftsmäßig »Bahnanlage mit mindestens einer Weiche«, aber seit etlichen Jahren mangels Masse nicht mehr besetzt; Fahrscheine werden im Zug gelöst; das Gras wächst, von keinem Bahninspektor zurückgewiesen, auf dem anspruchslosen kleinen Bahnsteig-Kai und respektiert nur jene Stelle, die mit Hilfe staatlich aufgetragener Asche dem Ansturm der Natur noch standhält.

Diese Bahnhöfchen sehen alle gleich aus (schon die Preußen verstanden sich aufs Rationelle). Die Dienstwohnung — im ersten Stock — ist allerdings noch von einem Eisenbahner belegt: Er sägt soeben im ehemaligen Dienstraum des Parterre an Brettern. — Böcke für einen Modelleisenbahntisch meiner Kinder. — Man spricht miteinander, man hat Zeit. Ans Auto erinnert nur der Kfz-Schein, der sich zufällig in der Reisebrieftasche mit durchgemogelt hat in den Urlaub.

Eine neue Art gesundheitsförderndes Reisens: mit den Koffern zugleich die Fahrräder aufzugeben. Die Fahrräder kommen in Hillesheim an, zwischen Jünkerath und Kerpen. Ein familiärer Betrieb. Alles läuft hier planvoll. Herzinfarkt ist ein Fremdwort. Man unterhält sich im Güterschuppen, während die Räder in Empfang genommen werden, übers Wetter und über die fernen Groß- und Hauptstädte. Das Filmplakat »Dr. Schiwago« hängt schon seit Mai überzählig im heimeligen Empfangsraum. »Aber heute ist Markt in Hillesheim«, erfahren wir und sind erfreut.

Markt in Hillesheim — an einem solchen Tag einmal innerhalb von zwei Wochen wird der Amtssitz mit seinen malerischen Überresten seiner alten Stadtbefestigung zum Treffpunkt der Bauern, Händler und Hausfrauen aus der Umgebung, die hier sogar die Wahl zwischen zwei Cafes haben. Auf einem baumumstandenen Platz quieken feilgehaltene Ferkel aus offenen Lkw, Kisten und Pkw-Kofferkasten. Und am anderen Ende des Städtchens hat sich auf einem zweiten, baumdämmrigen Platz das Rindvieh versammelt in mehreren Gernerationen. Und genau dazwischen, in der Mitte des Ortes, sind an Post und Ladenecke Stände mit Kochtöpfen, Sommerblusen und Hustenbonbons aufgestellt.

Mit den Rädern dann von Hillesheim über Berndorf nach Kerpen, im lustigen auf und ab der Straße. Im Kerpener »Burghof« stehen sie neben dem Traktor und warten auf weiteren Einsatz: Prachtvolle Straßen für Pedale gibt es hier — nach Niederehe braucht man kaum zu treten. Niederehe mit seiner rührend-würdigen Prämonstratenserkirche. Und weiter in Richtung Heyroth, einen fischreichen Bach entlang, der mit den Fahrrädern um die Wette läuft und wo sonst nur noch Waldhöhen und Himmel sind. Im Gasthof bei Manstein, dem Kerpener Ortsvorsteher, geben selbst die Toilettenfensterchen den Blick auf die Burg frei, deren Geschichte ihre tiefen Wurzel streckt bis in die Kreuzzüge hinein und weiter zurück noch bis zum römischen »Karpina«, lateinisch: Hainbuche. Da oben hängen Sträucher mit wilden Stachelbeeren von den Mauern herab, und an den Steilwegen und Wiesenhängen hat die Natur einen kilometerlangen bunten Blumenmarkt aufgemacht.

»Wie geht's?« Fragt freundlich Kaufmann Jacob Wirtz in seinem Alles-zu-haben-Geschäft und reicht seine Hand freundlich über die Theke. Schon ein neues Römergrab entdeckt? Neue Muschel — oder Krebsversteinerung aus der Devonzeit gefunden? Übrigens brauchten wir ein paar Strümpfe, Größe zwo. Kaufmann Wirtz, Menschenfreund, Heimatforscher und Kontaktmann für die öffentliche Denkmalpflege, kann mit allem dienen.

