Aus früher Jugendzeit

Heimatkundliche Erinnerungen an Duppach

Jodocus (t 1927)

 

Hoch droben im bergigen Eifellande liegt, in ein stilles Wiesental gebettet, mein Heimatdörflein Duppach. Seine achtzig Wohnhäuser sind anscheinend ganz regellos errichtet worden, wie es der Zufall mit sich gebracht hat; just als wären sie dem Sämann zu früh aus dem Sack gefallen. Alt ist das Dörfchen, denn schon 835 gehörte es zur Prümer Abtei, kam später an die Burg zu Schönecken, an Blankenheim und zuletzt an Gerolstein; war auch dort eingepfarrt, bis es anno 1551 zur Pfarrei erhoben wurde.

Trotz seines annehmlichen Alters blieb es ein geringer Ort, der sich auch durch nichts auszeichnen wollte, als höchstens durch herrliche Waldungen mit mächtigen Eichen und Buchen und einer üppigen Fülle von Waldbeeren. Zuletzt wohl noch durch seinen bekannten Dreis (Mineralquelle), aus dem auch die Bewohner der Nachbarorte nach Herzenslust schöpften. Das waren freilich Schätze der Natur, aber die Einwohner des Dorfes gewannen deswegen noch nicht an Ansehen.

Eigentlich hatte unser Ort sein bißchen Ruhm, das er ehedem besessen, sogar noch eingebüßt. Das war bis vor etwa 90 Jahren ein 65 Morgen großer Weiher, wohl ein altes Maar, mit dem er sich rühmen konnte, der einzige Ort im Prümer Kreise zu sein, der einen See sein eigen nannte. Dieses poetische Zubehör des Dörfleins war, als ich zum Gebrauche der Vernunft gelangte, nun leider längst trockengelegt. Zwar floß der alte Dosbach, der ihn gespeist hatte, noch durch das Kesseltal wie ehedem, aber zu beiden Seiten erstreckte sich jetzt eine langweilige Wiese weit hinaus, die zwar viel rauhe Grashalme, aber eine nur spärliche Pflanzenwelt hervorbrachte. Vergessen war jener See indessen noch nicht, denn das alte Sprüchlein: »Op dem Duppicher Weiher leit e breed bleie Beiel«, das wir Kinder oft als Zungenübung siebenmal hintereinander hersagen mußten, hielt die Erinnerung an ihn wach. War uns der See genommen worden, so sollte die Wiese dafür einigen Ersatz bieten. Im Herbst gab sie einen vorzüglichen Platz als Kuhweide, wo wir Hirten dann ungestört Jäger und Hase, Räuber und Gendarm und andere schöne Spiele betreiben konnten; und zu guter Letzt lieferten uns die naheliegenden Felder immer die schönsten Kartoffel zum Braten.

In der guten alten Zeit hatten sich die Bewohner meiner Heimat gar viel mit Herstellung der Holzkohle beschäftigt, die zum Hüttenwerk nach Jünkerath gebracht wurde. Aber das Kohlenbrennen ließ zu Anfang der 60er Jahre nach und hörte bald ganz auf. Für das Eifelland wohl ein Segen, denn Ackerbau und Viehzucht wurden nun nachdrücklicher und wirtschaftlicher betrieben. Am althergebrachten Schiffein hat man freilich noch für Jahre festgehalten, und ich selbst habe manchen Schweißtropfen dabei vergossen. Aber es wurde geschafft von früh bis spät, von jung und alt. Ackerbau betrieb ein jeder im Dorfe, auch die Handwerker und selbst Lehrer und Pfarrer pflegten ihn neben ihrem Amte.

