Abschied vom Internat

Das Dauner Schülerheim wurde aufgelöst Horst Grethen, Daun

Im Sommer 1983 ging für Stadt und Landkreis Daun und weit darüber hinaus für die gesamte Region von Eifel, Hunsrück, Mosel und Saar ein Stück Schulgeschichte zu Ende: Das Internat des Thomas-Morus-Gymnasiums schloß seine Pforten, nachdem es 25 Jahre lang Wohn- und Lebensraum vieler Generationen von Schülern gewesen ist. Ohne dieses Schülerheim hätten sie — wenn überhaupt — dann nur unter kaum zumutbaren Bedingungen eine Höhere Schule besuchen können. Zeitweise wohnten hier über 200 Jungen, und viele Dauner werden die Erfahrung gemacht haben, daß man in Bernkastel, Hermeskeil, Merzig oder Trier mit dem Namen ihrer Stadt in erster Linie sicherlich die Maare, aber sehr oft auch die Existenz des Internates verband.

Wie hatte alles angefangen? Das Schlagwort vom »Bildungsnotstand« beherrschte die kulturpolitische Diskussion der späten 50er und 60er Jahre. Aufgeschreckt von Pädagogen und Wissenschaftlern, befürchteten die Politiker, daß die Bundesrepublik dabei sei, zu einem kulturellen und technologischen Notstandsgebiet innerhalb der führenden Industrienationen zu werden. Schulen und Universitäten wurden neu gegründet, Lehrpläne und Studienordnungen reformiert. Für die Kinder weiter Teile der Bevölkerung, vor allem aus Bauern- und Arbeiterfamilien, war der Besuch eines Gymnasiums noch die Ausnahme. Durch Erhöhung der Abiturientenzahlen versuchte man der »Bildungskatastrophe« — so der Pädagoge Georg Picht—zu entgehen. Mangelnde Durchlässigkeit der verschiedenen Schulformen und — besonders in ländlichen Gebieten — die schlechten Verkehrsbedingungen stellten dabei besondere Probleme dar. Hier lagen die entscheidenden Aufgaben der Aufbaugymnasien.

Sie waren eine Sonderform der Höheren Schule und in Rheinland-Pfalz schon sehr bald nach dem Krieg — häufig durch Ausbau der sogenannten Pädagogien — gegründet worden. Mit Blick auf die Chancengleichheit sollten begabte Schüler nach einer Aufnahmeprüfung die Möglichkeit erhalten, auch noch nach der 7. und 8. Klasse der damaligen Volksschule auf ein Gymnasium überzuwechseln und dann in 6 Jahren Abitur zu machen. Weil die Aufbaugymnasien jeweils für einen größeren Einzugsbereich gedacht waren, mußten sie mit einem Internat verbunden sein. Außer in Daun bestanden Aufbaugymnasien in Alzey, Boppard, Kaiserslautern, Münstermaifeld, Neuerburg und Wittlich.

Man mag heute angesichts der großen Zahl akademisch ausgebildeter Arbeitsloser die damaligen bildungspolitischen Entscheidungen kritischer beurteilen, für die ländlichen Gebiete und ihre durchweg nicht mit Reichtümern gesegnete Bevölkerung haben die Aufbaugymnasien mit ihren finanziell besonders geförderten und daher ungewöhnlich preisgünstigen Internaten begabten jungen Menschen unbestritten die entscheidende Chance zu einer Lebensgestaltung gegeben, die ihren Anlagen und Fähigkeiten entsprach. Viele Absolventen dieser Schulen sind nach Studium und Ausbildung in ihre Heimat zurückgekehrt und arbeiten als Ärzte, Lehrer, Geistliche, Ingenieure oder Juristen unter uns.

Die Dauner Internatsschüler wohnten in den beiden ersten Jahren 1958/59 im Sommer in der ehemaligen Landwirtschaftsschule neben der Kreissparkasse und im Winter im damaligen Kaufmannserholungsheim, dem jetzigen »Parkhotel Liesertal«. Die späteren vier Internatsgebäude im Schulgelände wurden in den Jahren 1961 bis 1968 errichtet.

