Schneidersprünge

Die listig-lustigen Episoden eines Eifeler Originals

Anton Sartoris, Immerath

 

Irgendwo in der vulkanischen Eitel, wo die Eifelberge sich der Mosel zuneigen, liegt ein schmuckes Dörfchen, das durch mancherlei Aktivitäten weithin bekannt ist. So durch Theater, Musik und Gesang, durch's Erntedankfest -ja sogar Menschen können dort »repariert« werden. Dort wohnte bis vor einigen Jahren ein tapferes Schneiderlein, dem die sprichwörtlichen »Sprünge« wohl angeboren waren. Sein Name spielt keine Rolle, nennen wir ihn einfach »Hannes«. Oder stammte er vielleicht aus dem uralten rheinischen Adelsgeschlecht »Schmilz von Kölle«? Also: Schmilz nennen wir ihn. Seine Sprünge waren gewürzt mit Schalk, Ironie und Schlauheit, aber auch mit viel Humor. So kannte man ihn im Dorf und so konnte man auch mit ihm umgehen, auch wenn er bei den Bauern, wenn er dort schneiderte, mal den steinernen Süßrahmtopf heimlich stibitzte und derselbe bald leer war, die Hauskatze mit den Füßen 'dreintunkte', dann auf den Boden setzte, damit sie mit ihren nun weißen Tatzen den Fußboden bekleckste; also war es nicht Hannes, sondern die Katze! Neben den unzähligen kleinen »Sprüngen« sollen nachstehend einige herauragende erzählt werden.

 

Hannes im Brunnen

 

Hannes war nebenher musikalisch und spielte Flöte und Klarinette. Wenn das Tagewerk vollbracht und die Schneiderstube geschlossen war, traf man sich natürlich — wie früher nicht anders üblich — am Dorfbrunnen mit Nachbarn und Freunden. Hannes brachte die Klarinette mit, spielte alte Volksweisen, wozu dann von den Anwesenden auch gerne mitgesungen wurde.

Wie bekannt, braucht die Klarinette ziemlich viel Feuchtigkeit, um einen guten Ton zu bringen. Nun, man war ja beim Brunnen. Da sollte es wohl keine Schwierigkeit sein, die Klarinette darin anzufeuchten. Doch der Brunnen war tiefer als gedacht und so mußte Schneiderhannes auf dem Schöpfeimer sitzend mit der Kettenwinde in den ca. 4 - 5 Meter tiefen Brunnen herabgelassen werden. Sein Freund L. bediente die Kettenwinde und mußte während des Drehens feststellen, daß Hannes doch schwerer war wie angenommen (die bekannten 99 Pfund!) - und so glitt L. die Zugwinde aus der Hand und der Drehgriff schlug ihm so stark an den Kopf, daß er im Moment besinnungslos war.

Natürlich war Schneiderhannes dadurch mit einem kräftigen Plumps + samt Klarinette im tiefen Brunnen gelandet; + nein: gewassert! Vor Schmerz und Angst, Schneiderhannes würde ertrinken, schrie L. um Hilfe. Nachbarn und einige starke Männer eilten herbei und »drehten« Hannes wieder hinauf. Da bei L. inzwischen die Schmerzen etwas nachgelassen hatten, war er selbstverständlich dabei, mit den andern den pudelnassen Schneiderhannes noch auszuspotten, nach dem alten Sprichwort: »Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen«. Obendrein frug man Hannes spöttisch ob die Klarinette nun auch wirklich naß sei! Schneiderhannes nahm dies alles nicht krumm, hatte er doch selbst so manchen Streich verübt, um Schadenfreude auszulösen.

