Von Wodansheer, Elfen und Irrlichtern

Sagen spiegeln einen Rest des Götterglaubens wider

Erwin Schöning, Gerolstein

 

»Pol und Wodan ritten in den Wald. Da verrenkte sich Balders Fohlen einen Fuß. Da besprach ihn Sindgund und Sunna, ihre Schwester, da besprach ihn Frija und Volla, ihre Schwester, da besprach ihn Wodan, so gut wie er es konnte: wie die Verrenkung des Knochens, so die des Blutes, so die des ganzen Gliedes! Knochen an Knochen, Blut zu Blut, Glied an Glied, als ob sie zusammengeleimt wären!«1

In diesem Zauberspruch, der im 10. Jahrhundert in einen Merseburger theologischen Kodex eingetragen wurde, lebt die germanische Mythe und Kultpraxis fort. Hier dient sie der Heilung eines Pferdes.

In unseren Sitten und Gebräuchen, aber auch in den vielen Sagen unserer Heimat lebt auch heute die Mythologie unserer heidnischen Vorfahren fort. Bräuche, die dem Christentum nicht widersprachen, wurden während der Christianisierung übernommen und andere so umgewandelt, daß sie übernommen werden konnten. Hierzu gehören u. a. die Burg-, Hütten-, Johannis- und Martinsfeuer. Wenn wir heute am Schoofsonntag oder Fastnachtsonntag den Winter in Gestalt einer menschlichen Figur auf dem Scheiterhaufen verbrennen, dann geschieht hier ein Ritual, in dem noch ein Rest des Götterglaubens aus der heidnischen Zeit vorhanden ist Der Winter wird geopfert, in der Hoffnung auf einen fruchtbaren Sommer.

In der vorchristlichen Zeit verehrten die Menschen als obersten Gott einen Himmelsvater. Bei den Griechen war es Zeus, bei den Römern Jupiter und bei den Kelten und Germanen war es der Allvater Wodan. Man nannte ihn auch Wodan der Sturmgeborene, der auf seinem achtfüßigen Grauschimmel das Heer der Toten nächtens durch die Lüfte führte, von Wölfen begleitet.

Noch heute erzählt man sich in der Eifel die Sagen vom »Wodansheer«. So sollen im 17. Jahrhundert die Einwohner von Kirchweiler, nachdem sie nach der Abendandacht das Gotteshaus verlassen hatten, in der Luft ein seltsames Geräusch vernommen haben, das von Dockweiler herkam. Dieser unheimliche Lärm sei immer näher gekommen; man hörte Wagengerassel, Wiehern von Pferden, Bellen von Hunden, Schreien von Katzen, dazwischen Peitschenknallen, Lachen und Jauchsen, kurz, ein Durcheinander der verschiedensten Töne. Die Leute hätten erschrocken ihre Häuser aufgesucht.

Dieses geheimnisvolle Heer, das hier nächtens durch die Lüfte zog, wurde auch von Bewohnern anderer Orte, u. a. Walsdorf, Dockweiler, Dreis, Wallersheim und Brockscheid vernommen. Man hielt die Erscheinung des Wodansheeres als Ankündigung eines Unheils, das auch einige Jahre darauf in Gestalt der brandschatzenden Franzosen über das Land hereinbrach. Vor nicht langer Zeit ließen die Bauern bei der Ernte das letzte Büschel Korn stehen, damit Wodans Pferd etwas zu fressen fand.

Um der Wodanssage einen christlichen Charakter zu geben, ersetzte man Wodan durch einen Jäger. So erzählt die Sage von einem Grafen, der ein leidenschaftlicher Jäger war und einst am heiligen Pfingsttage mit seinen Gesellen zur Jagd ausritt, obwohl seine sehr fromme Gemahlin-ihn gebeten hatte, an diesem heiligen Tage doch nicht das Weidwerk auszuüben. Der Graf aber hatte ihr entgegnet:

»Du magst heute beten, wie es sich für eine Betschwester schickt, ich aber ergötze mich am Lautschlag der Rüden und am Verenden des Ebers und des Hirsches« — und war zur Jagd gezogen. Daraufhin hatte die Gräfin ihm unwillig nachgerufen: »Nun, so jage dann bis zum Jüngsten Tag!«

Hierauf sei der Graf nie mehr zum Schloß zurückgekehrt. Dagegen vernahm man am Abend ein starkes Geräusch, als ziehe durch die Luft ein Heer von Jägern mit Pferden und Hunden. Und fortan — bis zum Jüngsten Tag — zieht der Graf nächtens, besonders an Vorabenden heiliger Tage, mit seinen Jagdgenossen dahin.

