Das Märchen vom Löwenzahn

Erich Mertes, Kolverath

Vor langer, langer Zeit, als die Tiere noch sprechen konnten, da lebten alle Löwen in Löwental mitten im Urwald. Der mächtigste von allen Löwen hatte eine besonders lange Mähne und hieß Leu. Er war mit einer Löwin verheiratet, und beide hatten ein Löwenbaby.

Am liebsten wäre Löwenbaby auch schon mit auf die Jagd gegangen, aber es durfte noch nicht. Manchmal lief es einfach hinterher. Dann schimpfte der Löwenpapa, und Löwenbaby brüllte und lief böse wieder heim.

»Das werden wir ja sehen«, knurrte es trotzig. »Ihr werdet euch wundern. Ich bin nicht mehr zu klein. Was ihr könnt, kann ich auch — und noch mehr. Ich gehe allein los und zerreiße das größte Tier, das mir über den Weg läuft. Da werdet ihr staunen, wenn ich mit der Beute heimkomme, und ihr werdet zusammenlaufen und mirzujubeln, und ich werde der berühmteste aller Löwen sein.« Also faßte Löwenbaby den Plan, bei nächster Gelegenheit von zu Hause wegzulaufen.

Eines Tages, als der alte Leu und die Löwenmama wieder links im Urwald nach Beute jagten, schlich sich Klein-Löwenbaby heimlich nach rechts in die andere Richtung. »Wenn mich bloß keiner sieht«, dachte es bei sich und lief immer weiter und weiter, mitten durch den Urwald, bis an das andere Ende, dort wo die Wüste anfängt. Furchtbar heiß ist es in der Wüste. Es gibt keinen Schatten, kein Wasser, nur Sonne und Sand und Hitze, Hitze, glühende Hitze. Löwenbaby hatte keinerlei Erfahrung mit Wüsten und ahnte nicht, daß es ins Verderben lief.

Die Sonne war schon untergegangen, als der Löwe und die Löwin von der Jagd heimkehrten. Sie waren müde, denn der Tag war heiß gewesen und sie hatten nichts zur Strecke gebracht. Vor ihrer Hütte blieb die Löwin plötzlich stehen. Was war das? Die Tür stand ja weit offen! Irgend etwas war geschehen. »Huuuh«, brüllte sie ganz laut, nur um sich Mut zu machen. Doch es rührte sich nichts. Wo war Löwenbaby? Sonst sprang es ihnen immer entgegen. »Brüll doch mit, Löwe«, fauchte sie ihn an, »und steh nicht wie ein Esel herum, du siehst doch, es ist was passiert.« »Was soll schon passiert sein«, entgegnete der alte Leu, »der Bengel treibt sich sicher wieder herum. Du wirst sehen, er wird gleich kommen.« Und dann brüllte der mächtige Löwe dreimal kurz: »Rho — rho — rho.«

Aber Löwenbaby kam nicht. Wo war es? Was war ihm zugestoßen? Spät in der Nacht noch weckten die beiden ihre Nachbarlöwen. Nur ein alter Löwe hatte beobachtet, wie gegen Mittag Löwenbaby heimlich nach rechts in den Urwald davongelaufen war.

»Der Bengel wird nicht weit gekommen sein«, meinte Löwenpapa. »Sicher hat er sich verlaufen und ist draußen eingeschlafen. Wir werden ihn morgen bei Sonnenaufgang suchen.« Sie waren am anderen Morgen noch nicht weit gegangen, da entdeckten sie auch schon die Spur von Löwenbaby. Sie führte schnurstracks in den Urwald und mitten hindurch, bis an den Rand der Wüste. »Allmächtiger Löwengott«, heulte die Löwin auf, »das nimmt bestimmt kein gutes Ende.« »Los, wir müssen weiter«, sagte Löwenpapa. Aber auch ihm war jetzt nicht mehr wohl zumute. So liefen sie also weiter, immer den Fußstapfen nach, die Klein-Löwenbaby in den Wüstensand getreten hatte.

Wie weit sie gelaufen waren, wußten beide nicht mehr zu sagen. Die Sonne stand schon längst über Mittag, da sahen sie in den Lüften die Aasgeier kreisen. » Das ist das Zeichen des Todes «, schrie die Löwin auf. »Wo Aas ist, da sammeln sich die Geier.« Und die beiden rannten, so schnell sie die Beine trugen und schrien und brüllten, daß die Aasgeier sich schleunigst aus dem Staube machten.

Löwenzahn-Blume (sogen, wegen der gezahnten Blätter).

An der Stelle, über der die Todesvögel gekreist hatten, fanden sie den Flecken, wo Löwenbaby umgekommen war. Bis zuletzt hatte es noch tapfer um sein Leben gekämpft, man sah es an den Kampfspuren. Der Sand war ringsum aufgewühlt und hatte sich von Blut rot gefärbt. Von Löwenbaby selbst aber fanden sie nichts. Die Aasgeier hatten es mit Haut und Haaren und allen Knochen aufgefressen.

Traurig wollten sich beide schon wieder auf den Heimweg machen, als sie im Sand etwas Weißes glitzern sahen. Es war ein einzelner Zahn von Löwenbaby, den die Aasgeier nicht gefunden hatten. Behutsam hoben sie ihn auf und trugen ihn heim.

Zu Hause riefen sie alle Löwen zusammen und erzählten ihnen, was geschehen war. Dann nahmen sie den Zahn von Löwenbaby und begruben ihn in der Erde. Da konnte sich Löwenmama nicht mehr halten und fing an zu schluchzen und zu weinen. Und weil Löwen so etwas nicht mit ansehen können, weinten sie alle mit. Dicke Löwentränen kullerten ihnen an der Nase entlang herunter zu Boden, daß die Erde ganz feucht wurde.

Niemand weiß heute mehr genau, wie es sich zugetragen hat. Aus der Erde, in der sie den Löwenzahn begraben und mit Tränen getränkt hatten, wuchs ein merkwürdiges gelbes Blümlein empor — seine Blätter waren gezahnt. Deshalb gab man jener Blume den Namen Löwenzahn. Sie blüht alle Jahre einmal im Frühling bis auf den heutigen Tag. Aber nur bei strahlendem Sonnenschein wagt sich das Löwenzahnköpfchen ganz hervor. Sobald dunkle Schatten den Himmel verfinstern, schließt es sich ängstlich wieder zusammen.

Und Jahr für Jahr, nachdem die Blume ausgeblüht hat, kommt ein Pustewind und trägt ihre Frucht weiter am Wegrand fort, denn es geht die Sage, sie suche noch immer den Heimweg nach Löwental. Und wenn sie ihn eines Tages finden und dort ankommen wird, dann soll wieder ein richtiger Löwe aus ihr werden. — Inzwischen aber sind der alte Löwe Leu und die Löwenmama längst gestorben . . .

 

Nicht das, was du besitzt,

sondern was du mit dem

Nächstenteilst, macht dich reich.

Russische Weisheit

Verzichtet auf die Worte, die um so besser

klingen, je leerer sie sind. Ihr werdet die

Welt nicht mit Schlagworten heilen.

Raoul Follereau