Die Internatsgebäude beim TMG Daun. Foto: Helmut Klassmann

Das Internat hat das mit ihm verbundene Aufbaugymnasium Daun lange Jahre geprägt; zeitweilig beherbergte es mehr als die Hälfte seiner Schüler. Die veränderten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die in den 70er Jahren unserem gesamten Schul- und Ausbildungssystem ein neues Gesicht gegeben haben, beeinflußten bald auch die Lebensbedingungen des Internates: Die Zahl der Gymnasien im Land stieg, für den Schülertransport wurden bessere Möglichkeiten geschaffen, die Werbung für den Besuch der Gymnasien wirkte sich allmählich voll aus, und viele Eltern schickten jetzt ihre Kinder möglichst früh auf eine weiterführende Schule. Die Ausbildungshilfe (BAFöG) wurde neu geregelt und für Schüler verbessert und die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schulformen erweitert. Aber auch ein weithin veränderter Erziehungsstil, der zunehmend die Elternhäuser prägte, die stärker und früher einsetzende Forderung junger Menschen nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters ließen bei vielen Schülern die Bereitschaft und bald auch die Fähigkeit schwinden, sich einem Gemeinschaftsleben, wie es der Internatsalltag forderte, zu stellen. Die oft harten Auseinandersetzungen zwischen »Bewahren« und »Gewähren«, die in diesen Jahren zwischen den Generationen geführt wurden, kennzeichneten auch das Internatsleben.

1973 wurde das Aufbaugymnasium in ein »Gymnasium in Langform« umgewandelt. Von diesem Zeitpunkt an nahmen Schule und Internat im Rahmen des Dauner Schulversuchs »Kooperative Gesamtschule« Schüler bereits ab Klasse 7 und ab 1980 — nach Auflösung der Gemeinsamen Orientierungsstufe (GOS) — ab Klasse 5 in einer eigenen Orientierungsstufe auf. Seit 1975 trägt die Schule den Namen »Thomas-Morus-Gymnasium«.

Die Einführung der »Mainzer Studienstufe« 1974 brachte für den Oberstufenschüler einen stark individuell geprägten Stunden- und Studienplan mit sich. Die Hausordnung des Internates mußte geändert werden. Schulleitung und pädagogische Mitarbeiter waren bemüht, den veränderten Umständen Rechnung zu tragen, indem sie überlegt und in beharrlichem Gespräch mit den betroffenen Schülern das Leben im Haus auf eine größere Selbstverantwortung des Einzelnen stellten, sehr wohl wissend, daß damit auch das Risiko eines Mißbrauchs der Freiheit größer wurde.

Seit Sextaner und Quintaner Zimmer und Fluren bevölkerten, ging es im Internat unüberhörbar geräuschvoller, aber wohl auch ein Stück lebendiger und froher zu. Jedoch tauchte in den letzten Jahren ein Problem auf, das bislang keine sehr große Rolle gespielt hatte: die Zahl der Kinder, die aus belasteten Familienverhältnissen kamen, nahm zu. Diese jungen Menschen hatten oft schon ungute Erfahrungen mit Erwachsenen hinter sich, als sie in eine Hausgemeinschaft eintraten, die auf ein bestimmtes Maß an sozialen Fähigkeiten angewiesen war. Die damit verbundene tagtägliche pädagogische und mitmenschliche Kleinarbeit der Mitarbeiter des Hauses, die nicht selten auch noch vergeblich war, wird nur einer bewerten können, der selbst einmal auf einem solch steinigen Acker gearbeitet hat.

Das »Aus« für das Dauner Internat kam mit der finanziellen und allgemeinen wirtschaftlichen Krise unserer Tage. Seit 1980 wurden keine neuen Schüler mehr aufgenommen, obwohl es an Nachfragen nicht gefehlt hat. Engagierte Versuche der Betroffenen, das Heim zu erhalten, konnten letztlich die Schließung des Hauses nur kurzfristig hinauszögern, aber nicht abwenden. Der Landkreis Daun erklärte sich allerdings bereit, das Internat so lange bestehen zu lassen, bis jeder Schüler einen organischen Schulabschluß gefunden hatte. Mit Ende des Schuljahres 1982/83 hat der letzte Schüler das Internat verlassen.

