Exportartikel: Nachbarschaftshilfe

Lotte Schabacker, Daun

 

Telefon! Ich humpelte mühsam hin. Die Stimme der Nachbarin: »Die Ärztin war ja gerade bei Ihnen, ich sah ihren Wagen vor der Tür stehen. Was ist? Sind Sie krank? Können wir Ihnen helfen?«

Nein, herzlichen Dank, im Moment nicht, denn die andere Nachbarin hatte schon für mich eingekauft, und die dritte würde mich gleich zum Radiologen fahren. Mein Fuß ... Nachbarschaftshilfe! So oft schon totgesagt. Teils belustigt, teils wehmütig zu den Akten gelegt. Eingefroren zur Kalenderweisheit. — wie die Treue etwa. Aber in kleinen Orten wie dem unseren hatte sie fröhlich überlebt! Munter genug zum Export in die großen Städte. Warum soll Provinz, wie man uns so gern nennt, denen immer nur frische Eier liefern? Sie haben wohl manches andere viel nötiger!

Mein Großvater fiel mir ein. Er hatte mal wieder recht behalten, letzten Endes, der alte Bauer! »Ein guter Nachbar ist mehr wert als ein guter Freund!« hatte er oft gesagt. Gewiß wollte er damit nicht ausdrücken, daß Freundschaft gering zu achten, sondern wie hoch Nachbarschaftshilfe einzuschätzen sei.

Der Großvater war ein kluger Mann. Nachdem er in seinen alten Tagen zur Tochter in die große Stadt gezogen war, ergänzte er: »Ein guter Nachbar war auch mehr wert als Geld!« Als Geld? Zweifelnde Kindergesichter. »Jawohl, als Geld! Wenn etwa der Bauer schwer krank wurde. . .« »Dann konnte er sich doch den besten Arzt leisten und die beste Medizin, wenn er genug Geld hatte.« »Und wenn im Dorf weder Arzt noch Apotheke waren? Und die Frau den Kranken nicht stundenlang allein lassen konnte? Dann spannte der Nachbar an und fuhr zum Doktor in die nächste Kleinstadt, auch wenn es mitten in der Nacht war.«

Schon beim Beladen des Erntewagens war mehr als ein kräftiges Händepaar nötig. Und bei all den wichtigen Dingen des Lebens gab es oft keinen Ersatz für die Nachbarschaftshilfe: Wenn ein Haus gebaut wurde, wenn eins abbrannte, wenn der Tod kam, bei der Geburt! Wer anders hätte nach der Wöchnerin schauen sollen als die Nachbarin?

Ein guter Nachbar zu werden ist ein Lernprozeß, und der sollte schon beim Kind einsetzen. Zu Großvaters Zeiten und davor ergaben sich solche Lehrjahre zwangsläufig, denn vor der Hilfe des Nachbarn mußten ja die Kinderhände in der Familie genutzt werden. Selbst die damals fortschrittlichen Eltern, die Schreiben- und Rechnenlernen für wichtig hielten, schickten die Kleinen nicht zur Schule, wenn ihre Hilfe auf Hof und Feld gebraucht wurde. Notwendiger als das neue Gedicht war immer noch die Kartoffelernte, zum Beispiel.

Die Stadtenkel fanden die Sache mit der geschwänzten Schule famos und bedauerten, daß dieser Brauch so ganz aus der Mode gekommen war. Aber auch für sie war die aktive Nächstenhilfe noch eine tägliche Erfahrung und Übung. Da war der Großvater, zugleich lebhaften Geistes und von der Gicht geplagt, dem man dauernd etwas holen, die fast blinde Großtante, der man die Zeitung vorlesen mußte, die kleineren Geschwister, die beaufsichtigt, Garten und Hühner, die versorgt sein wollten. Da waren die offenen Feuerstellen, der große Waschtag, Berge von Stopf- und Bügelwäsche, die vielen Handreichungen für die Mutter, die allein mit einem solchen Maxi-Haushalt nicht hätte fertigwerden können.

