Erinnerungen an »Tunne Stein«

Häusliche Krankenpflege in der Struth im Jahre 1920

Theo Pauly, Gerolstein

 

Das Krankenbuch der Kranken- und Unfallpflegestelle in Beinhausen vom Jahre 1920 ist geführt von der Krankenpflegerin Christina Mayer. Das Buch ist herausgegeben von der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz, Düsseldorf, und diente der Aufzeichnung und Kontrolle der einzelnen Pflegedienste.

Interessant sind die »Bemerkungen zur Führung des Tagebuches, Pflegebuches und Sammelbuches«; sie lassen erkennen, daß die Herausgeber keine allzu hohe Meinung von der Intelligenz der Pflegerinnen hatten. Um ganz sicher zu gehen, fügten sie der »Gebrauchsanweisung« folgende Anmerkung bei: »Da die ersten Aufzeichnungen und die Führung des Krankenbuches voraussichtlich den Pflegerinnen einige Schwierigkeiten bereiten werden, mögen sie im Zweifel den Pfarrer, Lehrer oder die Lehrerin für die ersten Aufzeichnungen zu Rate ziehen.«

Bei Durchsicht des Buches kann festgestellt werden, daß »Tunne Stein«, so hieß Christina Mayer in der Struth, offensichtlich keine Schwierigkeiten mit ihren Eintragungen hatte. »Tunne Stein« lebte unverheiratet mit ihren ebenfalls unverheirateten Geschwistern Maria genannt »Tunne Marie«, Anton, genannt »Tunne Tunn« und Johann, genannt »Tunne Johann«, in einem Haushalt. Dieser Haushalt war eine Oase der Ruhe, jedenfalls wurde nie ein lautes oder unfreundliches Wort von einem der Junggesellen vernommen. Hilfsbereit waren sie alle vier, und von daher ist es nicht verwunderlich, daß eine von ihnen dem Beruf der Krankenpflegerin nachging.

In diesem Jahre 1920, als der Versailler Friede in Kraft trat, als Hitler in München das 25-Punkteprogramm der »Nationalsozialistischen Arbeiterpartei« verkündete, als der Kapp-Putsch in Berlin scheiterte, als bürgerkriegsähnliche Zustände im Ruhrgebiet herrschten, als Karol Woityla, der spätere Papst Johannes " Paul II, geboren wurde, als die erste Versammlung des Völkerbundes in Genf stattfand und der amerikanische Präsident Wilson den Friedensnobelpreis erhielt, als im Zuge der ständig weiter um sich greifenden Inflation der Kreis Daun eigene Geldscheine herstellte, in diesem Jahre 1920 hat »Tunne Stein« in 876 Einsätzen insgesamt 119 Menschen, vom Säugling bis zum Greis, gepflegt. Darunter waren 32 Ganztagspflegen und 20 Nachtwachen. 62 mal hat sie Erste Hilfe geleistet und Notverbände angelegt in diesem Jahr, 465 mal Wundverbände angelegt bzw. erneuert. In 31 Fällen mußte sie den Arzt benachrichtigen, weil ihre Pflegekunst nicht ausreichte, in 21 Fällen mußten Pflegegeräte eingesetzt bzw. ausgeliehen werden.

Der Pflegebereich umfaßte die sieben Dörfer der Pfarrei Hilgerath; in einem Falle wurde noch eine 47jährigen Frau in Rengen, die an Ruhr erkrankt war, in 11 Tages- und 11 Nachtpflegen betreut.

Insgesamt wurden in Beinhausen, dem Wohnort von »Tunne Stein«, in diesem Jahr 1920 12 Männer, 20 Frauen, 5 Jungen, 2 Mädchen und 5 Säuglinge in 441 Einsätzen pflegerisch versorgt. Darunter wurde 30 mal Erste Hilfe geleistet, 249 mal wurden Wundverbände angelegt bzw. erneuert, 14 mal wurde der Arzt benachrichtigt, 7 Tag- und 4 Nachtpflegen wurden durchgeführt, und 7 mal wurden Pflegegeräte eingesetzt.

Krankenpflegerin Christina Mayer aus Beinhausen, genannt »Tunne Stein«.

In Boxberg wurden 5 Männer, 2 Frauen, 2 Mädchen und 5 Säuglinge in 93 Einsätzen versorgt. Darunter wurde 6 mal Erste Hilfe geleistet, 44 mal wurden Wundverbände angelegt bzw. erneuert, 2 mal wurde der Arzt benachrichtigt.

In Neichen waren es 12 Männer, 17 Frauen, 1 Junge, 6 Mädchen, 4 Säuglinge in 286 Einsätzen, davon 7 Tagespflegen, 23 mal Erste Hilfe, 181 Wundverbände, 8 Benachrichtigungendes Arztes und 11 Ausleihen von Pflegegeräten. In Kradenbach wurden lediglich 1 Mann, 2 Frauen und 1 Säugling in 14 Einsätzen versorgt. Hierbei wurde 2 mal Erste Hilfe geleistet, 9 Wundverbände angelegt, 1 mal der Arzt benachrichtigt und 1 Pflegegerät ausgeliehen. In Nerdlen waren es 1 Mann, 2 Frauen, 1 Mädchen und 4 Säuglinge in 23 Einsätzen; hiervon waren 7 Tages- und 4 Nachtpflegen, 1 mal wurde Erste Hilfe geleistet, 3 mal der Arzt benachrichtigt und 1 Pflegegerät ausgeliehen. In Sarmersbach wurden lediglich 5 Säuglinge in 15 Einsätzen betreut, in Gefell 2 Säuglinge in 4 Einsätzen.

