»Wo's Dörflein traut zu Ende geht . . .«

Das Vertraute des Dorfbildes schwindet Tag um Tag

Franz Josef Ferber, Hörschhausen

 

Dies ist schon Tollheit,

hat es doch Methode.

                                                                            Shakespeare

 

Gewiß, wir alle kennen ihn, den Gedicht- und Liedtext vom Elternhaus. Der Dichter beschreibt die vertraute Stätte, an der sein Elternhaus steht: am Rande des Dorfes. Der Verfasser dieses Beitrages dagegen will etwas anderes bezwecken; für ihn gilt es zu beklagen, daß wir längst begonnen haben, und, was vielleicht noch schlimmer ist, tagtäglich fortfahren, viel Vertrautes, was den Heimatbegriff mitausmacht, zu zerstören. Auf keinen Fall aber geht es ihm um die Suche nach Schuldigen oder gar um Schuldzuweisungen. Das soll, um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, nachdrücklich betont sein.

Um es gleich zu sagen: Ich bin weit davon entfernt zu glauben, es habe früher eine heile Welt gegeben. Die gute alte Zeit, was immer man hierunter verstehen mag, wie beispielsweise Carl Spitzweg und Ludwig Richter sie gezeichnet haben, hat es für unsere Ahnen in Wahrheit nicht gegeben. Und es wird sie, jedenfalls in dieser Welt, auch niemals geben. Jedoch lebten unsere Vorfahren in einer Zeit, die ihnen, was den Lebensraum angeht, ein

Dorfmitte im Jahre 1958.                            Foto: Heinrich Esch, Nürburg

Dorfmittelpunkt im Jahre 1983

Gefühl der Vertrautheit, der Geborgenheit, ein Heimatgefühl vermittelte. Das ist mittlerweile ganz anders geworden.

Was haben wir doch nicht alles angerichtet in all' den Jahren! Kein verständiger Mensch wird etwas einzuwenden haben gegen notwendige, vernünftige und maßvolle Neuerungen. Diese sollen, ja, sie müssen sein. Wehe aber, wenn sie so weit führen, daß man sich eines Tages schwertun muß, die Stätten wiederzuerkennen, die einem seit Kindheitstagen vertraut waren. Dies aber ist — dem Himmel sei's geklagt! — heute schon nicht selten der Fall. Unsere Dörfer wurden jahrzehntelang radikal und zuweilen brutal verändert. Die neue »Eifel-Presse« sprach jüngst zutreffend von »Verfremdungsund Erneuerungswut«. Kennzeichnende Merkmale dieses Tuns sind vornehmlich die Zerstörung (Abriß oder totaler Umbau) erhaltenswerter Bausubstanz, die Verwendung nicht landschaftstypischen Materials bei Um- und Neubauten, nicht landschaftsgerechte, oft landschaftsfeindliche Bauweisen und überhaupt unser unwiderstehlicher Drang, den Dörfern ein städtisches Gepräge zu geben. Nostalgischer Firlefanz, der da und dort unschwer zu übersehen ist und kein Ersatz für verlorenes Kulturgut sein kann, rundet das Bild ab.

Bitte, verehrte Leserinnen und Leser, begleiten Sie mich bei einem kurzen gedanklichen Spaziergang durch meinen Heimatort, einem kleinen Dorf im Tal der Uess, das ein Beispiel von vielen, aber sicher noch nicht einmal das negativste ist.

Schon ein erster oberflächlicher Blick, aus welcher Richtung man ihn auch auf das Dorf richten mag, offenbart eine Tatsache, die zutiefst erschrecken müßte: viel Gleichgemachtes! Individuelles und Vertrautes ist rar geworden. Schöne alte Bauwerke sind verschwunden; wir haben sie kaputtgemacht. Neue Häuser sind entstanden, die, jedenfalls in ihrer Mehrzahl, durchaus ansehnlich sind, sich aber den landschaftlichen Gegebenheiten nicht immer so recht anpassen wollen. Sie könnten überall in Deutschland stehen: im Bayrischen Wald, in der Lüneburger Heide, an der französischen Grenze oder gar an der Ostseeküste. Extrem landschaftswidrig (man verzeihe mir bitte diese Offenheit) muten Flachdachbauten an; sie passen nicht in unsere Kulturlandschaft und deshalb gehören sie auch nicht hierher. Alle Argumentationen für diese Bauform, so ehrlich sie auch gemeint sein mögen, werden hieran schwerlich etwas ändern können.

Wo sind sie geblieben, die zahlreichen Wildapfelbäume, die einstmals die Dorfstraße säumten, sie zierten? Ach ja, man hat sie — mir nichts, dir nichts — abgesägt, um die Straße breiter — am notwendigen Bedarf gemessen, für eine Dorfstraße viel zu breit — machen zu können.

