Hurra, der Kaiser kommt!

Erinnerungen an den Eifelbesuch Wilhelms II. 1911

Alois Mayer, Daun-Pützborn

 

Bundespräsidenten, Kanzler, Führungsspitzen und gekrönte Häupter kennt heute jeder. Tagein, tagaus begegnen uns deren Bilder und Beschreibungen in Presse, Funk und Fernsehen. Riesige Teleobjektive holen auch die entferntesten Persönlichkeiten in Großaufnahme ins Wohnzimmer und fast jeder Bürger hat seine Staatsoberhäupter schon so oft und in den verschiedensten Posen gesehen, daß er sie beschreiben und sicherlich auch erkennen würde.

Doch wie war das früher? Zu Kaisers Zeiten, als es Fernsehen, Film, Radio und Bilderpresse noch nicht gab, zumindest nicht hier in der Eifel? Wer hatte dort den Kaiser schon mal gesehen? Wer hätte ihn beschreiben oder wiedererkennen können? Natürlich wurde viel von ihm erzählt; an Festen und hohen Staatsfeiertagen ein »dreifaches Hoch« auf Seine Majestät ausgestoßen; an Kaisers Geburtstag und am Sedan-Gedächtnistag der Exzellenz zu Ehren Gedichte aufgesagt, die von Glanz und Gloria, von Kaisers Größe und dessen Güte kündeten, — aber ihn so richtig vorstellen, das konnten sich nur die wenigsten. Trug er eine Krone? Wieviel Ringe hatte er an den Händen? Waren seine Augen blau, die Haare blond? War er kurzatmig und wie sah er aus, wenn er lachte? Mit Sicherheit konnte kaum einer darüber Auskunft geben. In manchen Amtsstuben hing wohl ein Porträt von ihm, aber ein Kopf, das ist nicht die ganze Person.

So hatte wohl jeder persönlich eine andere Vorstellung, ein innerliches Bild vom Kaiser, märchengleich, weltentrückt, götterähnlich. Nur ganz wenige Auserwählte hatten die Möglichkeit, dem Oberhaupt des deutschen Reiches zu begegnen oder ihm etwa gar die Hand zu schütteln. Die Einwohner von Daun und Gerol-stein hatten mehrmals die hohe Ehre, den letzten deutschen Kaiser in ihren Mauern willkommen zu heißen und ihn aus der Nähe zu sehen. Alte Fotos dokumentieren dies. Doch wie erlebten die Leute aus den Dörfern diese Staatsbesuche?

In der Schulchronik von Oberehe finden wir einige Anhaltspunkte dazu. Schmücken wir nun jene wenigen Sätze phantasievoll aus und stellen uns vor, wir wären dabei gewesen, damals am 20. Oktober 1911:

Vor wenigen Tagen war es, als der Gemeindediener durch Oberehe ging und mit lautem Gebimmel der Gemeindeschelle eine amtliche Bekanntmachung des Landrates Weismüller aus Daun verkündete, daß Seine Majestät Kaiser Wilhelm II. geruhe, am 20. Oktober, auf den Tag genau fünf Jahre nach seinem letzten Daun-Besuch, durch Oberehe zu fahren, um in Daun den Kaiserbrunnen feierlich zu enthüllen. Der Landrat und auch der Ortsbürgermeister wünschen deshalb, daß der Ort geschmückt sei und dem Allergnädigsten ein würdiger Empfang bereitet werde.

Eine rege Emsigkeit brach daraufhin die beschauliche Ruhe des Dorfes. Alt und jung, arm und reich wetteiferten, den Ort zu zieren. Fenster wurden blank gerieben, Gardinen gewaschen; es wurden die Höfe gekehrt und Holzhaufen neu geschichtet; die jungen Burschen eilten in den nahen Wald, Buchenäste und mannshohe Fichten hauen; die Schulkinder hatten am Mittwoch- und Donnerstagnachmittag schulfrei, um an Blumen zu pflücken, was der Oktober noch blühen ließ; die jungen Mädchen flochten gemeinsam mit den Frauen bis spät in die Nacht hinein Girlanden und Kränze aus Fichtenreisig.