Als Julius Cäsar 54 v. Chr. auch in die Eifel kam, traf er hier auf die Treverer und Eburo-nen, keltisch-germanische Mischstämme, aber auch auf kleinere, rein germanische Gruppen, wie die Caerosi in der Gegend um Prüm. Später siedelte der römische Feldherr Agrippa die Ubier auf linksrheinischem Gebiet um Köln und Bonn an. So fanden die Römer eine vielgestaltete, lokal unterschiedliche Götterwelt der Kelten und Germanen vor, die sie mit ihren eigenen Göttern und Kultbräuchen verbanden. Der römische Schriftsteller Plinus der Ältere (23 bis 79 n. Gh.), der weite Teile des römischen Imperiums bereist hatte, berichtet in seiner »Historia naturalis«, in den Ländern des Reiches gebe es mehr Götter und Göttinnen als Menschen, an ihren Altären und Altärchen würden die Himmlischen mit Wein und Kuchen genährt und mit Weihrauch umnebelt.2

Die Kelten und Germanen verehrten neben ihren zahlreichen Gottheiten auch Tiere, wie Hirsch, Eber und Stier. Die Merowinger gestalteten ihre Helme nach der Kopfform der Stiergottheit. Überhaupt war für den vorchristlichen Menschen die gesamte Natur belebt: Bäume und Winde, Quellen und Flüsse, das Meer und die Gestirne am Himmel waren göttliche Wesen. Und so war besonders das Moor eine Stätte, an der man den Göttern — ob die guten oder die bösen — nahe war. Hier wohnten sie unter der schwarzen Oberfläche und verteidigten ihr Reich gegen jeden Eindringling. Wanderer, die sich im Moor verirrten, zogen sie zu sich hinab. Wenn nachts über den Sümpfen der bleiche Schein der Irrlichter schimmerte, dann kündigten sie hiermit ihre Gegenwart an. Auch die Eifelsagen künden von Irrlichtern oder Treulichtern. Es sind arme Seelen, die vom Himmel noch ausgeschlossen sind und auf ihre Erlösung harren. Sie sind nicht bösartig, führen den nächtlichen Wanderer doch gerne irre, indem sie ihn zu sich locken. Nach der Sage nähern sie sich, wenn man betet und wer flucht, von dem fliehen sie.

Einem Mann, der mit seiner Arbeit bei Tage nicht fertig geworden war, gesellte sich bei Einbruch der Dunkelheit ein Irrlicht zu, das mit ihrem Licht leuchtete, so daß er seine Arbeit fortsetzen und beenden konnte. Daraufhin sprach der Mann mit gerührtem Herzen: »Nun sei dir Jesus gedankt!« Hierauf erwiderte das Irrlicht: »Auf dieses Wort habe ich lange Jahi^ mit heißer Sehnsucht geharrt; nun bin ich ein Kind des ewigen Lebens, und du sollst auch eins werden!«

Oft ist in den Sagen auch die Rede von drei Jungfrauen, die segenspendend auftreten. Der Ursprung dieser Sagen geht auf die Verehrung der Matronae zurück, die in der Eifel sehr verbreitet war. Es waren mütterliche Hüterinnen der Fruchtbarkeit des Bodens, der Viehherden und der Familie. Sie wurden meistens zu dritt dargestellt und hatten einen Früchtekorb, ein kleines Tier oder ein kleines Kind auf dem Schoß. Das Götterbild befand sich in einem Kultraum und auf einem Altar davor wurde durch rituelles Überreichen von Früchten und Geflügel den Göttinnen gedankt. So verehrte man in einem Heiligtum bei Pesch die Matronae Vacallinehae, bei Nettersheim die Matronae Aufaniae und bei Wallersheim die Matronae Veteranehae.

Wir Christen begehen heute unser Erntedankfest; und wenn wir auf dem Altar oder auf einem Tisch daneben Feld- und Gartenfrüchte ausbreiten, dann tun wir dies, um Gott für die Fruchtbarkeit des Bodens und für die gute Ernte zu danken.

Seit Bonifatius, der aus England stammende »Apostel der Deutschen«, mit der Missionierung Germaniens begann, sind mehr als 1200 Jahre vergangen. Dennoch ist der Glaube an Dämonen und bösen Geistern erhalten geblieben. Um den Heiden die Ohnmacht ihrer Götter gegenüber dem Gott der Christen zu demonstrieren, fällte Bonifatius bei Geismar die Donareiche und baute eine Kapelle daraus. Vielleicht aber haben Seuchen, Katastrophen und Kriege die Menschen immer wieder zweifeln lassen.

 

Literaturangaben:

S. Fischer-Fabian: Die ersten Deutschen. Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. Mai 1978

Werner Hilgers: Deutsche Frühzeit — Geschichte des römischen Germanien. Herausgegeben von Walther Hubatsch im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien 1976 Sitten und Sagen des Eifler Volkes. Herausgegeben von J. H. Schmilz. Trier. Druck und Verlag der Fr. Lintz'schen Buchhandlung 1856 Anmerkungen:

1) Deutsche Dichtung des Mittelalters Bd. l.: Von den Anfängen bis zum Hohen Mittelalter. Herausgegeben von Michael Curschmann und Ingeborg Glier. Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh, S. 21

2) Matthias Reuter: Beiträge zur Geschichte der Hocheifel — Land zwischen Adenau und Daun. Druck: Heinz Ingmanns, Schleiden 1979, S. 58