Nun haben die Enkel schon Enkel, und ihnen ist in unserer schnell sich verändernden Welt weitgehend die Gelegenheit zu solchem Behilflichsein genommen. Die alte Generation wandert heute in Seniorenheime aus, Hühner und Gemüsegärten in der Stadt sind zur Sage geworden, der Kinderreichtum ist ins Gegenteil umgeschlagen, und um die Tastatur des elektrifizierten Haushalts zu bedienen, genügen meist zwei Hände. Selbst bei Pflichten, die letztlich dem eigenen Wohl dienen, den Schulaufgaben nämlich, helfen heute die Eltern ihren Kindern.

Auch Großvaters ländliche Bilder stimmen so nicht mehr. Traktoren und Mähdrescher sind Ein-Mann-Betriebe, aus den Viehställen alter Art werden zunehmend automatisierte Mammutunternehmen; und wenn man den Arzt braucht, geht man zum Telefon. Und auch die Landkinder sind mit ihren eigenen Angelegenheiten und weiten Schulwegen beschäftigt, wenn sie in der Schule nicht ins Hintertreffen geraten wollen. Aus den kleinen Helfern von gestern sind Versorgte geworden, hier wie da.

Es ist inzwischen eine Erfahrungstatsache, daß Hilfe nur im Passiv, in Duldeform, nicht eigene Hilfsbereitschaft fördert, sondern eigene Ansprüche, ja, Anmaßung. So gut wie nie wird aus einem, der stets von vorne und hinten bedient wurde, ein hilfreicher Mensch. Wir werden nun einmal als Egozentriker geboren, wir müssen das Helfen lernen wie das Schwimmen; bestimmt in einer Welt, die der helfenden Zuwendung wohl noch mehr bedarf als die von gestern. Denn dieselbe Entwicklung, die uns von grober Arbeit befreite und unsere Familien verkleinerte, hat uns eine neue Not beschert: die Angst vor Vereinsamung und vor dem Versagen! Die gnadenlosen Erfolgsspielregeln unserer Wirtschaft, auf denen unser Wohlstand beruht, bringen uns allzu oft statt des erhofften Glücks psychosomatische Leiden. Das ist inzwischen nun schon ein altes Lied!

Nein, wir brauchen niemanden mehr, der für uns Holz hackt, auf den offenen Kamin in einem komfortablen Neubau ist im Ernst keiner angewiesen. Zudem kann sein Feuer keine menschliche Wärme ersetzen. Und die ist es, die wir brauchen, alle miteinander! Und deshalb ist es so wichtig, daß uns nicht Generationen von »Kalten«, von Ungefälligen heranwachsen, von Hilflosen noch dazu, denn wer wird wem helfen, wenn man einmal unter sich sein wird? Welch trostloses Dasein würde das sein?

Es kann keine allgemeingültigen Regeln geben, wie man auch heute die Kinder das Helfen lehren soll, denn jeder Fall liegt anders; aber ein Haushalt, in dem helfende oder aufräumende (auch wenn's nur der eigene Kram ist) Kinderhände völlig überflüssig wären, ist mir noch nicht bekanntgeworden. Und was die Einstellung zum Nachbarn angeht: natürlich können wir unsere Kinder nicht

dazu anhalten, der kränklichen Nachbarin den Abfalleimer nach unten zu bringen, wenn die einen Müllschlucker hat, zum Beispiel. Notstände zu simulieren kann nur Renitenz hervorrufen. Aber ihren Hund ausführen, wenn es regnet, und sie von ihrem Rheuma geplagt wird, das wäre sinnvoll. Auch dies nur ein Beispiel. Dafür aber muß man wissen, daß sie die Neigung zu Rheuma hat! Am Anfang der Lehrzeit also steht die von den Erwachsenen vorgelebte Aufmerksamkeit dem Nachbarn gegenüber, und zwar die von der freundlichen Sorte! Die bei seinen Sonderbarkeiten auch einmal ein Auge zudrücken kann! Der die nachbarlichen Pannen höchstens ein Trost sind (Pannen gibt's also nicht nur bei uns selbst), und keine Genugtuung. Die ihm gönnt, was er besitzt! Was vielleicht das Wichtigste isfv

Nachbarschaftshilfe auch in der dem Heute gemäßen Form ist nicht nur ein Glück für den, der sie braucht, sie ist auch Charakterbildung im guten Sinn für den, der sie leistet. Ob in kleinen oder großen Städten! Ach ja, zum Schluß dann drückte der Großvater sich so aus: »Dein Nachbar ist der, der gerade deine Hilfe braucht!« Er war eben ein kluger Mann!