Der Bezirk Retterath um 1200

Interessante Urkunde über feudale Produktionsverhältnisse

Erich Mertes, Kolverath

 

Um 1200 umfaßte der Bann Retterath den gesamten Bezirk der späteren Pfarrei (vgl. Schug VI, 397). Weitere Dörfer hatten sich darin noch nicht gebildet, zumindest werden zu der Zeit außer Retterath noch keine genannt. Arbach wird erstmals 1258 genannt, Bereborn erst nach 1500, Kolverath 1324, Lirstal, Mannebach und Oberelz 1336. Im 'über annalium iurium archiepiscopi et ecclesie Trevirensis', dem Jahrbuch der Rechte des Erzbischofs und der Trierischen Kirche, entstanden um 1220, veröffentlicht u. a. im MRUB (s. Lit.), befindet sich eine Aufstellung der Rechte des Erzbischofs in Retterath (S. 418f). Erstaunlicherweise wird diese Urkunde in heimatkundlichen Veröffentlichungen so gut wie nie erwähnt, obwohl sie hochinteressante Einzelheiten über die damaligen feudalen Produktionsverhältnisse in unserer Gegend enthält.

Nachstehend die Übersetzung der Urkunde mit entsprechenden Anmerkungen.

Dies sind die Rechte des Erzbischofs in Retterath (Rethirrode):

Im Bann Retterath1 hat der Erzbischof von Trier 75 Hufen2, von denen jede zum Martinsfest314 kölnische Pfennig4, zum Andreasfest5 einen Malter Hafer nach Andernacher Maß6 liefert. Zum selben Zeitpunkt oder später, wann immer der Erzbischof möchte, soll sie (= jede Hufe) 2 Hühner und zu Ostern 30 Eier liefern.

Alle Landwirte (= Hufner) in diesem Bann, ausgenommen die Schöffen und Ministerialen7, sind verpflichtet, einmal im Jahr mit dem Erzbischof auf Wagen entweder nach Ochtendung8 oder Münstermaifeld9 oder Karden10 zu reisen. Wer tatsächlich die Reise machen will, erhält 4 Pfennig von den leichten Münzen oder 2 kölnische Pfennig11. Ebenso wird jeder Landwirt, der einen Pflug besitzt12, zwei Tage im Jahr auf den Äckern des Erzbischofs pflügen13. Aber der Erzbischof wird jedem Pflüger vier Brote geben, von denen 30 aus einem Malter hergestellt werden14. Ebenso wird jeder von diesen Landwirten dem Erzbischof am ersten Tag 2 Schnitter stellen, denen der Erzbischof ein Brot gibt. Ebenso wird jeder einen Tag lang dreschen, aber demjenigen werden zwei Brote gegeben.

Außerdem werden dem Erzbischof an Steuer von den Herrenhöfen (= Salgüter)15 in den einzelnen Jahren 15 Schilling Leichtgeld16 geschuldet. Ebenso hat der Erzbischof hier drei Mühlen17, von denen dem Erzbischof jährlich 9 Malter gemischtes Getreide gegeben werden. Von diesen drei Mühlen gibt eine drei kölnische Pfennig, von den anderen beiden gibt jede 10 kölnische Pfennig und für 3 Pfennig Brot und einen Malter Hafer. Außerdem den Schöffen 7 kölnische Pfennig18, dem Schultheiß 1 Pfennig, dem Vogt 1 Pfennig, den Forstbeamten 2 Pfennig19, dem Büttel einen kleinen Betrag (obolum)20.

Ebenso besitzt der Erzbischof hier 3 Felder. Von denen liefert eins 12 kölnische Pfennig, die anderen zwei enthalten 40 Tagewerk21. Ebenso besitzt er daselbst drei Weiden (Brüh-le)22, von denen ungefähr 10 Wagenladungen Heu kommen. Ebenso sind die Forstbeamten des Erzbischofs ihm zu täglichem Dienst verpflichtet. Und dem Schultheiß werden sie 10 kölnische Pfennig und 2 Malter Hafer und Brot im Wert von zwei Pfennig und einen halben Krug Wein geben.