Kaiser Wilhelm II. am 20. 10. 1911 bei der Eröffnung des Kaiserbrunnens in Daun. Der Brunnen wurde dem Kaiser zum Dank für die Verleihung des Wasserrechts errichtet. Begrüßt wurde der Kaiser von Landrat Weismüller, dem Maler Fritz von Wille, A. Minninger, Daun; Mutter, Hillesheim; Krämer, Gerolstein und Bürgermeister Solke, Gerolstein (aus Bildband »Liebenswertes Daun«)

Lehrer Spoden probte die letzten drei Tage ordentliches Aufstellen mit den Schülern, der Größe nach, Mädchen links und die Knaben rechts. Immer und immer wieder wurde das Lied »Heil dir im Siegeskranz« geübt, solange bis es einigermaßen zur Zufriedenheit aller klang, auch wenn schon mancher Junge aus der oberen Abteilung des Stimmbruchs wegen bedenklich krächzte.

Endlich! Der 20. Oktober war da. Früher als sonst waren die Familien auf den Beinen, um das Vieh zu versorgen, Frühstück zu machen und die Kinder vorzubereiten. Die Männer waren bereits in dem Ort. Alle paar Meter setzten sie links und rechts der Dorfstraße, die säuberlich gekehrt war, kleine Fichten, schmückten Stall- und Scheunentüren mit Buchengrün, bedeckten die Dunghaufen vor den Häusern ebenfalls mit dichten Zweigen und hängten Fähnchen aus den kleinen Fenstern. Besonders viele und große Fahnen mit den Farben des Staates und des Bistums Trier flatterten in dem schon recht kühlen Herbstwinde von Kirche und Burg.

Am Ortseingang war ein prächtiger Triumphbogen errichtet, desgleichen am Ausgange gegen Dreis hin; weithin sichtbar daran die klare Schrift auf weißem Grund: »Kaiser Wilhelm lebe hoch«. Die wenigen Blumen, die die Kinder gefunden hatten, wurden noch rasch auf das Stück Weg zwischen Kirche und Burg gestreut und dann eilte man nach Hause, sich »sonntäglich« anzuziehen.

Hübsch war der Ort geschmückt, wie sonst nur an Fronleichnam. Gleich nach zehn Uhr sammelten sich die Schulkinder an der Schule. Lehrer Spoden ermahnte sie noch einmal zu würdigem Verhalten, probte letztmals das Kaiserlied und zeigte nochmals das Zeichen, auf welches die Kinder hin in ein begeistertes »Hoch« ausbrechen sollten. Dann begab ersich mit den 47 Kindern nach draußen auf die Dorfstraße, wo er Lehrer Scher aus Zilsdorf begrüßte, der in Stroheich Vertretung machte, und von dort aus mit 28 Jungen und 17 Mädchen sowie vielen Stroheichern nach Oberehe geeilt war, um sich dieses seltene Ereignis nicht entgehen zu lassen. Es dauerte nicht lange, und man sah und hörte die stattliche Prozession der Heyrother Schulkinder kommen. Nach lachender Begrüßung wurde sich formiert. Jungen rechts und Mädchen links. Auch die Freiwillige Feuerwehr, angetreten in Uniform und Pickelhauben, bildete mit fast allen 237 Bewohnern aus Oberehe Spalier. Kühl war es an jenem Freitage und viele Kinder zitterten in ihren dünnen Kleidern, trotz der gestrickten Strümpfe und der wollenen Pullover. Auch mancher Frau kam das Frösteln an, und sie schlug das schwarze, gehäkelte Tuch noch enger um den Hals. Da hatten es die Männer etwas besser. Sie ließen eine Flasche Korn, die der Bürgermeister gestiftet hatte, ihre Runde drehen und heizten so von innen.

