Daun: Pro und contra

Liebenswertem Irrationalismus begegnet. . . .

Lotte Schabacker, Daun

 

Meine Wohnung liegt an keiner breiten Allee. Das Bauwerk vis-ä-vis steht einem genau vor der Nase. Es ist das Urbild eines Hauses: vier Wände und ein Dach drauf. Mit Schornstein. Ohne alle Kinkerlitzchen. Angestrichen in einem freundlichen hellen Gelb. Ein Haus, wie es immer wieder auf den Bildchen vorkommt, die kleine Kinder ganz am Anfang ihrer Künstlerkarriere malen, neuerdings mit Fernsehantenne, die natürlich auch meinen gegenüber -Haus nicht fehlt. Ich fand an diesem Haus noch nie etwas auszusetzen !

Freundin Anne, für einige Wochen bei mir zu Gast, stand am ersten Tag ihres Besuches vorm Fenster und betrachtete nachdenklich und ein wenig bekümmert die schlichte Fassade. Fünf Fenster und eine Haustür, murmelte sie vor sich hin. Und nach einer kleinen Weile: »Also, du willst hier wirklich wohnen bleiben für den Rest deines Lebens?« Ja, das hätte ich vor. »Na ja!« sagt sie nur und sah nun mich an, gleichfalls ein bißchen bekümmert.

»Na ja!« machte auch ich, aber ein bißchen patzig. Und dann begütigend: »Es liegt sicher am Regen, daß du meine Zukunft hier so grau in grau siehst!« Aber im Grunde wußte ich es besser und sah deshalb, was die Gespräche über meine Wahlheimat anging, ziemlich schwarz für die nächsten vier Wochen. Meine verehrte (das ist kein Witz) Freundin nämlich neigte schon in unserer langjährigen gemeinsamen Schulzeit zu Beanstandungen und Reklamationen; wo sie hindachte, wuchs sobald kein Gras mehr. Diese Charaktermerkmale hätten als »unveränderliche Kennzeichen« in ihrem Paß stehen können. Dazu kam in diesem Fall noch, daß jemandem, der seit Jahrzehnten in einer Riesenstadt wie London lebte, unser Daun wie ein kaum wahrnehmbarer Winzling erscheinen mußte; und mit den Londoner Prachtbauten konnte sich mein Nachbarhaus ja auch gewiß nicht vergleichen.

Wenn Ihr nicht werdet wie die (Schul-) Kin-der. . .

Wir beide jedenfalls hatten prompt vom ersten Augenblick des Wiedersehens an den Rückfall in glückliche alte Zeiten geschafft, und so konnte ich es mir nicht verkneifen: »Ich habe aber auch schon mal schönere Schlösser gesehen als Euren Buckingham Palace!« Das Ätsch allerdings dachte ich mir bloß, aber zweifellos hatte sie es doch wahrgenommen, denn sie grinste breit. Dann wieder ernst: »Ich auch! Und ganz gewiß werde ich lieber in dieser Landschaft herumwandern als etwa im Hyde Park. Die Eifel ist zauberhaft — auf jeden Fall im Mai!«

Welch ein Glück, auch ihr Gerechtigkeitssinn war ihr treu geblieben, und sie sah wie eh und je nicht nur Schatten-, sondern auch Lichtseiten. Sollte sie jedoch in unserem heilklimatischen Kurort letztere nicht finden können . . . Ich hatte sie eingeladen — ich konnte sie ja nicht rausschmeißen, bloß weil ihr Daun nicht gefiel. Es stand uns also für die kommende Zeit sowas wie ein freundliches Gefecht bevor:

Daun: Pro oder contra!

Dieses Daun habe keinen Mittelpunkt, erklärte mir Anne etwas später nach ihrer gründlichen Ortsbesichtigung. Wo denn dieser Nicht-Mittelpunkt ihrer Meinung nach sei, wollte ich wissen. Na eben etwa in der Mitte! Da, wo die Hauptstraße in der Gegend der Post diesen kuriosen Schlenker mache: rechtsrum, linksrum, rechtsrum, linksrum. »Hauptstraße gibt's bei uns nicht.« »Na, also diese Geschäftsstraße mit den vielen Namen, du wirst ja nicht erwarten, daß ich mir die alle gemerkt habe; alle paar Häuser heißt sie anders.« Das war eine gute Gelegenheit für ein Zugeständnis wegen der Sache mit dem Buckingham Palace; außerdem konnte man hier auch gar nichts bestreiten oder vertuschen: »Ja, insgesamt hat sie von der Maarstraße bis zur Dockweiler Straße deren sieben.« »Sag mal, ist das hier so üblich?« »Nein, eigentlich nicht, es gibt auch das Gegenteil. Von der St. Laurentiusstraße geht gleich dreimal eine Basaltstraße ab.« Das war nun genug Wiedergutmachung, und ich konnte zurück in die Opposition gehen: »Aber wo Dauns Mittelpunkt ist, das ist Ansichtssache, darüber kann man streiten, weil. . . « »Wieso denn?« unterbrach sie mich. »Guck dir doch selbst mal den Stadtplan an, den du mir gegeben hast; du mußt zugeben, daß dieser Schlenker in etwa der Mittelpunkt ist.« »Ja nun, dann hast du ihn doch ausgemacht!« »Eben nicht! Als ich da heute morgen herumstand, um ihn zu bestaunen, sprach mich ein älteres Ehepaar an, neu eingetroffene Urlauber, wie sich herausstellte. Man wollte wissen, wie man von hier aus in die Stadt käme. Sie dachten, sie wären am Rand!«

