Mein Nachbar: Wolles Juppes

Eine Erzählung aus Kindestagen über dörfliches Leben

Theo Pauly, Gerolstein

Früher noch mehr als heute hatte jedes Dorf zumindest einen besonderen Menschen, ein Original, aufzuweisen. War es der griesgrämige Hagestolz, der verbittert und raunzend seinen Lebensweg ging, war es der schrullige Alte, der häufig der Umwelt unverständlich agierte und reagierte, oder war es einer wie Wolles Juppes, der in einer Welt voller Geister und Gespenster, Irrlichter und Prophezeihungen lebte.

Wolles Juppes war Junggeselle und lebte im Haushalt seiner Schwester, die mit einem Mann verheiratet war, der die Kunst des Körbeflechtens, Besenbindens, ja sogar die des Dachdeckens mit Stroh beherrschte. Man betrieb eine kleine Landwirtschaft, die gerade das Nötigste zum Leben erbrachte; ein wenig bares Geld verdiente man sich mit dem Flechten von Brotkörbchen (Rümpchen), in denen der Brotteig bis zum Einschießen in den Backofen aufbewahrt wurde, mit dem Flechten von Einkaufskörben, Bienenkörben, dem Binden von 'Besen aus Birkenreisern, dem Herstellen von Kartoffelkörben aus Weidenruten und ab und zu auch einmal mit dem Ausbessern eines Strohdaches.

Wolles Juppes aber, der Junggeselle, hatte mit alldem nichts zu tun. Er betrieb die Landwirtschaft und versorgte seinen Bienenstand. Immer aber war er befaßt mit Irrlichtern, die ihn des Abends und des Nachts versuchten, in die Irre zu führen; mit Gespenstern, die sich ihm in der Nacht schwer auf die Brust setzten und versuchten, ihm die Luft abzudrücken, mit den Geistern oder Seelen Verstorbener, die ihm Botschaften brachten von Unglück und Verderben, von Not und Tod.

Ich habe Wolles Juppes nur als alten Mann gekannt, wie auch seine Schwester und sein Schwager, der geschickte Flechter, in meiner Kindheit schon alte Leute waren. Sie waren unsere nächsten Nachbarn, und so war ich jeweils auch an ihren Sterbebetten dabei. Juppes starb im Jahre 1939 und wurde als zweiterauf dem »Neuen Kirchhof« in Hilgerath beerdigt (der erste, der dort seine letzte Ruhestätte gefunden hatte, war kurz vorher »Klasen Eedem« aus Sarmersbach gewesen, übrigens auch ein damals in der Struth bekanntes Original wenn auch in anderer Hinsicht als Wolles Juppes); seine Schwester »Schritt« starb etwa vier Jahre später und sein Schwager »Antunn« kurze Zeit darauf.

Alle, die in »Wolles Haus« lebten, waren alt; der Sohn des Hauses, Wolles Josef, war geistigbehindert und ist vor einigen Jahren siebzigjährig im Kloster Ebernach bei Cochem verstorben.

Da nun alles alte Leute waren, beziehungsweise der Sohn des Hauses sich auch nicht selbst vorstehen konnte, war es mit der Sauberkeit in »Wolles Haus« nicht zum Besten bestellt. Es gab dort Flöhe in Massen, was mich als kleinen Jungen jedoch nicht abhielt, regelmäßig dorthin »Kässchmieren« essen zu gehen. Einmal wurde der »Käse« (Quark) in einer hölzernen Schüssel aufbewahrt, die es zum Beispiel bei uns zu Hause nicht gab, und' die »Wolles Antunn« selbst hergestellt hatte, und der Quark wurde auch mit einem hölzernen Löffel aufgerührt und aufs Brot geklatscht, alles Dinge, die ich zu Hause nie erlebte. Dazu schmeckte der Quark so schön ranzig, jedenfalls anders als zu Hause und darum für mich besser.

Mein besonderes Verhältnis zu Wolles Juppes aber kam dadurch zustande, daß er allabendlich, vornehmlich in der kalten Jahreszeit — und die dauert in der Hocheifel ja bekanntlich ziemlich lange — zu uns ins Haus kam, sich neben den warmen Herd in der Küche auf die Holzkiste setzte, um sich aufzuwärmen und nicht müde wurde, phantastische Geschichten zu erzählen.

Da erfuhr ich vom »Wootesheer« (Wotans Heer), das im November und Dezember durch den Himmel braust, wenn andere Leute sich über Herbst- und Winterstürme unterhalten und aufregen; ich erfuhr von den Seelen Verstorbener, die als »Irrlichter« auf der Erde herumirren müssen, weil sie zu Lebzeiten einen Grenzstein versetzt oder sonst etwas Böses getan hatten und nun keine Ruhe fanden, von den Armen Seelen, die man einquetschen und verletzen kann, wenn man eine Tür im Haus fest zuschlägt, weil und wenn diese Armen Seelen sich gerade zwischen Tür und Angel befinden, von den Gespenstern, die sich des Nachts den Menschen schwer auf die Brust setzen und versuchen, die Atemluft abzuwürgen, denen man aber dadurch entgehen kann, daß man beim Zu-Bett-gehen die Schuhe nicht mit den Spitzen zuvorderst unter das Bett stellt, sondern umgekehrt. Da wurde ich ermahnt, leise zu sein, wenn das Radio lief, weil mich sonst die Radioleute hören würden. Da erzählte er von schlimmen Zeiten, die bevorstünden, wenn man sich über kilometerweite Strecken unterhalten könnte, ohne Drähte dazu zu benutzen wie beim Telefon, und daß die Welt unterginge, wenn es nur mehr zwei große Reiche auf der Welt gäbe. Hatte er wirklich Zukunftsvisionen? < Wir wollen hoffen, daß er sich irrte.