Ebenso: stirbt irgendein Landwirt (mansiona-rius, = Hufner) in diesem Bann, so erhält der Schultheiß eins der besseren Tiere23. Aber wenn einer kein Tier hat, zahlen seine Erben 6 kölnische Pfennig. Ebenso hat der Erzbischof daselbst 6 Kammerforste (Waldstücke). Ebenso hat er daselbst einen Hof24, bei dem sich 56 Morgen Land erstrecken 25, die mit seinem eigenen Pflug gepflügt werden sollen. Die Summe der Pfennige (Denare) ist 8 Mark (marce)26 und 4 Schilling (solidi) und 5 Pfennig. Die Summe des Hafers ist 70 Malter weniger ein Malter; und von den Mühlen 9 Malter. Die Summe der Hühner ist 150, die der Eier 2 250.

 

Anmerkungen:

1 Kolverath gehörte 1444 noch zum Retterather Bann (Urkunde im Bist.-Archiv Trier, Abt. 71, 98, Nr. 17). Retterath wurde 1330 eigene Pfarrei (Schug VI, 9).

2 1 Hufe = ca. 30 Morgen. Der Inhaber einer Hufe war ein Landwirt (= Hufner, mansionarius).

3 Martinsfest =11. November.

4 Der Pfennig war als einziges Nominal die Einheitsmünze im Mittelalter vom 9. -13. Jhdt. Die kölner Pfennige (Denare) waren wegen ihrer hohen Qualität z. Zt. der Urkunde doppelt soviel wert als z. B. die minderwertigen trierer Pfennige, die deshalb auch sogen, leichte Pfennige genannt wurden.

5 Andreas = 30. November.

6 Das Andernacher Malter enthielt 8 Summer gleich dem Mayener Malter. Aber das Volumen des Andernacher Malters war kleiner, nämlich 167,17 Liter gegenüber dem Mayener Malter von 195,31 Liter. Beim Andernacher Maß wurden alle Getreidesorten gestrichen gemessen, beim Mayener Malter-Maß wurden Weizen, Roggen und Gerste ebenfalls gestrichen, Hafer und Spelz aber gehäuft gemessen. Nach Barsch, 257 (s. Lit.) bediente man sich in der Grafschaft Virneburg vor 1794 des Mayener Malters (vgl. Iwanski, 62).

7 Die Ministerialen waren Unfreie ritterlichen Standes, die zu ehrenvollen Diensten (z. B. Hofämter und Kriegsdienste) herangezogen wurden. Für die Urkunde Retterath läßt sich der Begriff mit erzbischöflichen Beamten oder, im modernen Sprachgebrauch, mit Behördenbediensteten übersetzen.

8 Zur Zeit der Urkunde gehörte der Bannbezirk Retterath noch zur Großpfarrei Nachtsheim innerhalb des Dekanates Ochtendung (oktimedinc, Ocktinding). Die Dechanten (deca-ni) traten »als Leiter der Versammlungen der Geistlichen und als Aufseher der öffentlichen Buße in Erscheinung . . .« (Schug VI, 16).

9 Die mittelalterliche Großpfarrei Nachtsheim war der Priestergemeinschaft der Stiftskirche in Münstermaifeld (mona-sterium) unterstellt, von der seit dem 7. Jahrhundert die Christianisierung des Mayengaues (Osteifel) bis in unsere Gegend ausgegangen war (vgl. Schug VI, 1ff u. Pauly l, 109ff).

10 Das Archidiakonat Karden (cardon) umfaßte die 3 Landdekanate Boppard, Kaimt/Zell und Ochtendung. Ursprünglich hatte der Archidiakon die volle und freie Gerichtsbarkeit, er durfte verbessern, visitieren und »alle Gewalt ausüben, welche zu (dieser) Jurisdiktionsgewalt gehörte«. Richterliche Entscheidungen sowie die Verhängung der Exkommunikation gehörten dazu (vgl. Schug VI, 10ff u. Pauly l, 30ff).

11 siehe Anmerkung 4.

12 Damals besaß also noch nicht jeder Bauer einen Pflug. In Lirstal erzählt man sich heute noch die Geschichte von zwei Landwirten aus der Zeit, lange bevor das Dorf (Leppelzal) existierte. Der eine hatte seinen Hof im Distrikt »Oberstheck«, der andere auf der gegenüberliegenden Höhe im Distrikt »Op de Windmühl«, nahe am alten Kirchweg Ober-elz-Retterath. Beide Landwirte besaßen nur eine Egge, die man sich gegenseitig auslieh. Dazu mußte man zweimal das Elztal durchqueren und zweimal die Höhe ersteigen.