Anne biß sich weiter in diese Mittelpunkt-Idee fest, wurde nun auch noch hintergründig: »Tatsächlich wirken ja auch die Gebäude in diesem Schlenker, als hätten sie sich ursprünglich mal zu einem Platz formieren wollen, wären sich dann aber nicht darüber einig geworden, wie ein solcher auszusehen habe.« Ein Haus namens Landesbausparkasse habe dann dem Ansatz einer schönen Weiträumigkeit ein Ende gemacht und sich von seinen Hinterhäusern in den freien Raum schieben lassen. Schade, schade! Andererseits aber spräche es auch wieder für die Großräumigkeit der heilklimatischen Seele, durch diesen Spar-Blickfang die Urlauber daran zu erinnern, daß sie eigentlich zu Hause bleiben und sparen sollten!

Die Sache mit den zwei Seelen in einer Brust finde trefflichen Ausdruck auch in den zwei Namen des verhinderten Platzes. Das Doppelschild »Lindenstraße/Burgfriedstraße« stehe nicht an einer Kreuzung wie allgemein üblich, sondern an einer durchgehenden Mauer mitten im Schlenker. Das andere Ende dieser Lindenstraße finde übrigens ebenfalls mitten in der Häuserzeile statt, die Ecke herum . . .

Nun, auch mir wäre ein richtiger Platz mit Springbrunnen oder doch Denkmal, mit wem auch immer drauf, mit Kirche, Bänken, alten Bäumen, Cafes und so bedeutend lieber; und ich darf das auch denken oder sagen, aber kein Ortsfremder, schon gar kein windiger Ausländer. Aber, wie schon erwähnt, ich konnte Anne ja nicht rausschmeißen, mußte einigermaßen höflich bleiben. Ob sie sich nicht entschließen könnte, das apart zu finden oder doch wenigstens einmalig? Ob sie denn sonst schon irgendwo eine Stadt ohne Mittelpunkt gefunden habe? Sie überlegte laut: »London, Wien, Istanbul, Dubrovnik, Rom, New York . . . Nein, hab ich nicht. Also einmalig! Eins zu Null für dich!« New York und Daun! Ich lachte pflichtgemäß, aber im Grunde war ich sauer. Na warte!

Kurz darauf umwanderten wir unsere nächstgelegenen Maare, denen Anne die erwartete Bewunderung zollte. Doch dann begann sie, von Italien zu sprechen. Es ist sonst nicht ihr Stil, beim Anblick von Weltwundern etwa vom Schwarzwald zu schwärmen; und da sie sich zugleich, wie oft schon in der Schule, kurz am Kopf kratzte, was bei ihr nichts mit Juckreiz zu tun hat, sondern eine Übersprunghandlung ist, die zwei entgegengesetzte Impulse wie etwa die Lust auf Angriff und die auf Flucht anzeigt, konnte ja bei diesem Gedankenausflug nur Ungutes herauskommen. Und siehe da: Vorsichtig, aber doch zielstrebig, näherte sie sich den wundersamen italienischen Nächten. Man sitze da abends und bis spät in die Nacht draußen zusammen, Einheimische und Fremde in trauter Gemeinsamkeit, trinke seinen Wein und plaudere über Gott und die Welt. Eine urgemütliche Atmosphäre! »Siehst du, das fehlt in Daun!« kam sie zum Punkt und malte mir ein beglückendes Dauner Nachtleben aus. Wir kamen dann vom Thema ab, weil wir trotz großer Hitze den Dronketurm erklimmen mußten. Auf dem Heimweg hatten wir Gesellschaft, und auch beim Abendessen in einem Gasthof kamen wir nicht auf die luftigen Dauner Nächte zurück. So gegen 22 Uhr machten wir uns dann auf den menschenleeren Heimweg, und schon nach etwa drei Minuten rieb sich Anne die bloßen Oberarme. »Mir ist auf einmal kalt!« sagte sie irgendwie erstaunt. »Gut, daß wir bald zu Hause sind, auf einen Schnupfen kann ich verzichten.« Genugtuung ist zwar keine edle, aber doch eine sehr befriedigende Regung: »Siehste, jetzt weißt du auch, weshalb wir hier nachts nicht auf den Straßen herumsitzen und unseren Wein lieber in den Stuben trinken.« »Drei Punkte für dich!« sagte Anne.