Ungeachtet dessen begannen die Flöhe, die sich tagsüber in seiner Kleidung eingenistet hatten, durch die Herdwärme aufgemuntert, zu hüpfen und neue Nahrungsquellen zu suchen. So war denn ihr nächstes Opfer der kleine vorwitzige Junge, der zu Füßen des weisen alten Mannes hockte und begierig die schaurigschönen Geschichten und Sprüche in sich aufnahm. Da nützte auch kein Schimpfen der Mutter oder ihr verzweifelter Versuch, den Sprößling von der Nähe des Mannes mit den kleinen, sprunggewaltigen, ewig blutdürstigen Tierchen fernzuhalten, allzu interessant und hörenswert, aber auch phantasievoll und -anregend waren die Darstellungen und Erzählungen.

Eine weitere, hochinteressante Sache war, wenn Wolles Juppes sich seine irdene Pfeife, das »Hänschen«, mit Tabak gestopft hatte und von der Holzkiste aufstand, vor den Herd trat, die Feuerungstür öffnete, nach dem Schürhaken griff und die Herdglut auf- und zusammenschürte und alsdann mit den bloßen Fingern ein Stück glühender Holz-Kohle herausnahm und auf seine gestopfte Pfeife legte. Mit schnellen kurzen Zügen an dem Pfeifenstummel wurde der Tabak zum Glühen gebracht, und genußvolle lange Züge, begleitet von einer gewaltigen Qualmwolke, zeugten vom Erfolg der Aktion. Jetzt wurde das auf dem Pfeifenkopf liegende glühende Kohlestück nicht etwa von der Pfeife einfach wieder ins Herdfeuer zurückbefördert, sondern wiederum mit den bloßen Fingern abgenommen und ins Feuer zurückgeworfen. Ein eigener Versuch, diese Methode anzuwenden, endete mit Brandblasen auf den Fingerkuppen und einem verzweifelten Indianertanz.

Der Geister- und Gespensterglaube des alten Junggesellen war natürlich allgemein bekannt, und man schmunzelte insgeheim darüber, aber Achtung hat ihm jedermann entgegengebracht. Es gab da allerdings auch die männliche Dorfjugend, die sich einen Spaß daraus machte, diesen Geisterglauben des Alten für das eigene Vergnügen auszunutzen. Und so brachte man dann des Abends, wenn man wußte, daß Juppes schon zu Bett gegangen war, ihm »seine Geister«: mit Strohwischen, langen Birkenreisern und flachen Steinen strich man an der Außenwand des Hauses auf und ab oder in kreisenden Bewegungen und verursachte so »gespenstische« Geräusche, man ließ alle möglichen Stimmen und Laute hören und bewegte an einer langen Stange eine brennende Kerze vor dem Schlafzimmerfenster, damit auch die »Irrlichter« nicht fehlten. Und der arme, geängstigte Mann sprach laute Gebete und versprengte Unmengen von Weihwasser, um Geister, Gespenster und Irrlichter zu vertreiben. So mißbrauchten gedankenlose Jugendliche die seltsamen Eigenarten des Alten zu eigenem vergnüglichen Schabernak. Ich bin sicher, Wolles Juppes hat allen verziehen, denn er war ein von Grund auf gutmütiger und kein nachtragender Mann.

Eines Tages wurde er bettlägerig krank, und um seine Pflege war es nicht besonders gut bestellt. Diese Pflege übernahmen die Nachbarsfrauen, und meine Aufgabe war es, ihm allmittäglich einen Teller mit Essen ans Bett zu bringen und dann zu warten, bis er zu erkennen gab, daß er satt sei; in den letzten Wochen seines bedrückten und angstreichen irdischen Daseins mußte ich ihn sogar füttern. Nie werde ich den dankbaren Ausdruck in seinen Augen vergessen, mit dem er mich nach der jeweili; gen Mahlzeit verabschiedete. Ich erinnere mich, daß ich noch lange Zeit nach seinem Tode des öfteren zum Dreesberg hinübergeschaut habe, weil ich ihn zeitlebens oft auf dem dortigen Acker pflügen und arbeiten gesehen hatte. War es das Gefühl, einen Freund verloren zu haben?

Heute existiert nicht einmal mehr sein Grab auf dem Kirchhof von Hilgerath, aber in der Erinnerung lebt er weiter, der alte, furchtsame weise Mann, »Wolles Juppes«.