Abschied des Birnbaums

Ein Baum erlebt jüngste Entwicklung im Eifeldorf

Brigitte Müller, Rockeskyll

 

Die Sonne strahlt als streichle sie mich. Doch mir ist als ob ich friere. Ich fühle mich allein und alt. Irgendwer schabt mit einem schweren Bagger den lebensnotwendigen Mutterboden unter meinen Füßen weg. »Warum tust Du das, Du kleiner Mensch dort unten? Warum entziehst Du mir die Nahrung? Warum legst Du meine Wurzeln frei? Warst Du nicht auch als Kind sehr froh daß es mich gab?

Erinnere Dich, Du mußt mich doch noch kennen! Ich bin zwar schon sehr alt an Jahren; mein Stamm ist rissig, meine großen Äste sind morsch, aber sieh mich an: ich trage immer noch eine Menge köstlicher Birnen! Du darfst ruhig die Hand ausstrecken und nach ihnen greifen, so wie damals .. .«

Dieser wunderschöne große Garten gehörte einer Frau, die von allen Kindern nur liebevoll »Katchen« genannt wurde. Katchen liebte Kinder über alle Maßen, und sie hegte und pflegte auch mich, den jungen Birnbaum. Ja, sie verwöhnte mich so sehr, daß ich beschloß, sie mit den größten und saftigsten Birnen, die je ein Birnbaum getragen hatte, zu belohnen. Ich wuchs über mich selbst hinaus und reichte mit meinen mächtigen Ästen bis fast an die alte Volksschule. Jeden Morgen beobachtete ich die fleißigen Schüler, schaute durch die Fenster in ihre Klassenzimmer und sie alle freuten sich, wenn sie mich sahen.

Zugegeben, in meinem grünen Laub-Kleid, geschmückt mit unzähligen goldgelben Birnen, war ich für die Gören und Buben sicher ein appetitlicher Anblick. In jeder Pause stürmten die munteren Rangen über den großen Schulhof hin zu mir. Ich schützte sie mit meinem dichten Laub vor den Strahlen der Sonne, bot ihnen Schatten an meiner Seite, und Katchen verteilte tagtäglich »unsere köstlichen Birnen«. Alle Kinder liebten Katchen, mich den Birnbaum und sogar die Schule. Ich war mit meinem Birnbaumleben glücklich und zufrieden. Gar viele Kinder besuchten im Laufe der Jahre diese Schule, zuletzt wohl die Urenkel derer, die meine ersten Birnen aßen. Wir haben uns immer und zu allen Zeiten prima vertragen.

Eines Tages aber — das war der Anfang vom Ende — kam ein großer Bus auf den Schulhof gefahren und nahm die Kinder einfach mit — weg von der alten Schule, weg von Katchen und weg von mir, dem nun schon sehr betagten Birnbaum. Bald darauf mußte auch Katchen von uns gehen; wir waren traurig und kamen uns jetzt beide schon recht nutzlos vor.

Du schaust mich so seltsam an, Du Baggerfahrer dort unten! Du warst es wohl auch, der mir meinen letzten Freund, die alte Volksschule entrissen hat. Einfach abgerissen und weggeräumt wie ein Nichts. Und das wenige Tage vor dem Termin, an dem man sie hätte unter Denkmalschutz stellen müssen. So geht es auch mir. Ich sollte Dich dafür strafen und einen schweren Ast auf Dich herunter werfen! Aber was hilft das schon?

Da hat irgendein Mensch am grünen Tisch entschieden, daß ich weg muß. Darum muß auch ich nun den Weg gehen, den andere schon vor mir gegangen sind. Vielleicht ist das nicht einmal die schlechteste Lösung — ich bin sicher, die beiden haben bereits wieder ein sonniges Plätzchen gefunden, einen wunderbaren, paradiesischen Garten, in dem nur noch einer fehlt: ich, der Birnbaum!