Daß ein Büblein auch mit der Zeit einmal was anderes tun könne als Pflügen und Dreschen und Holzhacken, daran dachte niemand. Bis unser guter Pfarrer J. P. Schmitz die Zeit für gekommen hielt, einige der Schule entwachsene Knaben zu veranlassen, sich weiter zu bilden und Lehrer zu werden. Auch ich gehörte zu den Auserlesenen, und drei von uns machten nun einen Anlauf zur Gelehrsamkeit. Unser Lehrer Johann Dohm sr. erteilte den Unterricht ohne Bezahlung. Wir halfen ihm dafür im Herbst die Kartoffel einheimsen. Da nun später an etlichen größeren Orten der Eifel Präparandenkurse eingerichtet wurden, konnten wir uns bald eine gründlichere Ausbildung verschaffen, als es im Privatunterricht möglich gewesen war.

Ein wichtiges Ereignis unserer jungen Laufbahn war es, als wir eines schönen Tages zu Winterlehrern ernannt wurden. Daß wir damit noch kein hohes Amt vertraten, war uns klar. Aber immerhin wurden wir doch schon »Lehrer« tituliert, und das machte nicht wenig Freude. Ich fand aber bald zur Genüge, daß diese Würde mit einer Bürde belastet war. Es ist nun wohl schon weit über ein halbes Jahrhundert her, als an einem schönen Oktobertage drei hoffnungsvolle Jünglinge in Begleitung ihrer Väter und meines älteren Bruders nach dem sechs Wegstunden entfernten Waxweiler zogen, um sich dort dem alten Distriktschulinspektor vorzustellen. Wie sie mit Sack und Pack über Berg und Tal daherzogen und die jungen Burschen auch noch ihre Geige offen zur Schau trugen, konnte man sie fast für fahrende Musikanten halten, die für Wegzehr und ein paar Groschen immer bereit sind, zu fröhlichem Tanz aufzuspielen. Einstweilen waren wir noch guten Mutes, wenn auch voller Erwartung. Unser Vorgesetzter war ein lieber, alter Herr, und entließ uns nach unserer Vorstellung freundlich nach den Orten der neuen Bestimmung, denen wir nun vertrauensvoll entgegenzogen. Freund W. nach Oberzierscheid, der andere, L., nach Manderscheid, während ich mit meinem Bruder nach Kopscheid zusteuerte. Unser erster Besuch galt dem Ortsvorsteher. Wir fanden in ihm einen wohlhabenden, prächtigen alten Mann, trotz seiner Jahre noch rüstig und zu Scherz aufgelegt. Die Gastfreundschaft, die er uns für die Nacht herzlich anbot, wurde dankbar angenommen. Schon bald hatte der Vorsteher meine Geige bemerkt, und nach dem Abendessen wünschte er, sie klingen zu hören. Seinem Wunsche wurde sogleich entsprochen und obgleich ich es in der Kunst des Geigens nicht sonderlich weit gebracht hatte, legte ich an jenem Abend große Ehre ein; bemerkte doch unser Gastgeber: »Mer hunn noch keene Lierer gehott, dän esu gudd hat spiele konne!«