Viele Winkel und Perspektiven von Kerpen und seiner lebendigen Landschaft hat der Eifelmaler Professor Fritz von Wille in farbenflammenden Gemälden festgehalten. Er liegt oben auf dem Burghügel begraben unter einem riesigen, zeigefingerförmigen Findling. Auf der Burg hat er bis zu seinem Tode Anfang der 40er Jahre zahlreiche Sommer verbracht und in vielen Bildern den Bergfried mit Pinsel und Palette gefeiert, auch die kletternden Wege mit dem anbrandenden, leuchtenden Mohn, wenn der Sommer all seine Pracht verschwendet. Vorbei führt die sauber ausgebaute Dorfstraße an Kerpens Posthalter März, der ebensoviele ausgestopfte Waldvögel und Iltisse sein eigen nennt, wie er farbige Briefmarken parat hält. Im Schalterraum fordert soeben ein älterer Mann für seine kranke Ehegefährtin einen Arzt in Hillesheim an. Posthalter März regelt den Hausbesuch am Telefon: »Ja, sie hat Fieber! Heute abend kommt der Herr Doktor? Danke, ich werd's ausrichten.«

Hier in Kerpen ist alles sympathisch familiär. Sogar den Kälbern kann man durch geöffnete Stalltüren auf den Rücken blicken, wenn man die Dorfstraße entlang geht und beispielsweise auf dem Weg zum »Weinberg« ist, an dem die Prähistoriker herumrätseln und der Schloßmeister roten Marmor bricht. Der Ortskundige weiß in einer engen Waldmulde am Weg eine verschwiegene Quelle: Auf zwei flachen Feldsteinen kniet man sich nieder und schöpft das aus dem Boden quillende Wasser aus der hohlen Hand.

Ein paar hundert Meter weiter, an hohen Tannenkulissen und Wiesenmatten vorbei, taucht der sacht ansteigende Weg in einen herrlichen, hohen scheinbar unendlichen Wald, der erst vor Wiesdorf endet. Hier wachsen Pfifferlinge, haben Wildschweinrotten ihre Spuren hinterlassen, gleiten schattenhaft stumpfköpfige Molche durch dunkle Wasserstreifen, hallen manchmal Axtschläge durch die weite Stille. Wer nach Mirbach weiterwandert, entdeckt in der Kapelle die schönsten Mosaiken weit und breit.

In Berndorf Richtung Hillesheim, steht neben dem Gotteshaus der Pfarre erhöht die weltbekannte Wehrkirche. — Und wer über den fuchse- und rehreichen Waldrücken im Süden Kerpens geht, entdeckt ein Dörfchen, versteckt wie am Ende der Welt: Loogh, dessen Kapellchen mit seinen naiv geschnitzten 14 Nothelfern und dem zerfransten Glockenseil eines der ärmsten sein mag, aber in seiner rührenden Bescheidenheit auch von so tiefwirkender Kraft. Eine winzige Insel völliger Ruhe.

Glückliches, beneidenswertes Land! Nicht nur, weil im benachbarten Nohn ganz abseits des Ortes auf einer Höhe mitten zwischen duftenden Kiefern der wohl romantischste Kirmes- und Schützenplatz an Webers romantische Oper-Szenerie erinnert. Nicht nur, weil hinterm Hang der Niedereher Wacholderheide der Wasserfall Dreimühlen so versteckt rauscht, daß es von besonderem Reiz ist, ihn zu entdecken. Die Luft hier und das Brot schmecken anders als anderswo. Und aus welcher Richtung man auch wandermüde nach Kerpen zurückkehren mag: Weit vorher grüßt der hohe Turm der Burg wie ein freundlicher Wirt, derauf seine Gäste wartet.

