Oberförster Simon Wolf

Dem Nothelfer im Winterwald und dem Retter der

Eichenbestände im Darscheider Forst gewidmet

Hans Mühlhaus, Darscheid

Der Winter 1962 auf 63 zeigte sich von seiner strengsten Seite. Seit November lag ununterbrochen hoher Schnee, und die Bäume glitzerten in Reif und Eis. Das Thermometer zeigte im Freien auf minus 18 Grad. An einem Nachmittag im Januar stapfte der Förster Wolf in den Waldweg nach Freiderath

einen frischen Pfad in den 30 cm hohen Schnee. Es war Pulverschnee, weich wie Wolle, wunderbar weiß, der in der Sonne blinkte und blitzte. Eine zierliche Spur wie Filigranstiche lief aus dem Wiesental herauf, an der schneeverhüllten Hekke vorbei, über den Weg, hinein in den Wald — es war die Spur einer Maus. Unter der Schneedecke war Eis; es knisterte, wenn die Schuhsohlen es zertraten. Der Mann im grünen Rock blieb stehen und klopfte mit seinem Stock niedrige Sträucher blank, »damit die Hasen Äsung und Unterschlupf finden«, sagte er vor sich hin.

Der Winter malt in zarten Farben. Aus dem Weiß erheben sich mit Schnee angewehte Bäume wie Schemen. Die Fichten sind so beladen, daß ihr natürliches Grün nur am Rande ein wenig hervortritt. Nur in der Mittagsstunde vergoldet die Sonne den Berghang. — Es geht sich schwer. Wo es bergan in den Buchenwald führt, gibt es eine Verschnaufpause. Das tut auch den kleinen Dackelhunden gut. Ihr Haar hängt voll Schnee und Eisklümpchen. Sie hecheln mit heraushängender Zunge. Wie wohl tut die Winterluft! Man spürt keine Kälte mehr. Bis zu den Fingerspitzen dringt Wärme. Ein Wohlbehagen beglückt.

Fuchsspuren führen zwischen den Bäumen hindurch. Füchse haben jetzt gute Zeit. Wo soll das Häschen hin? Es gibt kein Versteckspielen, solange Schnee liegt. Die Rehe werden durch den Hunger geschwächt und sind leichter zu hetzen und zu überlisten. Da, an der Grenze von Laub- und Nadelwald, führt ein Rehwechsel entlang. Die Fährten sind deutlich anzusprechen. Neben einem Schalenabdruck hängt ein braunrotes Pünktchen im Schnee. Es ist Schweiß, vermutlich von einer Verletzung des kleinen Sprunggelenks an der scharfen Eisdecke. »Hier ist wohl die richtige Stelle«, meint der Förster und packt seinen Heusack aus. An mehrere Bäume bindet er in Kniehöhe Heubündel fest, zupft sie locker und bindet Fichtenäste als kleine Schutzschirme darüber.

 

Im Walde werfen die Bäume lange Schatten über den weißen Boden. Wo keine Sonne hinkommt, wird es merklich kühl, und das Weiß des Schnees verliert sich in einem zartblauen Farbton. Beim Abstieg zum kleinen Bachlauf liegen starke Schneeverwehungen. Die kleinen Hunde werden im Heusack verstaut, bis auf der anderen Seite der Hang wieder erstiegen ist. Die jungen Fichten auf Freiderath sind zu Schneepyramiden geworden. Das Rehwild kann nichts mehr finden, womit es seinen Hunger stillen könnte.

»Die Brombeeren auf dem Kahlschlag sind total vereist«, konstatiert der Forstmann mit leiser Stimme, und dabei scharrt er mit den Stiefeln Schnee unter den Randfichten fort, solange bis Heidekraut frei wird, und das wiederholt er schier unermüdlich.

Den Höhenweg überqueren dauernd Fuchsspuren von rechts nach links und von links nach rechts. Eine Spur endet in einem Schneelager, wo Meister Reineke sich die Mittagssonne auf den vollen Balg scheinen ließ. Neben einer anderen Spur läuft im gleichen Abstand ein Strich durch den Schnee. Er stammt von einer Beute, die der listige Räuber im Fang trug, um sie im Walde allein in Sicherheit zu verzehren.

