Ein »Schäfer-Minister«

Lustiger Heimweg vom »Louksmoart« in Mayen

Anton Sartoris, Immerath

1932. Es waren damals keine rosigen Zeiten, aber der Lukasmarkt in Mayen im Monat Oktober fand trotzdem statt. Das verlangte seine Tradition. Dieser Lukasmarkt, im Volksmund »Louksmoart« genannt, war insbesondere für die Schäferei sehr wichtig; bei den privaten Schafhaltern ebenso wie bei den damals noch vielen Dorf-Schäfereien, da am 3. Tag des Louksmoarts, jeweils am Mittwoch, ein großer Schafmarkt stattfand. Da waren oft einige tausend Schafe aufgetrieben, die in der Nähe der Genovevaburg eingepfercht waren.

Entsprechend seiner Wichtigkeit kamen daher auch aus dem Rheinland, aus Westfalen, der Pfalz und dem Saargebiet die Interessenten, Schafhalter wie Schäfer, nach Mayen. In alter Manier wurde gefeilscht und gehandelt und der abgeschlossene Kauf oder Verkauf nicht nur mit Handschlag, sondern meist auch mit einem kräftigen »Winkow« in den nahen Gaststätten besiegelt. Der »Winkow« war ein Umtrunk, den der Käufer zum ausgehandelten Kaufpreis spendieren mußte.

So waren denn auch aus hiesiger Gegend Schäfer und Schafhalter mit ihren Schafen nach Mayen zum »Louksmoart« getrieben oder gefahren: Der alte Sausen aus Immerath, der als »Bischof« der Schäfergilde galt, der Pate Jusep aus Immerath, Schousta Pitta aus Niederwinkel und Jakob Kühl aus Oberwinkel, der die Gemeinde-Schafherde in Eilscheid zu betreuen hatte. Jakob hatte ein kleines »Trüppchen« seiner eigenen Schafe nach Mayen treiben lassen, da er selbst etwas gehbehindert war, und trotz schlechter Zeiten noch einigermaßen gut verkauft, so daß unter Kollegen auch ein zünftiger Winkow in Mayen stattfand.

Nun, das war weiter nicht schlimm, Taxi-Unternehmer aus Strotzbüsch, Meister Hayer, hatte die Männer hingebracht und war auch Garant dafür, daß sie wieder gut nach Hause gebracht wurden. Man hatte also in Mayen beim Winkow ziemlich lange gesessen und dem Alkohol reichlich zugesprochen, als man in der Dunkelheit die Heimfahrt antrat. Von Mayen durchs tiefe Martental kam man dann nach Lutzerath, wo bei »Maasens Johannes« auch noch Einkehr gehalten wurde und es so ziemlich spät war, ehe man über den Üßbach Richtung Immerath fuhr. Bei der Wagenhausener Trift, wo der Weg aus Immerath in die Straße Lutzerath-Gillenfeld mündet, stiegen der alte Sausen und Pate Ju-sep aus und begaben sich die kurze Wegstrek-kezu Fuß der Heimat zu. Der Paten, der wie immer den Wein mit Vorsicht und Verstand genossen hatte, mühte sich sehr, den »Bischof« nach Hause zu bringen. Aber es ging gut! Da es allzuspät geworden war, konnte Taxifahrer Hayer nicht mehr mit seinem damals noch seltenen Auto die Männer ins jeweilige Dorf bringen. So wurde denn auch Schousta Pitta bei der Immerather Dreifaltigkeitskapelle abgesetzt, damit er zu Fuß nach Winkel marschiere. Pitta war ja auch nicht mehr »allein« und verfehlte die Richtung. Als er jedoch bei der zweiten Kreuzwegstation unterhalb der Dreifaltigkeitskapelle in Richtung Immerath zum zweiten Mal eine dicke Fichte umarmt hielt, merkte er doch, daß dies nicht der vermeintliche Kühl Jakob war. Da dämmerte es ihm, machte kehrt und fand dann doch den Berg hinunter nach Winkel zu seiner Marie.

