Wenn »Lühpaul« ins Dorf kam

Oder: Wie man Kinder das Fürchten lehrte

Theo Pauly, Gerolstein

 

Wir Kinder wuchsen in der Struth recht frei und selbständig auf. Sobald ein gewisses Alter erreicht war, und das Kind schneller laufen konnte als Großvater oder Großmutter, denen die Beaufsichtigung der Kleinen oblag, begann für das Kind ein Leben in Freiheit und das Erlernen der Selbständigkeit. »Nau loof ma joa net fort«! war der immanente Befehl des Aufsichtsführenden. Aber welches Kind wäre dieser Aufforderung nachgekommen, sobald es schneller war als der, der auf es aufpassen sollte.

War es ein Junge, der ausbüchste, lautete die resignierte Feststellung des Großvaters oder der Großmutter: »Da Lausert folecht noch ees net!«, war es ein Mädchen, hieß es: »Dat Bäschtche hüürt üwahoopt net!« Jedenfalls »erfuhren« die Kinder auf diese Art und Weise ihre Umwelt, wenn sie auch ab und an brav und begierig den Erzählungen oder Unterhaltungen der Alten lauschten.

Nun aber wußten die Eltern und die Alten um die vielfältigen Gefahren, die so einem kleinen, vorwitzigen Bengel drohen konnten, sei es das Brunnenloch, in das so ein Kind hineinfallen konnte, nachdem es die Abdeckung entfernt oder die Brunnentür geöffnet hatte, sei es der Hochwasser führende Bach, in dem schon einmal ein spielendes Kind ertrunken war oder seien es die vielen anderen Gefahrenstellen in Scheunen und Schuppen, in denen die naseweisen Kleinen ihre ersten Lebenserfahrungen sammelten. Jedenfalls wurde den Kindern drastisch vor Augen geführt, daß vielerlei Gefahren lauerten. So saß im Brunnen der »Böhmann« (Butzemann), der gerne kleine Kinder ins tiefe, dunkle Loch hineinzog, wo sie dann jämmerlich ertrinken mußten. Wenn aber ein Kind einmal sehr garstig und ungezogen war, sollte es an die Zigeuner verkauft oder Lühpaul mitgegeben werden.

Thomas Heinrichs, Dachsweg2, Daun-Pützborn (Zeichenwettbewerb 14-18 Jahre) Motiv: »Altes Haus in Kradenbach«

Lühpaul war ein Mann undefinierbaren Alters und unbekannter Herkunft. Seine Kleidung war teils durchlöchert, teils geflickt, sein Gesicht wurde von einem rotblond-grauen Bart umrahmt, sein Hut war speckig und von unbestimmter Farbe. Er zog als Kesselflicker von Ort zu Ort. Regelmäßig kam er etwa dreimal im Jahr ins Dorf mit seinem Hundekarren, in dem er sein Handwerkszeug transportierte. War er wieder einmal auf seinem angestammten Platz am Waldrand hinter der Brücke angekommen, hieß es im Dorf: »Lühpaul ös wia doa« oder »da Kässeif lecker ös wia doa«. ab und zu auch wurde er »da Parpelsflecka« genannt. Dann wurden die lecken Kochtöpfe vorgeholt sowie die defekten Regenschirme, und Lühpaul lötete die Löcher in den Töpfen und Kannen zu und reparierte die Regenschirme, daß sie wieder für den nächsten Regen zu gebrauchen waren. Es war für uns Kinder schon faszinierend zuzuschauen, wenn Lühpaul seine verschiedengroßen Lötkolben im offenen Feuer erhitzte und damit den Lötzinn zum Schmelzen brachte. Nicht immer allerdings waren die Töpfe hinterher auch dicht, aber sauber gescheuert mit Fließsand aus dem nahen Lieserbach. Seinen Lohn erhielt Lühpaul trotzdem, sei es Bargeld gewesen, oft Pfennige nur, oder Eier, ein Kanten Brot für ihn und seine Hunde, ein Stück Schinken oder Speck oder ein Ende Wurst. Bei der Arbeit sprach Lühpaul kein einziges Wort, so sehr konzentrierte er sich auf seine Arbeit. Wenn wir Kinder ihn nicht mit Fragen belästigten, durften wir zuschauen. Wehe aber, man war neugierig oder laut, dann polterte er los und vertrieb seine Zuschauer mit dumpf-lauten Rufen, warf auch schon einmal ein brennendes Holzscheid nach den Lästigen, und seine Hunde knurrten und bellten und zeigten ihr weißes Gebiß. Dann nahmen wir Kinder schnell Reißaus, und aus sicherer Entfernung riefen wir ihm in Chor zu: »Lühpaul-Flühpaul« (Fluh = Flöhe). Dann drohte er mit dem heißen Lötkolben in der Faust, aber das konnte uns nicht anfechten, denn wir befanden uns in sicherer Entfernung, und unsere »Lühpaul - Flühpaul« = Rufe wurden immer lauter. Wir wußten dann allerdings auch, daß wir uns allenfalls bei seinem nächsten Besuch im Dorf erst wieder in seiner Nähe blicken lassen durften.

Wenn aber dann im Laufe der Zeit das Kind wieder unartig gewesen und ihm gedroht worden war: »Beim nächsten Mal kann Lühpaul dich mitholen«, dann fuhr diese Drohung doch in die Glieder, denn wer wollte schon mit so einem, der nicht sprach, höchstens polterte und drohte und wahrscheinlich auch zuschlug, wenn nicht Schlimmeres tat, sein weiteres Leben verbringen müssen. Wenn dann Lühpaul das nächste Mal wieder im Dorf erschien, dann wagte man sich immer nur im Rudel, nie allein, in seine Nähe, und man war froh, wenn er wieder weiterzog, ohne daß man ihm ausgeliefert worden war.