... und dann: die Verbrüderung

Bisher glaubte man, die Langstreckenläufer von Mexiko 68 hätten den längsten Atem. Man muß über Bergheim - Kommern - Ahrhütte - Hillesheim ins Eifeler Burgdorf Kerpen zur Eröffnung des neuen Landschulheims des Kreises Grevenbroich fahren, um staunend zu erfahren, daß der längste Atem vom Blasorchester »Harmonie« aus Feusdorf/Jünkerath kommt: Die 28 jungen Männer, die sich für diesen Tag Urlaub genommen hatten, begannen kurz vor 15 Uhr auf der höchsten Terrasse der Burg festlich zu blasen, daß noch Marie und Rosa auf ihrem angestammten Hof am Dorfausgang, in Stall und Küche wirkend, die Klänge auf eine Distanz von etlichen hundert Metern hören konnten, und das bei Gegenwind.

Und sie bliesen im Festsaal bei Manstein weiter, unter extremen Luftdruckbedingungen von »Ei-felfeuer« und Tabakrauch; sie bliesen — angefeuert durch ihren Dirigenten Friesen — bis kurz vor 21 Uhr; und dann mußten sie noch die letzten Gäste aus dem Landkreis Grevenbroich, die sich mit der Theke verschwistert hatten, zusammenblasen, weil die Wartenden in den Bussen bereits das Lied angestimmt hatten: »Wir wären so gerne noch geblie — hie — hie — ben, a — ber der Wa — gen, der rollt?«

Da kommt man in ein Dorf von 450 Einwohnern und wundert sich über den Schwung. Hedwig Manstein und ihre Helferinnen brachten 189 Kaffeegedecke auf die Tische und zwei Stunden später 165 Abendessen und zwischendurch 750 Gläser. Es wurde eine Verbrüderungsfeier. Nicht nur, daß SPD- und CDU-Abgeordnete aus dem Kreis Grevenbroich auf einmal an gastlicher Stätte eine »Kerpener Fraktion« bildeten; Eifel und linker Niederrhein erwiesen sich bei freundlichen Pröstchen als eine Einheit wie zu Zeiten der Römer. Rektoren gingen aus sich heraus und forderten Schulräte auf, die Last des Amtes zu vergessen. Mandatsträger führten mit Nachbarn unbefangene kommunalpolitische Gespräche. Und der Chor der Kreisverwaltung, verstärkt durch den Personalrat, sang am Tresen besser als vor der Burg. Kurzum: Es wimmelte von Gemütlichkeit und Sympathiekundgebungen. Der Kollege von der Eifeler Presse, auf seine schwere Aufgabe als Alleinredakteur angesprochen, bemerkte denn auch lauthals lachend: »Ihr habt ja keinen Sinn für Einsamkeit...« Kerpens Ortsvorsteher Walter Manstein, an dieser Stätte übrigens auch Gastwirt in Personalunion, mußte bei seiner Saalrede einmal pausen, um dem Beifall Spielraum zu lassen, als er im Hinblick auf das künftige Leben im neuen Landschulheim Burg Kerpen spitzbübisch erklärte: »Ich bitte die Lehrpersonen vor allem, den Schülern durch weise Beschränkung des Lehrstoffes genügend Zeit zum Erholen und Entdecken zu lassen.« Er weiß, wie das ist. Er hat nämlich selbst Kinder.

Als die Busse sich am späten Abend in Bewegung setzten mit all den Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vom linken Niederrhein, klang es fröhlich aus heiser gewordenen Kehlen! »Wir wollen zu Land' ausfahren«, Lieder von Vätern, die zum ersten und zum letzten Mal Vorfahrt hatten. Denn nun kommen die Kinder dran! Und die im Dunkeln hockende Burg auf dem Höhnberg blinzelte den fröhlichen Erwachsenen mit zwei beleuchteten Fensteraugen wie eine weise Eule verständnisvoll nach .. .