Und was hat man dem Bächlein angetan, das silberklar aus der Wolfskaul kommt, an dem seit Generationen die Kinder spielten? Ganz einfach, man hat es begraben. Es wurde gezwungen, seinen Weg durch Betonrohre zu nehmen, bevor es sich mit dem Gäsbach vereinigt, dem, an beherrschender Stelle, ebenfalls ein Betonbett bereitet wurde.

Inmitten des Dorfes hat man arg gehaust. Hier standen sie zuhaut, die ortsbildprägenden Bauwerke. Mit ihnen ist man nicht zimperlich verfahren; sie wurden fast alle vernichtet oder verschandelt. Dem ortsgeschichtsträchtigen Gasthaus, einem stabilen Steinbau mit Schieferdach, rückte eines Tages der Bagger der Straßenverwaltung zu Leibe. Die massive Uessbachbrücke, aus Natursteinen gebaut, auf der die Zeiten hindurch abends die Dorfjugend ihre Lieder sang und spielte, sie wurde gesprengt. Und weil man schon so gut dabei war, beim Kaputtmachen, ging man auch mit der uralten Dorfeiche sehr rüde um. Zwei starke Männer machten ihr mit der Trummsäge kurzerhand den Garaus. Dasselbe Schicksal teilte ihr Nachbar, der uralte Dorfbrunnen. Mit ihm, der den Menschen vieler Generationen diente, wurde ebenfalls -nicht viel Federlesens gemacht, er wurde weggeraupt, die wunderschöne Zapfsäule verhunzt. Bloß vor der altehrwürdigen Kapelle schien man noch ein Quentchen Respekt zu haben, sie wurde nicht zerstört. Dafür ist sie teilweise zugeschüttet und mit einer unschönen Leitplanke garniert worden, ein ganz und gar unerfreulicher Anblick! Nun ja, eine Art Souterrainkapelle ist schließlich auch etwas Besonderes, die hat nicht jeder.

Das alles ist der Preis für eine moderne Straße, für eine Dorfrennstrecke, die uns dann und wann unserer Kinder wegen das Fürchten lehrt. Jawohl, die Straßenbauer — und beileibe nicht nur sie — haben gehörig zugelangt, so ganz nach dem Motto: Nicht kleckern, sondern klotzen. Es schien ihnen aber auch fast alles im Wege zu sein. Selbst vor der alten Schmiede haben sie nicht haltgemacht. Niemandem stand sie im Wege, sie war auch nicht baufällig, sie war einfach lästig geworden.

Eines der typischen Bauernhäuser unserer Gegend — man nennt diese Bauform das »Trierer Haus« — stand im Rund der eben beschriebenen Bauwerke. Es prägte das Dorfbild und war aus dem Dorf kaum wegzudenken. Zwei Brände machten es zur Ruine. Brandstiftung? Niemand zweifelt daran.

Unten im Tal steht sie noch immer, die alte Mühle. Nur hat sie ein anderes Gesicht bekommen, bestimmt kein häßliches, aber ein vollkommen fremdes. Das neue Dach vor allen Dingen hat ihr den letzten Rest an heimatlichem Gepräge vollends genommen; es ist viel zu groß geraten und erinnert mich unwillkürlich an den Knirps, der sich Vaters Schlapphut übergestülpt hat.

Die Beispiele heimatwidriger Ortsgestaltung ließen sich beliebig fortsetzen.

Nun ja, man mag alledem entgegenhalten, das sei halb so schlimm. Freudig würde ich in den Chor solcher Meinung einstimmen, wäre mit dieser Entwicklung nicht ein ungeheurer Identitätsschwund einhergegangen. Das ist schmerzlich. Denn damit geht die Vertrautheit, von der der Dichter spricht, mehr und mehr verloren. Der zunehmende Identitätsverlust führt, hält diese Entwicklung an, heute oder morgen, vielleicht auch erst übermorgen, unweigerlich dazu, daß man letzten Endes sein Dorf nicht mehr wiedererkennt. Das käme einem Heimatverlust verdächtig nahe. Könnte einem Heimatverbundenen, der der Eifeler doch sein will, viel Schlimmeres widerfahren? Das muß man sich ernsthaft fragen.

Professor Georges Calteux, der Landeskonservator von Luxemburg, erklärte mir, als ich ihn im Jahre 1982 besuchte, sein Heimatdorf kurz und bündig in seiner Heimatsprache: »Et Duerf as net reich, net gruhß, doch hamelich wie e Mammenschuhß.« Es war mir peinlich, doch mußte ich es redlicherweise gestehen: Guten Gewissens vermochte ich dasselbe von meinem Dorf nicht zu behaupten. Ich mußte, etwas niedergeschlagen, zugeben, daß ich von dieser gerühmten anheimelnden Atmosphäre, wenn überhaupt, dann nur noch verschwindend wenig spüre.