Die Spannung wuchs, denn jeden Moment konnte von Hillesheim her die Wagenkolonne des Kaisers kommen. Genau aufpassen wollte man, daß man den gütigen Herrscher auch sehen würde. Es war vorgemeldet worden, daß der Kaiser im ersten Automobil hinten rechts seinen Platz haben würde. Erkenntlich sei er auch an der weißen Mütze. Links neben ihm würde Landwirtschaftsminister Schorlemer sitzen. Oben im Kirchturm hockte einer aus Kut-tesch-Haus und hielt scharf Ausschau zum Döhmberg hin, um die Ankunft der Wagenkolonne zu melden. Und Kätt war ganz aufgeregt, hatte sie sich doch fest vorgeholt, den Kaiser mit einem tiefen Knicks zu begrüßen und dabei laut und deutlich zu sagen: »Lang lebe Seine Majestät!«

Da! 11.45 Uhr war es, als alle Glocken vom hohen Turme der Obereher Kirche in lautem Jubel klangen und meldeten: Kaiser Wilhelm II. kommt! Schnell stellten sich die über 300 Leute stramm, der Wehrführer rief: »Habt acht! Augen rechts!«, da bogen auch schon die fünf Wagen oben um die scharfe Kehr. Lehrer Spo-den hob die Hand und aus vielen Kinderkehlen klang es markig: »Heil dir im Siegeskranz!«

Die Feuerwehr grüßte zackig: »Hoch, hoch, hoch!«, die Frauen und Männer riefen begeistert »Vivat, vivat!«; man bückte sich schnell, um einen Blick ins Wageninnere zu werfen, versuchte den Kaiser und dessen weiße Mütze zu erkennen und winkte noch freudig der Wagenkolonne nach, als diese in rascher Fahrt den Blicken der Dastehenden entschwand. Noch war die erste Strophe des Liedes nicht verklungen, als einige schon murrten, sie hätten überhaupt nichts gesehen, andere ganz genau die weiße Mütze des Kaisers erkannt haben wollten. Die Schulkinder, Feuerwehrleute und das übrige Volk kehrten dann vergnügt zum Mittagstisch. Die Heyrother schlugen einen schnelleren Schritt ein, denn ihr Weg war weit.

Kätt ging wohl sehr nachdenklich und still nach Hause, aber die übrigen waren zufrieden; man hatte den Kaiser erlebt, manche sahen ihn winken und Annekettens Pitter war besonders glücklich, denn ihm hatte der Kaiser genau indie Augen gesehen. Die Obereher waren stolz auf den Kaiser. Nur der aus Kuttesch-Haus, der so fleißig die Glockenseile gezogen hatte, war etwas betrübt, hatte er doch weder was gesehen noch gehört außer dem Klang der Glocken, die den Dreisern und Dockweilern verkündeten:»Macht euch bereit, der Kaiser kommt!« Der Chronist schließt mit den Worten: «Möge der liebe Gott unseren König und Kaiser Wilhelm noch recht lange erhalten zum Heile und zum Segen unseres geliebten Vaterlandes!« Und was machte der Kaiser in Daun? Dort enthüllte er freitags nachmittags, am 20.10.1911, den Kaiserbrunnen neben dem Landratsamt, empfing die Dauner Prominenz, lauschte später den Gesang- und Musikvorträgen des Musik- und Männergesangvereins Daun und geruhte dann im Hotel Schramm zu schlafen. Nach dem Frühstück anderentags bestiegen er, seine Minister und Ordonnanzen die bereitstehenden Autos. In rascher Fahrt ging es dann über Dockweiler, Gerolstein, Prüm, Kyllburg, Eisenschmitt, Wittlich nach Lieser. Dort stieg Seine Majestät in den kaiserlichen Hofzug, winkte gnädigst der bereitstehende Menge unter Triumphbögen und Girlanden auf dem Bahnhof Lieser zu und fuhr zurück nach Berlin.