Aber bald darauf kam die Architektur an die Reihe, eines von Annes Lieblingsthemen: »Dieses Daun hat nicht nur keinen einheitlichen Stil, es hat überhaupt keinen. Hier sind noch nicht mal die einfachsten Regeln beachtet, nach denen sich sonst Häuser beim Zusammentun richten. Selbst im Ortskern lassen sie, wenn irgend möglich, Lücken zwischen sich, die für nichts und niemanden gut sind. Als könnten sie sich allesamt nicht leiden. Und bloß an den Straßen nicht die Frontlinie einhalten! Sie tanzen nicht nur vorwärts und rückwärts aus der Reihe, sie stellen sich sogar schräg zu ihr, manchmal bis zu einem Winkel von etwa 45 Grad, und dann ragt eine Hausecke fast in die Fahrbahn. Und die Giebel sind mal vorn und mal seitlich, und die Dächer haben alle nur denkbaren Neigungswinkel. Und alle die regellosen Auswüchse, wo noch Platz dafür war, die ulkigen zwergenhaften An-, Neben- und Hinterbauten, krumm und schief, nach unauffindbaren Gesichtspunkten manchmal. Ganz zu schweigen von euren Bürgersteigen, zu schweigen deshalb, weil sie den Namen nicht verdienen. Streckenweise kann da nur ein Mäuse- und nicht ein Bürgerpaar entlanggehen. Und die breiteren Abschnitte sind zu Parkplätzen umfunktioniert. Fußgängerunfreundlich ...«

Aber das alles gäbe es doch anderso auch, wandte ich ein. Ja, aber nicht alles dermaßen auf dem Haufen. »Nein, kein Stil!« wiederholte sie, »nur ein großes Durcheinander. Hier hat jemand gefehlt, der gute Absichten koordinieren konnte. Schade! Die Leute lieben ja ihre Häuser, sonst würden sie sie nicht so gut pflegen; manches ist sogar höchst originell.« Was heiße hier Stil, versuchte ich eine tollkühne Ausrede. Unser Stil sei eben die Stillosigkeit. Es gehöre zum Wesen des Stils, daß er dominant durchgehalten werde, in allen Details, hätte ich gelesen. Eine dominant durchgehaltene Stillosigkeit sei dann doch auch ein Stil! Ob sie mir geistig folgen könne? (Ein Satz aus der Schulzeit) »Nein!« sagte sie todernst, begann aber diesmal selbst mit der Ursachenforschung, wollte Genaues über die Historie dieses Landstriches wissen. Über seine früheren finanziellen Möglichkeiten, über Ereignisse im Krieg und den Aufbau danach. Dann fiel ihr das Buch »Winterspelt« von Alfred Andersch ein. »Sie als deutscher Bauer. . . « leitete da ein deutscher Offizier im Krieg eine Kritik an einem Winterspelter Einwohner ein. Er sei kein deutscher Bauer, knurrte der, er sei Eifelbauer!

Und Annes Erleuchtung: »Auch diese Dauner — eine Sammlung von eigenwilligen Individualisten!«

Da sie ebenfalls einer war, begann sie wohl an diesem Tag mit der Anfreundung, denn von nun an sah sie mehr und mehr Lichtseiten. Dabei war zum Beispiel unser neuer Kurpark mit seiner doch recht abseitigen Lage noch gar nicht drangewesen; vermutlich, weil Anne im Lauf der Jahrzehnte einen anderen Sinn für Entfernungen entwickelt hatte als wir hier. Für sie war alles, was wir »weit« nannten, etwa den Weg durch die ganze Stadt, bloß eben round the corner, also gleich um die Ecke, ein Umstand, den sie äußerst bequem und gemütlich fand.

Und unter anderem behagte ihr auch dies: Daß man mit Geschäftsleuten beim Einkauf ein Schwätzchen zu halten pflegte, wenn gerade keine anderen Kunden zu bedienen waren. Es kam so weit, daß sie, nachdem ich sie in »meine« Geschäfte mitgenommen hatte, mit Vergnügen alleine einkaufen ging und sich freute, daß man sie wiedererkannte, das Gespräch fortsetzte und sich für ihr Wohlergehen interessierte.

Und dies: Daß niemand es hier fertigbringen würde, wochenlang tot in seiner Wohnung herumzuliegen, denn die Nachbarn passen auf Alleinlebende auf. Kostenpunkt: Man hat ihnen natürlich mitzuteilen, wann, wie lange und wohin man verreist. Sprachlosigkeit überlassen wir eh den Metropolen.

Am Tag vor ihrer Abreise kam Anne mir extra in den Keller nach: »Sag mal, in unserem Haus vis-ä-vis sind die Rolläden immer noch nicht hoch. Sind die Leute verreist? Oder was ist?« Ja, sie seien verreist seit gestern. Anne schob ab. Sie war zufrieden.

Und ich konnte ein lautes Gelächter nur schwer unterdrücken. Anne hatte gesagt: Unser Haus vis-ä-vis! Nun konnte ich ihr auch ihre Worte von gestern glauben: »Wenn's dir recht ist, komme ich gern wieder, mir gefällt es hier. . . «