»Der Stein im Walde«

Das Selertskreuz zwischen Berndorf und Wiesbaum

Hans-Gregor Adrian, Bonn

 

»Der Stein im Walde«, so überschreibt der Dichter Karl Knauft sein Gedicht über ein unscheinbares Kreuz aus rotem Sandstein, das im Berndorfer Forst unter einer mächtigen Eiche steht und an einen Mord erinnern soll, der vor nun schon fast 400 Jahren begangen wurde.

Der als lateinisches Kreuz ausgebildete, etwa 90 cm hohe Stein steht an einem alten Waldweg, etwa auf halbem Wege zwischen Berndorf und Wiesbaum. Obwohl »das Selertskreuz« einen festen Platz in der Berndorfer Geschichte hat, drohte es in der letzten Zeit doch etwas in Vergessenheit zu geraten. Es ist daher sehr zu begrüßen, daß es im letzten Jahr endlich einen festen Platz bekam, wo es auchfür Ortsunkundige leichter zu finden ist und hoffentlich das Ziel zahlreicher Sonntagsspaziergänger sein wird.

Die 400 Jahre sind natürlich nicht spurlos an dem kleinen Sandsteinkreuz vorübergegangen, dennoch kann der Betrachter mit etwas Mühe den größten Teil der Inschriften auf der Vorder- und Rückseite entziffern. Auf der Vorderseite steht:

(Man schlug ihn in der?)

FERNEE TOT (ums Geld?)

SELERT GRAEFLICHER

RENTMEI

STER ZU ' SCHLEIDN

GOTTSEY

GNEDIG

Unter der Inschrift befindet sich ein in den Stein gemeißelter Totenkopf. Weitere Angaben finden wir auf der Rückseite des Kreuzes:

IST VON DEN

SCHLEIDENER

UNDER

DÄNEN

AUSGE

 SAND

Darunter befindet sich ein von einem Kreis umschriebener, barocker (?) Wappenschild, der allerdings leer ist.

Außer 2 Valuten, die sich, von den Kreuzarmen ausgehend, am Schaft entlangziehen, fehlen weitere Verzierungen, Inschriften oder gar Jahresangaben. Nach der Überlieferung stammt das Kreuz aus dem Jahr 1593 und wurde zum Gedenken an den hier ermordeten gräflichen Rentmeister Selert von Schleiden errichtet.

Bei dem Versuch, die Tat und die näheren Begleitumstände zu rekonstruieren, ist man zunächst auf die Kreuzinschrift angewiesen. Offensichtlich war doch der Ermordete, dessen Titel wohl eher an eine Tätigkeit in gräflichen Diensten denken läßt, im Auftrag der Schleidener Untertanen unterwegs. Dieser ausdrückliche Hinweis auf der Rückseite des Kreuzes macht zumindest die Version des Volksmundes unwahrscheinlich, es habe sich bei dem Ermordeten um einen Steuereinnehmer gehandelt, denn dieser wäre mit Sicherheit im Auftrage der Obrigkeit unterwegs gewesen. Daher kann angenommen werden, daß der »von den Schleidener Underdanen« Ausgesandte auf dem Weg vom oder zum Herrn von Schieiden überfallen und ermordet wurde. Der Herr von Schleiden muß sich also an einem Ort befunden haben, der von Schleiden aus über den Berndorfer Wald zu erreichen war. Berndorf selbst kommt, ebenso wie Hillesheim, als Sitz des Herrn von Schleiden nicht in Frage, denn es gehört schon seit 1352 zum Kurfürstentum Trier.

Allerdings kann, wie uns ein Blick in die »Eiflia illustrata« lehrt, der Herr von Schleiden in dieser Zeit auf der Burg Kerpen residiert haben, womit der Ort der schaurigen Tat genügend erklärt wäre.

Im Jahre 1548 hatte Dietrich IV. von Manderscheid-Schleiden die Herrschaft Kerpen seinem Sohne Dietrich V. übertragen. Die Söhne Dietrichs V. teilten 1561 das Erbe so, daß Dietrich VI. u. a. Manderscheid, Schleiden, Kasselburg und Kerpen erhielt. Als nun Dietrich VI. am 3. Januar 1593 starb, ohne einen Erben zu hinterlassen, flammten die schon seit Jahrzehnten andauernden Erbstreitigkeiten um die Herrschaft Kerpen wieder auf.

Ein Schwager Dietrich VI., Philipp von der Mark, meldete Ansprüche auf die Hälfte der Hinterlassenschaft von Dietrich VI. an, obwohl er sich schon im Jahre 1581 wegen der Aussteuer seiner Frau Katharina mit Dietrich VI. und dessen Bruder Joachim verglichen hatte." Zur Bekräftigung seines Anspruches besetzte Philipp von der Mark am 6. Februar 1593 die Burg Kerpen mit Gewalt.

Da aber der Tag des hl. Martin, der 11 .November, seit alter Zeit der Tag war, an dem der Landesherr die Abgaben seiner Untertanen entgegennahm, kann man annehmen, daß Selert etwa Mitte November ermordet wurde.

Andererseits ist eine eindeutige Festlegung auf das Jahr 1593, entgegen anderslautenden Vermutungen, nicht möglich, da auch schon früher, und auch später noch, ein Herr von Schleiden auf der Burg Kerpen gesessen haben kann.