13 Hundert Jahre nach unserer Urkunde, um 1350, konnte man den Frondienst mit Pflug oder Egge durch eine Geldbuße (»egenpenninge und artplugpenninge«) bezahlen. Für diese Zeit wird eine Mühle in Arbach und Retterath nachgewiesen. In Retterath gab es ein oberes und unteres Backhaus (also zwei), von denen das obere 1351 auf 4 Jahre für 4 Mark jährlich verpachtet wurde (s. Anm. 26 u. Fabricius 7,2).

14 Die Brote müssen damals wesentlich schwerer gewesen sein als heute. Eine Umrechung ergibt mindestens 6 - Spfün-dige Brote. In einer späteren Urkunde von 1348 fehlt diese nähere Bestimmung (MRUB II, 419).

15 1794 gab es neben dem kurtrierischen Hof in Retterath drei weitere Herrenhöfe, nämlich den Platten-Hof (= Vlat-ten-), den Virneburger Hof und den Monrealer Hof (= Sylvester-).

16 Der Schilling (solidus) war eine Rechenmünze, die zu der Zeit 12 Denare oder Pfennige galt.

17 Eine Mühle stand sicher zwischen dem kurtrierischen Hof und der späteren Pfarrkirche. Von den beiden anderen war wohl eine für den Bereich des heutigen unteren Kirchspiels (Arbach, Oberelz, Lirstal) zuständig, die andere für den Bereich des heutigen oberen Kirchspiels (Bereborn, Kolverath, Mannebach). Siehe dazu Anm. 13.

18 Das Gericht zu Retterath war mit 7 Schöffen besetzt, also erhielt jeder Schöffe einen kölner Pfennig.

19 Demnach waren zwei Förster im Bannbezirk Retterath tätig.

20 Der Obolus war im Mittelalter eine Bezeichnung für dieHalbstücke der Pfennige. Da ein kölner Pfennig gleich zwei trierische galt, kann man annehmen, daß der Büttel einen leichten trierer Pfennig (= 1/2 kölner Pfg.) erhielt.

21 Als Tagewerk gilt eine Fläche von etwa 2 Morgen (0,5 ha).

22 Die Wiese »Im Brüll« gibt es heute noch in Retterath (vgl. Trierer Zeitschrift 1980/81, S. 435).

23 Es handelt sich hier um die Abgabe im Sterbfall, die Kurmuth (kurmede, Kirmuth), die beim Tode eines Abhängigen (Hörigen oder Leibeigenen) an den Herrn zu zahlen war. Im Weistum Retterath von 1553 heißt es noch (ÜB 1982, S. 161): »Wan ein Einwohner im Kirchspill stirbt, welcher ein Ehemann ist, und hat soviel, daß man einen drei-stempli-chen Stuhl darauf setzen kann, der ist den Trierischen ein Kurmuth verfallen, und heben alle Zeit das nächst nach dem Besten, von den Pferden an. Ist kein Pferd, so sind es Kühe, Ochsen«. Noch heute gibt es in Kolverath den Ausdruck »korre losse«; »jeff ihm die korr«, heißt: »loß ihn korre«, d. h., laß ihn probieren, schmecken, Anteil haben. Der Begriff der Kurmuth klingt hier im Dialekt noch nach.

24 Vgl. Trierer Zeitschrift 1980/81, S. 435, Retterath 4.

25 Bei Schug (VI, 399) werden 55 M. angegeben. In unserer Urkunde steht aber LVI.

26 Als Mark gilt hier die kölner Gewichtsmark von 233,856 Gramm, aus der damals die Pfennige (Denare) geprägt wurden.

Abgekürzt zitierte Literatur:

Barsch             = Eiflia Illustrata, Der Kreis Daun, Bd. 2, Neudruck der Ausgabe 1854, Osnabrück 1982.

Fabricius         = Wilh. Fabricius, Erläuterungen zum geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz, 7. Band,

                           die Herrschaften des Mayengaues,  Bonn 1930 (posthum).

MRUB              = Urkundenbuch zur Geschichte der Mittelrheinischen Territorien, bearbeitet von Beyer,

                            Eltester und Goerz, Bd. 2,Neudruck der Ausgabe Koblenz 1865, Aalen 1974.

Pauly                = Ferdinand Pauly, Aus der Geschichte des Bistums Trier, Bd. l, 1968.

Schug               = Pfr. Peter Schug, Geschichte der Pfarreien der Diözese Trier, Bd. VI, Trier 1961.

Iwanski             = Wilhelm Iwanski, Geschichte der Grafen von Virneburg, Koblenz 1912.