 

Hannes auf Wanderschaft

 

In früherer Zeit war es Brauch und Sitte, daß Handwerksburschen, wie sie alleweil im guten Sinne genannt wurden, auf die Wanderschaft gingen. Dies gehörte einfach zum Beruf. Bei Schneiderhannes' Wanderungen war dies jedoch nicht immer so einfach, da er ja immer seine schalkhaften Sprünge im Kopf mit sich führte. So kam er dann auch an die Mosel und es schien ihm angebracht, hier einige Sprünge zu liefern. In einigen Orten gab er sich als »Dr. med.« aus, mietete sich ein kleines Zimmer und hatte auch ziemlich Kundschaft. Er soll sogar einige Moselanerinnen tatsächlich von ihrer Krankheit geheilt haben! Lange konnte dies ja nicht gut gehen. Aber Hannes hatte ja niemand seinen Namen verraten. Und so verschwand er schnell und heimlich, wie er gekommen war, als ihm der Boden zu heiß wurde. Mit dem Fahrrad fuhr er dann eine gute Strecke an der Mosel weiter, in Dörfer, wo er noch nicht bekannt war. Dort gab Hannes sich dann als »Obsthändler« aus, mit eigenen Obstanlagen, ließ sich im Voraus das bestellte Obst bezahlen, so daß er in einem Ort ca. 500 Mark kassierte. Die Geldgeber warteten lange vergebens auf die Obstlieferung. Da wollten sie doch ihr Geld zurück haben. Aber Hannes hatte ja kein Obst und das Geld längst alle auf seiner sonderbaren Wanderschaft draufgebracht. Dies ließen sich die Geldgeber von der Mosel nicht so ohne weiteres gefallen. Als sie lange genug vergeblich auf Obst oder Geld gewartet hatten, machten sie sich auf den Weg in das obstreiche Dorf, dessen Name Hannes dummerweise bei seiner Vorstellung über die Zunge gerutscht war.

Im Ort angelangt trafen sie einige junge Burschen, die sie nach dem Obsthändler aus dem Ort frugen, den sie mit Namen nannten. Die Burschen wußten gleich, daß hier wieder etwas von Hannes angestellt worden war und zeigten den Moselanern dessen Haus, wohl in der Annahme, daß Hannes doch nicht zuhause wäre. Aber Hannes war nun ausnahmsweise mal Zuhause, wo es dann bald zwischen den Besuchern und dem Obsthändler ziemlich laut zuging. Ja, Geld war nun keins mehr zu bekommen! Nach alter Abrechnungsmanier wurde Hannes nachhaltig verprügelt, wie die erbärmlichen Schreie aus dem Haus den gespannt aufpassenden Burschen verrieten. Alsdann traten die Moselaner »befriedigt« ihren Heimweg an.

 

Eine schwierige Aufgabe

 

Um einigermaßen am Geld zu bleiben, arbeitete Hannes zwischendurch immer wieder im Handwerk, entweder zuhause, oder meistens, wie es damals viel üblich war, bei den Auftraggebern im Hause, in näherer und weiterer Umgebung. Hierbei ging es leider nicht immer mit rechten Dingen zu,. Hannes hatte oft viel Durst und das Geld war meistens knapp bei ihm. So verbrauchte er auch manche Mark, die er von Leuten zum Stoff kaufen usw. erhalten hatte, für sich. Die Stoff-Lieferung blieb also aus - und die vorher oft harmlosen Sprünge arteten so aus, daß er mit den Gesetzen in Konflikt geriet. Hannes verschwand dann immer schnell aus dem Dörfchen und niemand wußte, wo er war. Daß ihm von der Behörde aufgepaßt wurde,läßt sich denken. Da Hannes in seinem Dörfchen selbst keine Untaten trieb und nur harmlose Spaße machte, waren die Dorfbewohner ihm zugetan, insbesondere aber auch wegen seiner Familie, die oft darben mußte. Sie verrieten ihn deshalb nie, auch wenn sie sein Versteck wußten.

Eines Tages war es dann wieder soweit: Gendarm Max aus G. mußte Hannes wieder »holen«, diesmal ebenfalls, weil er in einem auswärtigen Lokal zu viel getrunken und zu wenig Geld bei sich hatte. Man hatte festgestellt, daß er zuhause sei. Max traf Hannes auch wirklich zuhause an, redete ihm gut zu, daß er nun mitgehen und ihm, (Max), keine Schwierigkeiten machen solle. Diese Aufgabe war umso peinlicher für Max, da er aus demselben Dörfchen stammte und Schul- und Alterskollege von Hannes war. Hannes versprach Max auch brav mitzugehen, und er denke nicht daran, ihm Schwierigkeiten zu machen. Sie machten sich nun auf den Weg nach G. Polizist Max, der damals nocht nicht mit dem Auto kam, sondern mit dem Dienst-Fahrrad, drückte dasselbe und Hannes ging neben ihm her.