Am folgenden Morgen begab mein Bruder sich auf den Heimweg und ich mußte allein fertig werden in der Fremde. Angenehm fand ich diese Verhältnisse gerade nicht. Es gab dort kein eigenes Schulzimmer, auch kein ständiges Kosthaus, nur mein Schlafzimmer brauchte ich nicht zu wechseln. Aber das war ein alter Raum, in dem ich mich nur aufhalten konnte, wenn es Zeit war zum Schlafengehen. Die Kost hatte ich auf dem »Umgange«, d. h. die Eltern meiner Schüler mußten mich der Reihe nach jedesmal einen Tag für je ein Schulkind beköstigen. Die Jugend wanderte dann jeden neuen Morgen hinter mir her, in eines Bauern Haus, in dem, wie es damals in der Eifel noch vielfach gebräuchlich war, der Unterricht stattfand. Sobald das Frühstück der Familie dort beendet, der Haferbrei ausgelöffelt und ein Butterbrot zu einer Tasse Kaffee verzehrt war, mußte der Tisch schleunigst gesäubert werden, damit ich nun den Kindern ihre geistige Nahrung verabreichen konnte. Die Hausfrau hantierte aber auch während der Schulstunden im Zimmer herum, nähte, strickte, ließ zuweilen auch ihr Spinnrad schnurren oder den Haspel surren. Aber das alles störte die angehenden Jünger der Wissenschaft nicht; sie waren daran gewöhnt. Zuweilen traf ich beim Unterricht in dem Bauernhause auch mit dem Schneider zusammen, der dort gerade zu tun hatte. Dann mußte ein zweiter Tisch herangerückt werden und wir lagen in derselben Stube eifrig unseren verschiedenen Berufen ob. Doch vertragen haben wir uns recht gut, ja ich fand sogar im Schneider zuweilen eine Stütze. Kam es z. B. vor, daß die Jungens meine kurze Abwesenheit aus dem Zimmer benutzen wollten, um Allotria zu treiben, so schaute der Schneider ernst über seine Brille und herrschte sie an: »Jonge, wann der net stell seid, dan holl'n aich de Eil!« Auch mit dem Dorfschäfer, der oft das Kosthaus mit mir teilte, denn auch erwar, wie ich, gegen Kost von Haus zu Haus angestellt, stand ich auf gutem Fuße. Allerdings hat er mich am zweiten Tage meiner Tätigkeit, wenn auch ohne sein Zutun, fast um meine Kost gebracht. Das war so gekommen. Meine Hauswirtin hatte mir nahe gelegt, in das Haus der ihr benachbarten Witwe zur Kost zu gehen, das mein Vorgänger bei seinen Rundgängen zu deren Leidwesen stets überschlagen habe. Infolgedessen trat ich denn auch arglos gegen acht Uhr dort ein. Ich wünschte guten Tag und fügte hinzu: »Hock hat dier mach an der Hahl! (Heute habt Ihr mich am Herd, d. h. zur Kost)«. »Joh, dat gäht awer net«, tönte es plötzlich hinter dem Feuerherde hervor, »aich hunn de Schieffer hock« (Ich habe heute den Schäfer, d. h. zur Kost). »Da mus aich en Diehr weider gohn« (eine Tür weitergehen), gab ich zur Antwort, denn für Schäferschippe und Fiedelbogen war in dem Häuslein nicht genug Platz. Die Schülerzahl war nicht groß, etwa 10, und da sich Geschwisterpaare darunter befanden, so hatte ich nur soviel Kosthäuser, als es Tage in der Woche gibt. Gerne wäre ich zufrieden gewesen, hätte eines auf meiner Liste gefehlt. Ich war gewiß nicht verwöhnt von Hause, aber was von dieser Frau zusammengekocht wurde, war wirklich kaum genießbar. Zu spät habe ich erfahren, daß der Winterlehrer vom vorigen Jahre sich von ihr hatte in die Flucht kochen lassen, sonst hätte auch ich Reißaus genommen.

Meine Stellung war gewiß auch keine sehr beneidenswerte, doch ich hielt aus bis zur Karwoche, wo die Schule schloß. Beim Steuerempfänger in Waxweiler empfing ich den Lohn für das halbe Jahr, bare acht, sage und schreibe acht Thaler, steckte sie in die Tasche und wanderte, Fiedel und Ränzel auf dem Rücken, der Heimat zu.

Der heimatkranke Kamerad hat Muttern nie wieder verlassen. Mein Freund und ich sind aber allmählich in den Lehrerstand hineingeschlüpft. Das Eis war gebrochen und andere tüchtige Lehrkräfte sind gefolgt; auch akademisch gebildete und mit dem Doktorhute geschmückte Männer hat unser Dörflein jetzt aufzuweisen. So kann ihm das Zeugnis nicht versagt werden, daß es von einem strebsamen Völkchen bewohnt ist. Meine beiden Jugendfreunde ruhen in heimatlicher Erde, mich hat die Vorsehung in einen anderen Stand verpflanzt und über den Ozean geführt. Aber die Liebe zur alten Heimat ist jugendfrisch in meinem Herzen geblieben.