Über den Mörder Selerts ist nur wenig bekannt. Es soll »der rote Schäfer« von Kerpen gewesen sein, ein Umstand, der ebenfalls für Kerpen als Ziel der Mission des Rentmeisters spricht. Ob der Überfall nun vor oder nach dem Besuch auf der Burg Kerpen verübt wurde, konnte nicht mehr in Erfahrung gebracht werden. Glaubt man allerdings den Versen von Karl Knauft, dann befand sich der Rentmeister schon auf dem Heimweg, denn im Gedicht heißt es:

    »Fand im Sack nur einige Dreier; Gold brachte der Mord ihm nicht!«

 Für diesen Mord mußte der »rote Schäfer« am Galgen sterben. Wahrscheinlich starb er auf dem Koberg, etwa auf halbem Weg zwischen Berndorf und Kerpen, wo in dieser Zeit - alten Karten zufolge - an weithin sichtbarer Stelle der Galgen des Kerpener Gerichtsbezirkes stand.

Die Frage, ob das Selertkreuz nun ein echtes Sühnekreuz ist und ob es vielleicht vom Mörder selbst zur Sühne und für das Seelenheil des Ermordeten aufgestellt wurde, ist schwer zu beantworten. G. J. Meyer vermutet, daß zu dieser Zeit keine Sühnekreuze mehr aufgestellt wurden. Außerdem spricht die Inschrift auf der Kreuzrückseite wohl eher für die Annahme, daß die Schleidener dieses Kreuz aufgestellt haben, um auf diese Weise an den Ermordeten zu erinnern und für sein Seelenheil zu bitten. Zu welchem Zeitpunkt das Kreuz aufgestellt wurde, ist noch weniger gewiß. Der auf der Rückseite des Kreuzes eingemeißelte Wappenschild trägt barocke Züge, was dafür spricht, daß der Stein erst einige Jahre nach dem Mord errichtet worden ist.

So steht die Rekonstruktion der Ereignisse um die Ermordung des gräflichen Rentmeisters Selert von Schleiden nach wie vor auf recht  wackeligen Füßen. Daher soll an dieser Stelle das Gedicht von Karl Knauft »Der Stein im Walde« vorgestellt werden, in der Hoffnung, daß Knauft das in seinem Gedicht verarbeitet hat, was ihm die Dorfbewohner in den 20er Jahren noch über das Selertkreuz erzählen konnten.

 

Er ritt seit Jahren des Weges,

Zog Renten und Steuern ein,

War immer noch heimgekommen

Mit dem, was er eingenommen;

Doch heut sollt das nicht mehr sein!

 

Dort, wo der Waldgrund düster,

Weitab von Dorf und Weg,

Wo jeden packt ein Schauer -

Lag einer auf der Lauer

Im dichtesten Geheg.

 

Nicht ahnten die letzte Stunde

Der Rentmeister und sein Roß -

Doch plötzlich - er wollte noch wenden -

Hoch griff er mit beiden Händen,

Getroffen vom Geschoß.

 

Sank rücküber aus dem Sattel

Und hauchte sein Leben aus;

Sein Roß, gejagt vom Schrecken,

Brach waldeinwärts durch

Schonung und Hecken -

Kam ohne den Herrn nach Haus !

 

Zum Toten kroch der Räuber

Aus seinem Hinterhalt:

Heiß gierte er nach der Beute -

Doch - wie er den Mord bereute,

Vernahm nur der stille Wald.

 

Fand im Sack nur einige Dreier;

Gold brachte der Mord ihm nicht!

Er bereute - er zählte - er suchte,

Warf die Dreier, die er verfluchte,

Dem Toten in das Gesicht.

 

Und mußte am Galgen hangen,

Raubvögeln a/s feister Fraß;

Die verschleppten in ihren Krallen,

Bis kein Knochen mehr blieb

von dem allen,

Was am Galgen verrottet zu As. -

 

So steht es im verwetterten Steine

Gemeißelt Wort für Wort,

Nachdenkend hab ichs gelesen:

»Gott - ist das Dein Wille gewesen?

Ist Hängen nicht auch wieder Mord?«

 

Wenn uns das Gedicht auch keine historischen Fakten vermittelt, so schildert es doch treffend, wie uns der Stein, über den konkreten Mord hinausgehend, an menschliche Leidenschaften, an Habgier, Mordlust und Rache gemahnt. Somit schlägt dieses kleine Gedicht eines fast unbekannten Dichters eine Brücke zwischen einem 400 Jahre alten Mord und der Gegenwart, indem es - besonders in den imponierenden Schlußzeilen - die hinter den historischen Ereignissen liegenden Fragen aufzeigt, die nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben.

 

Literaturhinweise:

1 Eckers, Andreas: Allerhand aus dem Eifelland, Bd. l, Daun 1900.

2 Knauft, Karl: Mater Eiflia, Breiten (Baden) 1933.

3 Meyer, Georg Jakob: Wegekreuze im Kreis Daun. Manuskript.

4 Schannat-Bärsch: Eiflia illustrata oder geographische und historische Beschreibung der Eifel. Von Johann Friedrich Schannat. Aus dem lateinischen Manuskripte übersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen bereichert von Georg Barsch. Bd. l-lll, Köln, Aachen und Leibzig 1824-1855.

5 Wagner, Herbert: Kerpen (Hohe Eifel) = Rheinische Kunststätten, Heft 233, Köln 1980.