Unterwegs gings durch ein Stück Wald, wo Polizist Max dringend austreten mußte. Vertrauend auf das von Hannes gegebene Versprechen, gab M. diesem sein Fahrrad zum Festhalten und verschwand im Gebüsch, jedoch so, daß er Hannes im Auge behielt. Doch als Max sich hockte, ward Hannes lausig. Sein Versprechen vergessend, schwang er sich auf das Polizei-Dienstrad und verschwand in Richtung Mosel. Max, außer sich vor Schrecken und Empörung, schrie ihm nach, daß er bleiben und ihm das doch nicht antuen solle. Aber Hannes war ab, störte sich nicht daran und hörte es kaum noch. — Später »schnappte« man ihn dann doch irgendwo auf.

Leider blieb Hannes so laufend mit dem Gesetz in Konflikt und die Polizei war immer hinter ihm her. Wie erwähnt, wurde er von der Dorfbevölkerung nicht verraten, obwohl er doch noch oft zuhause weilte. Er hatte seine speziellen Verstecke: Oft verschwand er im Schornstein, wo ihn niemand vermutete. Oder er verschwand bei den Bauern im Stroh oder Häcksel. Seine Frau soll ihn auch schon im Dorfbrunnen versteckt haben. Ja, eines Nachts versteckte er sich im Gemeindebackofen, wo er bei der noch darin vorhandenen Wärme vom Backen am Vortag, tief einschlief und am anderen Morgen erst wach wurde, als ein Bürger Holz in den Ofen schieben wollte, um neu anzufeuern und zu seinem Schrecken, Hannes — dieser nicht minder erschrocken — aus dem Backofen heraus gekrochen kam. Auch diesmal fand die Polizei ihn nicht.

 

Heimatliche »Köpenickiade«

 

Schneiderhannes, von dessen originellen Sprüngen wir im Jahrbuch 1985 in der Episode »Der Paterhannes« schon etwas erfahren haben, mußte im ersten Weltkrieg auch Soldat werden. Da er zum Felddienst an der Front infolge seiner geringen körperlichen Stärke nicht geeignet war, wurde er auf der Schneiderstube beschäftigt. Sein Standort war Metz in Lothringen, das damals noch zu Deutschlandgehörte. Hannes fühlte sich hier so wohl, daß ihm eines Tages, wie so oft, wieder seine Sprünge einfielen und er wohl dachte, es müßte nochmal was geschehen. Und es geschah: Hannes schneiderte sich eine ordentliche Artillerie-Uniform, in der er sich, ohne aufzufallen, mehrere Wochen sowohl in der Kaserne wie auch in der Stadt frei bewegte. Ja, zu solchen Streichen mußte man Geschick haben.

»Hauptmann« Hannes fuhr dann auch in Urlaub. Auf dem Hauptbahnhof in Trier war kurzer Aufenthalt. Hannes stieg aus, ging auf die Wachsoldaten zu, die den Hauptmann stramm grüßten, schrieb denselben für einige Tage Urlaubsscheine und stieg wieder ein in Richtung Wengerohr. Dort mußte Hannes umsteigen für die Eifelstrecke. Im Bahnhof Wengerohr, der als Bahnknotenpunkt in Kriegszeiten ebenfalls immer bewacht wurde, tat Hannes dasselbe: er schickte die Wachsoldaten in Urlaub.

Während bisher Hauptmann Hannes noch nicht aufgefallen war, und sogar ein bekannter aus seinem Nachbarort als Soldat in der Kaserne in Metz ihn in strammer preußischer Manier grüßte wie alle Soldaten, wurde er doch ein bißchen neugierig angestaunt. Und man raunte: »Ja, er sieht dem Hannes auf der Schneiderstube wohl etwas ähnlich, aber wie könnte ein einfacher Soldat so plötzlich Offizier werden? Nein: das war ein ganz Neuer, das konnte der von der Schneiderstube doch nicht sein«! Hannes, stolz und befriedigt, daß sein Sprung so eindrucksvoll gelungen war, fühlte sich nun sicher und wagte den Urlaub in den Heimatort. Während die Wachsoldaten in Trier keinen Verdacht hatten und vergnügt in Urlaub fuhren, war es in Wengerohr anders. Einer der Soldaten, den der unbekannte Hauptmann in Urlaub schickte, war gerade erst aus dem Urlaub zurückgekommen; er trug sich unsicher: »Ob dies mit richtigen Dingen zugeht«? Aber er machte erst nach langem Überlegen bei seiner Dienststelle Meldung.