Die Heimleiter

1958/59

Hermann Bücker

1959/60

Hans Eisenhauer

1960/61

Dr. Eberhard Pfeiffer

1961 - 1972

Nikolaus Föhr

1972 - 1978

Horst Grethen

1978 - 1980

Peter Richarts

1980 - 1983

Margarethe Honadel

Die Heimerzieher

1960 -1983

Margarethe Honadel

1971 -1981

Hans Potberg

Fast jeder von uns hat seine fest Vorstellung von dem, was ein Internat ist, wie es in ihm zugeht und wozu es dienen soll. Die Palette reicht von »Einrichtung für Kinder begüterter oder einflußreicher Eltern« bis »Anstalt für Schwererziehbare«. Vorurteile und verallgemeinerte Einzelerfahrungen gehen hier durcheinander. Mit am häufigsten wird wohl das Internat als Ersatz für ein mißlungenes Familienleben angesehen, und genau das konnte und wollte das Dauner Internat niemals sein. Es war von Anfang an ausdrücklich konzipiert für eine enge Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und hatte Rücksicht zu nehmen auf seine soziale Struktur, seine Lebensform, seine Wertempfindungen und — soweit vertretbar — seine Erziehungsvorstellungen.

Das Eigentümliche und Wertvolle, das ein zeitweiliges Leben in einer Internatsgemeinschaft ausmachen konnte, war zum einen der erzieherische Umgang des jungen Menschen mit erfahrenen und kontaktbereiten Erwachsenen, die ihm nicht so nahe standen wie seine Eltern, und zum ändern die Freude und Last des Zusammenlebens von Kindern und Jugendlichen unterschiedlichen Alters und verschiedener Interessen und Fähigkeiten unter einem Dach. Dazu kam noch die strikte Ausrichtung des Tagesplanes an der Notwendigkeit und den Bedürfnissen des schulischen Lernens.

In einem solchen Miteinander rund um die Uhr ließen sich pädagogische Ziele verwirklichen, die sich an einem vom Stundenplan diktierten und von der Klingel bestimmten Schulvormittag niemals erreichen lassen. Die ständige Klage zum Beispiel über die fehlende Zeit zu einem ausführlichen, ruhigen Gespräch ist jedem Schüler und Lehrer geläufig.

Und wenn heute die Lehrer aufgefordert und ermuntert werden, ihren Schülern auch außerhalb des Unterrichts Möglichkeiten der Betätigung anzubieten, handelt es sich dabei um pädagogische Formen, für die das Internat und sein Lebensrhythmus ideale Bedingungen bot. Über Jahre hinweg hatten Jugendgruppen wie die Pfadfinder und Arbeitsgemeinschaften, wie die Redaktion der Schülerzeitung »Der Klecks«, hier ihren festen Mitgliederstamm.

Die Mehrzahl der Schüler, die im Dauner Internat gelebt haben, werden ihre positiven Erfahrungen in den oben erwähnten Bereichen gemacht haben. Die Einsicht in die Zeitgebundenheit mancher pädagogischen Entscheidung und in menschliche Unzulänglichkeiten der Erzieher gehört — oft allerdings erst im nachhinein — zu den Erfahrungen dazu.

Als das Thomas-Morus-Gymnasium 1983 sein 25jähriges Bestehen feierte, konnte das Schülerheim der Schule nicht im Mittelpunkt stehen, denn von den 542 Schülern wohnten zum Abschluß noch 7 im Internat. Als aber im Herbst die 780 ehemaligen Abiturienten der Schule die Einladung zu einem Wiedersehen mit ihrer alten »Penne« erhielten, waren darunter rund 370 Internatsschüler.

Das Dauner Internat gehört der Vergangenheit an, die Arbeit aber, die in ihm geleistet worden ist, wirkt weiter durch die jungen Menschen, die hier ihre Schulausbildung erfahren haben.