Rechts des Weges breitet sich ein dichter Fichtenbestand aus, durch den eine schmale Schneise hinführt zur großen Futterstelle. Auch hier, im geschlossenen Dunkel des Nadelholzes, ist der Boden weiß, und der Schnee knirscht bei jedem Schritt. Unerwartet erhebt sich zwischen den schlanken Fichtenstämmchen das Futtergestell, eine überdachte Raufe mit Futtertrog. Der Trog ist leer, aber die Raufe birgt noch gutes duftendes Heu. Der Förster entleert seinen Rucksack und schüttet Eicheln, Maiskörner, Kraftfutter, Hafer und getrocknete Birnen in den Trog. Auch auf den Boden, wo die Wildwechsel von allen Seiten zu der Futterstelle ankommen, wirft er Futter hin, damit das Wild die Scheu verliert. An den Fährten erkennt man die Besucher, es sind Rehe und Hirsche. Wenn sie die bittere Notzeit überstehen, so verdanken sie es einzig und allein der Futterstelle, die sachgemäß an einer stillen, hochgelegenen und windgeschützten Stelle angelegt ist und regelmäßig neues Futter erhält.

Der Weg heimwärts führt zunächst durch die gleiche Schneise zurück, damit das Wild nicht unnötig gestört wird, biegt dann im weiten Bogen um den vermutlichen Wildeinstand, durch lichten Hochwald, der sich nach Westen in einem Waldgürtel von Strauchwerk und jungen Tannen verliert. Blutrot steht die Abendsonne am Horizont. Ihre Strahlen blitzen durch sperriges Astwerk und glühen in den langen Eiszapfen, die am Waldrand von den Fichtenästen herabhängen.

Der Weidmann stopft seine Pfeife. Er trägt keine Last mehr auf dem Rücken; denn im leeren Rucksack steckt nur der leere Heusack. Das Pfeifchen schmeckt jetzt besonders gut, und das Gefühl, dem Wild, seinem Wild in seinem Revier, geholfen zu haben, erfreut sein Gemüt. Morgen gehts zur Futterstelle auf dem Hüttenberg, übermorgen nach Thommen . . . Jeden Tag muß er Not lindern. Ja, es war Notzeit im Winterwald trotz aller schneeweißen Pracht und Herrlichkeit.

Das ist des Jägers Ehrenschild,

daß er beschützt und hegt sein Wild,

weidmännisch jagt

— wie 's sich gehört —

den Schöpfer im Geschöpfe ehrt.

                                  (Riesenthal)

Dieser alte Weidmannsspruch ist dem jungen Simon Wolf schon in frühen Jahren zum Wahlspruch seines Lebens geworden. Kein Wunder, denn das Elternhaus weckte tagtäglich das Interesse und die Liebe zum heimischen Walde und zu allem, was darin kreucht und fleucht. So wuchs er in den Forstdienst hinein und wurde der getreue Verwalter eines Wald-Areals von 1 300 ha, das 13 Eifelgemeinden gehörte. Hier galt es, für alle der zuverlässige Garant zu sein, der auch in schwerer Zeit, der Kriegs- und besonders der Nachkriegszeit, nicht enttäuschte. Nach Kriegsende bestimmten die Siegermächte über den Waldbestand im Grenzgebiet der Eifel. Langholzfahrzeuge, hoch beladen mit Stammholz, rollten gen Westen. Niemand konnte das verhindern; niemand konnte sich der Besatzungsmacht in den Weg stellen; niemand konnte die Gemeinden vor dem Verlust schützen. In dieser Zeit hatte Oberförster S. Wolf den Mut, die wertvollen Eichenbestände seines Reviers nicht vorzuzeigen. Das war zwar ein sehr rühmliches, aber auch ein äußerst riskantes Wagnis! Es glückte, vielleicht auch nur deshalb, weil es in aller Stille geschah. Erst 1951, als sich die Rechtsverhältnisse wieder eingelotet hatten und die Darscheider wieder die drei im Kriege requirierten Kirchenglocken ersetzen wollten, wurde es allen bewußt, daß nur die Existenz der geretteten Eichen des Hüttenberges den Wunsch nach neuen Glocken erfüllen konnte.

Obf. Wolf ließ 26 Eichen fällen, 250jährige borkige Riesen, Könige des Hüttenberges! Sie waren der Preis für drei neue Stahlglocken aus Bochum. Wenn sie heute zusammen mit der alten Korneliusglocke im schönen Per omnia saecula saeculorum-Motiv (f - äs - b - c) über das Dorf läuten, wäre es gut, sich an das mutige Wagnis des verstorbenen Oberförsters in Dankbarkeit zu erinnern.