Hannes war inzwischen schon fast in seinem Heimatdörfchen angelangt. Im Aussteigebahnhof H., von wo er dann noch ca. eine gute Stunde Fußweg zurückzulegen hatte, stieg auch ein sehr bekannter Mann aus seinem Heimatdorf aus. Als er Hannes in seiner Hauptmanns-Uniform erkannte, wußte er sofort, daß hier wieder ein böser Sprung getan worden war. Obwohl er seinen Augen kaum traute, hatte er die Situation gleich erfaßt. Er hielt Hannes an und sagte vorwurfsvoll: » O, Hannes, wat hoste da wäile Widder jelappt«?! Hannes, der sich nun allmählich nicht mehr wohl fühlte in seiner Haut, erwiderte ihm recht barsch: »Halt's Maul«!

Hannes kam noch bis heim, mußte sich dann aber gleich aus dem Staub machen, da inzwischen die »Köpenickiade« bei seiner Einheit, insbesondere durch den Wachmann in Wengerohr, offenbar geworden war. Schneiderhannes fuhr, natürlich die Hauptmanns-Uniform mit Zivilkleidung gewechselt, mit dem Fahrrad bis Koblenz. Dort stieg er in einen Zug, fuhr Richtung Köln, dann über Aachen ins Ausland nach Belgien. Dort verbrachte er längere Zeit. Dann wagte er sich wieder nach Deutschland und kam über Hamburg bis zur Insel Helgoland, wo er dachte am sichersten zu sein. Da die Polizei, besonders die Militärpolizei, dauernd nach ihm fahndeten, hatte man ihn auf Helgoland nach wenigen Wochen ausfindig gemacht. Hannes erzählte selbst: »Wir waren beim Skatspiel, als drei gut gekleidete Zivilisten in das Lokal kamen. Sie setzten sich an einen Tisch und beobachteten uns. Ich hatte gleich kein gutes Gefühl und wußte: Das sind Geheime. Einer der Herren setzte sich neben mich zu uns an den Tisch und frug, ob er mitspielen könne. O ja, sagten die anderen, während ich mich langsam erhob, mich für's Austreten entschuldigte und gehen wollte.

In diesem Moment kamen die anderen beiden auch, schlugen mir auf die Schulter und sagten: Sie sind verhaftet!«

Sie brachten Hannes nach Berlin, wo er zu einer mehrjährigen Festungshaft verurteilt wurde. In Berlin-Moabit wurde er inhaftiert. Und — Ironie des Schicksals: Einer seiner Nachbarn und Freunde aus dem Heimatort brachte gerade zur selben Zeit, als Hannes unter starker Bewachung eingeliefert wurde, Essen für die Gefangenen, da er als Verwundeter in der Garnison Berlin weilte. Dieser Nachbar, Johann L., der Hannes seinerzeit in den Dorfbrunnen hinabließ, um die Klarinette zu befeuchten, erkannte ihn und konnte vor Schreck nur noch sagen: »O, Hannes«!!

Nach dem Kriege wurde Hannes aus dem Gefängnis entlassen. Er kam wohl heim, hielt sich aber meist auswärts auf. Seine Lust, noch weitere »Schneidersprünge« zu machen, war nicht mehr allzugroß. Trotzdem — oder selbstverständlich gedachte Hannes seines 50-jährigen Berufsjubiläums, das er in seinem Heimatdorf mit den örtlichen Sängern feierte, die ihm in seinem hohen Alter gerne ein Ständchen brachten. Hierbei gab Hannes, — versteht sich — in humorvoller Weise einen umfangreichen Einblick in seinen so abwechslungsreichen Lebenslauf.