Während dessen hatte Hayer den Kühl Jakob ca. fünfhundert Meter weiter ausgeladen, damit er den Feldweg entlang von dort zum Winkler-Hof gehen könnte, wo Jakob wohnte.

Jakob war kaum aus dem Auto, als Hayer schon um die nahe Gillenfelder Kreuzung in Richtung Strotzbüsch verschwunden war. Jakob stand nun in der stockfinsteren Nacht eine kurze Weile auf der Straße und begann dann zu marschieren, im guten Glauben, es ginge Richtung Winkler-Hof. Aber er hatte gleich die falsche Richtung eingeschlagen, ging zur Gillenfelder Kreuzung zu, drehte sich dort eigenartiger Weise in Richtung Strotzbüsch. Nun, Jakob, obwohl er allein war, war ja nicht allein: ein unsichtbarer Geist begleitete ihn. In diesem Zustand sprach Jakob immer hochdeutsch und so »unterhielt« er sich dann auch mit dem Unsichtbaren, natürlich laut, es störte die beiden ja niemand jetzt mitten in der Nacht. So merkten Jakob und sein »Begleiter« in ihrer wohl interessanten Unterhaltung gar nicht, daß sie das Dorf Strotzbüsch schon lange durchschritten hatten und bereits in Richtung Hontheim unterwegs waren. Auf dieser tückisch langen Straße, mit ihren Höhen und Tiefen, die damals noch beiderseitig mit hohen Bäumen alleeartig umsäumt war, entwich der »Unsichtbare« allmählich und Jakob merkte, daß er in einer ganz fremden Umgebung war. Zuversichtlich und humorvoll wie Jakob immer war, schritt er trotzdem weiter, und als er auf der letzten Höhe vor dem Folsbacher Heiligenhäuschen angelangt war, erblickte er den Hontheimer Kirchturm und dachte: »also da muß ja auch ein Dorf sein!« Inzwischen völlig ernüchtert, nicht zuletzt von dem langen Marsch, erreichte er die ersten Häuser von Hontheim bei Tagesanbruch, wo bereits eine Frau die Asche aus dem Herd draußen ausgeschüttet hatte. In nicht gerade freundlichem Ton redete Jakob im perfekten Hochdeutsch, die, ob des frühen Wanderers erstaunte Frau an und frug: »Sagen Sie Frau, was ist das hier für ein Dorf?«

»Ei, dat es Hunthem«, erwiderte die Frau. »Was ist das?«, frug Jakob nach.

»Ei, Hontheim ist das«, erwiderte die Frau nun auch auf Hochdeutsch.

»Da soll doch der Deubel dieses Hontheim holen!«, rief Jakob.

Die Frau, ganz erschrocken, sagte: »O, lewe Maan, wat hot äich dat Hunthem dan ad gedohn?!«

Jakob überhörte oder ignorierte dies und frug, ob auch ein Gasthaus in Hontheim sei. Die Frau bejahte dies und erklärte ihm den Standort der beiden Gasthäuser Thullen und Hommes. Jakob bedankte sich, ging runter ins Dorf, wo er das Gasthaus Thullen alsbald fand, aber noch verschlossen. So ging er weiter, einige hundert Meter, zum Gasthaus Hommes, das schon geöffnet hatte, was dem glücklichen Umstand zu verdanken war, daß neben der Gastwirtschaft auch eine Bäckerei betrieben wurde, die Philipp Hommes, im Volksmund genannt »Hummese Bäcker« unterhielt.

Jakob betrat die Gaststube mit einem höflichen »Guten Morgen«, das der Bäcker, der noch allein auf war, ebenso höflich erwiderte. Bäcker Philipp, ein großer, stattlicher Mann, auch passionierter Waidmann, sprach stets nur hochdeutsch und frug Jakob: »Was wünschen der Herr?«

»Kann man bei Ihnen ein anständiges Frühstück bekommen?«, frug Jakob. 

