»Wenn mein Liebchen Hochzeit macht . . .«

Ein alter Volksbrauch im Aussterben?

Franz Josef Ferber

Drum prüfe, wer sich ewig bindet,

ob sich das Herz zum Herzen findet.

F. v. Schiller

Was sollte es wohl zu bedeuten haben, wenn man eines guten Morgens aufstand und auf dem Dach eines Hauses eine Lumpenpuppe in Menschengröße erblicken konnte? Vorweg gesagt, es handelte sich um einen alten Brauch, der in der Eitel weitverbreitet war und seit Generationen gepflegt wurde. Wrede (Eifeler Volkskunde) hat ihn kurz beschrieben. Am Beispiel eines Dorfes in der Verbandsgemeinde Kelberg soll dieser Volksbrauch dargestellt werden.

Es ist gewiß keine Erscheinung der Neuzeit, daß dann und wann Liebesverhältnisse zerbrechen. Das war schon früher so. Und wenn der eine Partner dann das Glück hatte, von beiden als erster unter die Haube zu kommen, d.h. sich zu verheiraten, dann hatte der andere eben den harmlosen Schabernack mit der Puppe zu erdulden.

Das ging so vor sich: Die Jungen und Mädchen des Dorfes, in dem der oder die »Hinterbliebene« wohnte, bastelten eine Lumpenpuppe (Mann bzw. Frau). Dabei bemühten sie sich, ihr das Aussehen des verlorenen Liebhabers (der Liebhaberin) zu geben, was hier und da auch gelang. Die Arbeit selbst mußte, was verständlich ist, im geheimen getan werden, um den Erfolg nicht von vornherein zu gefährden. In der Hillichnacht (Polterabend) des Altschatzes wurde die Puppe seinem oder seiner früheren Geliebten aufs Hausdach gesetzt und ordentlich befestigt, damit ihr der Wind nichts anzuhaben vermochte. Am anderen Morgen war es dann so weit. Die Dorfjugend — und nicht nur sie! — konnte ihren Spaß gehörig genießen. Man kann sich leicht vorstellen, wie groß die Heiterkeit war, wenn die Dorfleute die Puppe auf dem Dach wahrnahmen. Die Erheiterung bezog sich zumeist auf die Nichtbeteiligten. Die unmittelbar Betroffenen waren von dem Scherz nicht immer erbaut; ihre Reaktionen waren recht verschieden, je nachdem, wieviel Spaß sie verstanden und wie groß der innere Abstand zum Altschatz mittlerweile geworden war.

Lange ist es her, daß eines sonntags morgens Zeduschens Kaspa seine Ersatzgeliebte auf dem Dach seines Elternhauses vorfand. Jedoch, er ertrug es, wie so vieles, mit Humor. Er nahm in aller Herrgottsfrühe seine Maräi-Kätt vom Dach herunter, entzündete auf dem Hauspäsch ein mächtiges Feuer, um das er, seine Lumpenfrau eng umschlungen, herumtanzte. Dann legte er sie behutsam ins Feuer. Das Rauch- und Flammenopfer begleitete Kaspa mit seiner Ziehharmonika. Die Bewohner des Nachbardorfes, die bei ihrem Kirchgang das nicht gerade alltägliche Schauspiel beobachteten, waren von dem feierlichen Akt ergriffen; die Älteren von ihnen wissen heute noch davon zu erzählen.

Schäwwenimms Lissje dagegen amüsierte sich weniger über den Besuch, den ihr ihr Exverlob-ter Hein eines sonntags morgens — es war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg — machte. Und daß Hein, der an seinem etwas zu lang geratenen Hals gut zu erkennen war, sich ausgerechnet auf den Schornstein setzen mußte, wo alle Kirchgänger ihn sahen, war für Lissje besonders ärgerlich. Eigentlich hatte Bruder Hannes als erster den ungebetenen Gast bemerkt; denn der offene Schornstein, der voller Schinken hing, wollte den Dampf einfach nicht durchlassen, den Hannes beim Feuermachen entfachte. So blieb Hannes nichts anderes übrig, als dem Übel auf den Grund zu gehen. Für seine Mühe, den langen Hein vom Schornstein herunterzubuckeln, wurde er reichlich belohnt. Es bereitete ihm offensichtlich Vergnügen, seine Schwester den ganzen Tag über schimpfend und nörgelnd durchs Haus laufen zu sehen. Sein erster Kommentar zu dem für ihn freudigen Ereignis: »Lissje, komm' mal schnell her, die Liebe winkt!« Etwa um dieselbe Zeit ist es gewesen, als Änni ihren Freier, der sich heimlich aus dem Staub gemacht hatte, auf dem First ihres väterlichen Hauses begrüßten konnte. Es war der Barbier aus Hausen; man erkannte ihn an seinen Markenzeichen, den Kämmen und Scheren, die man ihm um den Hals gehängt hatte. Änni schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, sie ärgerte sich auch nicht. Wozu auch? Mittlerweile hatte sich ein neuer solider Freier eingefunden, der ihr als Lebensgefährte ein gut Teil liebenswerter erschien und der ihre Heiratserwartungen nicht enttäuschte.

Ähnlich reagierte Kättchen. Auch sie zeigte keinen Ärger oder Unmut, als der Joseph, ihr früherer Liebhaber aus dem Nachbardorf, eines guten Morgens vom Dach herunterschaute. Joseph saß sehr selbstbewußt da oben, umgeben von Schornsteinen und Hochspannungsdrähten. Und es machte ihm auch nichts aus, daß sich die Spatzen auf seinen Schultern ausruhten.

Und schließlich: Auch der Verfasser dieses Beitrages (es wäre unredlich, dies zu verschweigen) teilte einmal das Schicksal mit Kaspa, Lissje, Änni und Kättchen; er war das letzte »Opfer« dieses hübschen Brauchtumsscherzes. Die Ersatzbraut hatte allerdings weitaus mehr Geduld als die echte. Fast ein Jahr lang saß Magda majestätisch auf der Giebelspitze und weigerte sich, herunterzukommen. Der Wind schob sie einmal auf die eine und ein andermal auf die andere Seite des Scheunendaches. Doch eines Tages war sie den Kampf mit den Naturmächten leid; sie gab ihren Widerstand auf. Die Befestigungskordel hatte der Witterung nicht mehr standhalten können. Magda fiel vom hohen Giebel herunter, und die Kinder des Dorfes nahmen sie bereitwillig in ihre Spielgemeinschaft auf. Sie zogen mit der fremden Tante singend und jubelnd durchs Dorf. Die Leute hatten ihre Freude daran.

Foto: Albert Leuwer, Stadtkyll

                                                          Puppe in Stadtkyll 1982.

Seitdem wurde in diesem kleinen Dorf nie mehr eine Dachpuppe gesehen. Inzwischen sind über zwanzig Jahre vergangen. Viele schöne alte Volksbräuche der Eifel sind vergessen; sie existieren allenfalls noch in der Heimatliteratur. Der geradezu herzerfrischende Brauch, von dem hier die Rede ist, ist — jedenfalls im Kreis Daun — Gottlob noch nicht überall in Vergessenheit geraten, er wird da und dort noch gepflegt. Vielleicht tragen diese Zeilen dazu bei, daß er dort, wo er »eingeschlafen« ist, wieder lebendig wird. Schön wäre es!