Vorsicht: Zebrastreifen

Lotte Schabacker, Daun

 

Wir armen Fußgänger haben, je länger, desto heftiger, ein höchst ambivalentes Verhältnis zu unseren Zebrastreifen entwickelt; wir wissen einfach nicht mehr, woran wir mit ihnen sind. Mal laden sie uns herzlich ein, mal starren sie uns hämisch an. Das Verwirrendste aber ist: Sie haben im Lauf der Zeit die Marotte kultiviert, zu tun, als seien sie es gar nicht, ja, sich ganz und gar unsichtbar zu machen — jedenfalls für eine Reihe von Autofahrern. Es ist schon ein Kreuz mit ihnen!

Es gibt inzwischen eine Menge Varianten im Verkehr mit Zebrastreifen, so daß sich schon der Beginn einer Statistik lohnt. Da ist zunächst mal »der Glücksfall«: Man muß einen Zebrastreifen überqueren, und es kommt kein Auto. Man kann sicher sein, daß man an einem solchen Tag auch noch Glück mit anderen Unternehmungen hat, wie etwa mit dem Besuch beim Finanzamt oder beim Zahnarzt.

Sodann »die Chance«: Man begegnet einem Zebrastreifen, es kommt kein Auto, man muß ihn aber nicht überqueren. Das ist sehr ärgerlich, und es soll sogar Leute geben, die das dann doch tun und auf der anderen Straßenseite weitergehen. Man darf gute Gelegenheiten doch nicht einfach ungenutzt lassen!

»Die Vergewaltigung«: Ein einsamer Mensch hält sich in der Nähe eines Zebrastreifens auf, vielleicht will er den hübschen Hausgiebel auf der anderen Straßenseite betrachten, oder er wartet auf jemanden, oder sein Hund will es so. Auf der langen geraden Straße kommt im zivilen Tempo ein Wagen daher; in der Zeit der Annäherung hätte der Mensch dreimal hin und zurück die Straße passieren können, aber das will er ja gar nicht. Der Wagen wird noch langsamer, hält dann an vor dem Streifen. Auto und Mensch sehen sich freundlich an. Sicher will der Fahrer hier aussteigen oder nach dem Weg fragen, denkt der Mensch. Aber nichts passiert. Nach einiger Zeit winkt der Fahrer dem Menschen, die Fahrbahn zu überqueren. Der Mensch schüttelt den Kopf. Der Fahrer lächelt ihm aufmunternd zu, macht einladende Gesten in Richtung des Streifens, immmer wieder. Und der Mensch geht! Damit der Fahrer weiterfahren kann. Wenn er außer Sichtweite ist, geht der Mensch wieder zurück.

»Die Regel«: Wir haben es eilig, wagen aber nicht, unseren Streifen zu betreten, da die Fuhrwerke von beiden Seiten mit einem Affenzahn herangestoben kommen. Die Fahrer starren gebannt geradeaus, für sie ist der Streifen unsichtbar. Wir wappnen uns mit Geduld.

Fall fünf, »die Irritation«, ergibt sich immer mal wieder aus der »Regel«. Ein von links kommender Fahrer hält nun doch und schaut uns wohlwollend, auffordernd an. Ertut uns keinen Gefallen, denn die auf der anderen Fahrbahn zischen nun erst recht heran wie die gesengten Säue und sehen keinen Streifen. Selbst wenn sie wollten, kämen sie nicht mehr rechtzeitig zum Stehen, und wir sind doch nicht lebensmüde. Wir winken immer wieder dem freundlichen Steher, doch weiterzufahren, aber der wird nun stur. Es hilft auch nichts, wenn wir ratlos die Schultern zucken, in die Luft schauen oder ganz und gar der Straße den Rücken kehren. Er steht! Dann hupt er uns an, gestikuliert verärgert, wild, läuft rot an, oh Himmel, gleich wird er aussteigen und uns fressen, denn hinter ihm hat sich bereits eine Schlange gebildet, die gleichfalls fuchsteufelswild ausschaut. — Wir wissen, der Erzürnte kann jetzt gar nicht fahren, denn wenn er das wagte, und wir, irritiert wie wir nun sind, im letzten Augenblick doch losrasten, brächte er uns um. Das möchte er vielleicht sogar im Moment, jedenfalls sieht er inzwischen so aus, und so stürzen wir uns also mit dem Mut der Verzweiflung auf unseren Streifen und danken am anderen Ufer unserem Geschick, das uns noch einmal davonkommen ließ.

Mit einem »Zebraspuk« hatte ich es zu tun, als ich kürzlich an einer Kreuzung auf eine Kombination von Zebrastreifen und Ampeln stieß. Der Streifen lag einladend vor mir, kein Wagen weit und breit, aber die für mich zuständige Ampel stand auf Rot. Sie war rot und blieb rot, und so hatte ich also Muße, der ampellosen, der glücklichen Zeit zu gedenken, als man eine leere Straße noch unbefangen überqueren konnte. Ich sah noch einmal nach links, nach rechts, nach hinten, nach vorne. Nichts! Nicht mal ein Fußgänger oder Kinder, denen ich ja ein gutes Beispiel hätte sein müssen. Ich zog also los. Und mitten auf dem Zebrastreifen packte mich für einen Moment die irre Vorstellung, es könne sich so in einer Entfernung von drei Metern ein bis dahin unsichtbares Fahrzeug plötzlich materialisieren und mich in Grund und Boden bohren. Die rote Ampel grinste mich höhnisch an. . . All diese Fatalitäten haben inzwischen einen neuen Fußgängertyp ins Leben gerufen, den »Autoschreck«: Da steht einer, ein Fuß auf dem Bürgersteig, der andere auf der Fahrbahn. Körperhaltung: Ich möchte gern rüber! Er geht aber erst, wenn ein ankommender Wagen wirklich ganz stillsteht. Am liebsten wäre ihm, der Fahrer würde auch noch den Motor abstellen. Hätte er sich früher entschließen können, wäre dem Fahrer der ärgerliche totale Stopp erspart geblieben, es hätte genügt, das Tempo etwas zu drosseln. Aber nicht jedem Fußgänger ist Tollkühnheit gegeben!

Dieser Übervorsichtige gehört zu jener Sorte, die keinem Wagen mehr traut. Und schon gar nicht einem Zebrastreifen!