»O ja, o ja«, befleißigte sich Bäcker Philipp zu sagen. Und Philipp servierte dem feinen Herrn ein fürstliches Frühstück mit Kaffee, frischen Brötchen, gebackenen Eiern usw. Daß es Jakob nach den schweren Strapazen gut mundete, bedarf ja keiner Frage. Nachher bestellte er sich dann eine ganze Flasche Wein, was für Bäcker Philipp ja auch nicht alltäglich war. Er rätselte bei sich: Wer soll das doch bloß sein, so ein feiner Herr am frühen Morgen?! Recht vorwitzig, wie Philipp war, mußte er es wissen: »Mit wem habe ich denn die Ehre, schon so früh am Morgen?«, wollte er sich vorsichtig erkundigen. Nun, Jakob sah Philipp groß an und antwortete nach einer Weile bedächtig: »Lieber Herr, Sie können glückselig sterben, ohne es zu wissen.« Etwas geschlagen entschuldigte sich Philipp. Es entspann sich dann doch ein harmonisches Gespräch. Jakob hatte schon längst die übergroße Vorwitzigkeit und Ungeduld von Bäcker Philipp erkannt und sagte dann unaufgefordert zu ihm: »Also, Sie sollen auch wissen, wer ich bin. Ich bin einer von den fortgejagten Ministern von der Regierung in Berlin, die in der letzten Woche gestürzt wurde.

« Da 1932 mehrmals die Regierung in Berlin gestürzt wurde, schien dies sehr glaubhaft! »Nun bin ich in Bad-Bertrich zur Erholung und habe eine Morgenwanderung nach Hontheim unternommen«, erklärte Jakob.

Das Erstaunen von Bäcker Philipp wollte kein Ende mehr nehmen und so überhäufte er Jakob mit Höflichkeiten noch und noch. Als Jakob dann auch noch mit einem blanken Fünfzigmarkschein, den er beim Schafverkauf in Mayen erlöst hatte, bezahlte, gab es gar keinen Zweifel mehr für Philipp: Das war wirklich ein Minister, wer kann denn heute, in dieser armen Zeit sonst noch mit einem richtigen Fünfziger bezahlen!?

Gestärkt und befriedigt ob seines »Ministers« schritt Jakob dann doch endlich seiner Heimat, dem Winkler-Hof zu, wo seine Liß ihn schon lange in großer Sorge erwartete.

Bäcker Philipp aber, sehr stolz auf diesen hohen Besuch, erzählte es fortan jedem Gast, der sein Lokal besuchte, daß er einen Minister zu Gast gehabt hätte, bis — ja bis Philipp einige Zeit später seinen Bruder Matthias in Gillenfeld im Hotel Hommes (Hotel zur Post) besuchte und Philipp diesem überstolz von dem hohen Ministerbesuch berichtete. Matthias hörte sich die Geschichte recht skeptisch an, frug, wie der Minister denn ausgesehen habe, also — er traue der Sache nicht. Philipp schilderte den Minister, der ausgezeichnet hochdeutsch gesprochen habe und ein ebenso gutes Benehmen an den Tag gelegt habe, — er sei jedoch etwas lahm gegangen, durch einen verbildeten Fuß.

Da Bruder Matthias den Kuhl-Jakob gut kannte, ebenso seinen witzigen Schalk, sprach er zu Bruder Philipp: »Lo haste dich mol schien rann läge geloß, dat wor kä annere, wie Schiewer-Jakob vom Hof!« (entgegen seinem Bruder Philipp sprach Matthias noch am liebsten sein Hontheimer Dialekt). Noch untröstlich zweifelnd und geschlagen, daß ihm, ja gerade ihm sowas passieren mußte, trat Philipp den Heimweg an und schwieg fortan über diesen Ministerbesuch.