In diesem Jahr 1920 hat »Tunne Stein« bei ihren 876 Einsätzen immerhin bei vorsichtiger Schätzung über 1 700 km zu Fuß zurückgelegt; das entspricht in etwa der Entfernung Trier -Flensburg und zurück.

Auf den ersten Blick erscheint auffällig, daß die meisten pflegerischen Einsätze in Beinhausen und Neichen erfolgten. Hierfür werden sicherlieh rein menschliche Überlegungen Grund gewesen sein:

In Beinhausen wohnte »Tunne Stein«, jeder kannte sie, sie kannte jeden. Da war man schneller bereit, bei einer Verletzung o. ä. die »Krankefläjesch« zu rufen, wie übrigens die meisten Einsätze wegen Verletzungen an Händen und Füßen oder wegen Geschwüren erfolgten. Die Besuche bei den Säuglingen erfolgten wohl mehr routinemäßig und dienten der Überwachung und Kontrolle, lediglich in zwei Fällen mußten bei Säuglingen Ausschläge am Kopf behandelt werden.

Auch in Neichen war jeder Beinhauser bekannt und umgekehrt, ging man doch gemeinsam in Neichen zur Schule, und mehr noch waren die Beinhauser in Neichen zu Hause als die Neichener in Beinhausen. Was hätte auch einen Neichener nach Beinhausen ziehen sollen, allenfalls verwandtschaftliche Besuche. Umgekehrt aber gingen die Beinhauser Kinder in Neichen zur Schule und die notwendigen Einkäufe wurden zumeist auch in Neichen, beim »Klasen«, getätigt. So waren die Bande zwischen Beinhausen und Neichen enger als zwischen Beinhausen und den übrigen Dörfern der Pfarrei. Höchstens zu Boxberg verband die Beinhauser noch etwas, denn auch hier gab es, wie in Neichen, einen Kolonialwarenladen, in dem man vom Reißbrettstift über Nudeln und Reis bis zum Hufnagel alles kaufen konnte; und eine Gastwirtschaft gab es in Boxberg auch, wo ab und zu einmal der Bauer aus Beinhausen des Sonntags Einkehr hielt auf einen Schoppen Schnaps bei »Stroaßen Han-ni«. Die meisten Schoppen jedoch, es waren unter Garantie nicht viele, haben die Beinhauser Bauern allerdings bei dem »Schneidesch« in Neichen getrunken.

Was Wunder, wenn die Leute aus den übrigen Ortschaften, die »Tunne Stein« nicht so gut kannten, zurückhaltender waren beim Ordern der Krankenpflegerin.

Die »Ströder« waren damals arme Leute. Sie hatten zwar satt zu essen, aber Reichtümer konnten sie keine auf dem kargen Boden der Struth erwirtschaften. Kunstdünger, den es zwar damals auch schon gab, konnte sich kaum jemand leisten, denn der kostete bares Geld.

So war denn auch niemand in der Struth zur damaligen Zeit krankenversichert. Im Krankenbuch der Christina Mayer von 1920 ist lediglich ein Tagelöhner als krankenversichert angegeben sowie eine Dienstmagd.

Heute, mehr als 60 Jahre später, sieht es in der Struth völlig anders aus. Viele Neubauten sind in den Dörfern entstanden. In Beinhausen, der Heimat von »Tunne Stein«, gibt es noch einen einzigen Haushalt, der Vieh hält, und auch dieser »Bauer« macht das nur im Nebenerwerb; jeder »Ströder« ist kranken- und rentenversichert, jeder Haushalt in der Struth verfügt über zumindest ein Auto, und jeder kann bei Verletzungen oder Erkrankungen den Arzt aufsuchen, andernfalls läßt man sich von der Rettungswache, dem Notarztwagen oder gar dem Rettungshubschrauber in das nächste Krankenhaus bringen. Und wer das nicht will, wird von Angehörigen der Sozialstation betreut und versorgt.

Wir sind heute so perfekt abgesichert und organisiert, und wir wünschen uns ganz sicher die Zeiten von vor 60 Jahren nicht mehr zurück. Ist uns aber inzwischen nicht einiges verloren gegangen, dem nachzutrauern wert wäre? Heute kommt »Tunne Stein« nicht mehr ins Haus, die man kennt, die eine Vertraute ist, mit der man reden kann wie mit seinesgleichen; heute kommt die Schwester Sowieso, die uns alle Arbeit für den kranken Angehörigen und damit alle Verantwortung abnimmt. Die Arbeit der Sozialstationen, die unbedingt segensreich ist, soll hiermit in gar keiner Weise abqualifiziert oder angetastet werden, aber irgendwie ist die Schwester Sowieso keine von uns, sie ist nicht »Tunne Stein« oder »Kläre Lis« oder »Helten Thekla«, die »Tunne Steins« Nachfolgerinnen waren.

 

Man muß die Musik des

Lebens hören.

Die meisten hören nur die

Dissonanzen.

Theodor Fontane