»Gästezimmer 200 Meter links«

Erinnerungen an die ersten Feriengäste in Bongard

Annelie Diewald, Trier

 

Gästeführer, Ferienkataloge und Autoaufkleber werben Feriengäste für die Vulkaneifel, die als «lebendige Natur« dem gestreßten und betongeschädigten Stadtmenschen eine Erholungspause verspricht. Immer häufiger entschließen sich Familien in den Dörfern, Privatzimmer anzubieten oder ihr Haus in eine Pension umzuwandeln, um das Einkommen des Mannes durch diesen Nebenerwerb der Hausfrau etwas aufzubessern.

Wie war das eigentlich damals, als durch die ersten privaten Zimmeranbieter Feriengäste, genannt »Fromme« in die Eifeldörfer kamen? Meine Mutter begann 1959 mit einer kleinen Pension in Bongard. Sie hatte sich ausgerechnet, daß durch Zimmervermietung mehr Geld zu verdienen sei als mit dem Nähen von Kleidern und Mänteln. Da sie in Düsseldorf den Beruf der Schneiderin erlernt hatte, annoncierte sie in Erinnerung an diese Stadt in der Tageszeitung »Düsseldorfer Mittag« mit guter Resonanz. In den ersten Jahren beschränkte sich das Angebot auf zwei Doppelzimmer, später wurde der Speicher ausgebaut und die Kapazität auf drei Doppel- und zwei Einzelzimmer ausgeweitet. In der Hochsaison wurden nach Bedarf noch Liegen hinzugestellt, so daß häufig bis zu zwölf Personen bei Vollpension beköstigt wurden.

Viele Feriengäste und kleinere Episoden aus dem Urlaubsalltag sind mir auch heute noch so gegenwärtig, als seien sie erst gestern geschehen. Im ersten Sommer 1959 verlebten zwei ältere Damen ihren Urlaub in unserem Hause. Da bereits damals gebräunte Haut als ein Zeichen bester Erholung galt, spazierten sie in kurzen Hosen durch das Dorf. An vielen Fenstern bewegten sich die Gardinen, und die Bauern auf den Feldern schüttelten den Kopf über soviel körperliche Freizügigkeit. Ein Musiklehrer aus Köln erschien zu Fastnacht in der Verkleidung des Komponisten Franz Schubert und sang uns abends stundenlang Lieder vor. Nach dem zehnten Lied mit sämtlichen Strophen hatte jeder der ermüdeten Zuhörer eine andere Ausrede parat, um das Zimmer verlassen zu können.

Was der Feriengast damals hoch schätzte, waren eine gemütliche Atmosphäre mit Familienanschluß und ein persönlicher Service, Eigenschaften wegen denen auch heute noch mancher Urlauber eine Privatpension aufsucht. Mehrere Jahre verlebte eine Familie aus Köln ihren Sommerurlaub bei uns. Den Mann nannten wir nur den »Steinsucher«, weil er jeden Tag mit einem Eimer voller Fossilien aus dem Gerolsteiner Raum nach Hause kam. In weit ausholenden Erläuterungen legte er uns Ursprung und Bedeutung jedes einzelnen Fundstückes dar. Da meine Mutter um Ausreden wie Kartoffelschälen oder Staubsaugen nie verlegen war, mußten mein Vater und ich als »interessierte Zuhörer« herhalten.

Unsere weitesten Gäste kamen aus Alaska, eine Schweizer Familie, die nach zwanzig Jahren zum ersten Mal zurück in ihre Heimat fuhr. Sie wollten morgens baden und wunderten sich, daß nur kaltes Wasser in die Wanne lief, weil wir damals den Badeofen noch vorheizen mußten. Anschließend beschwerten sie sich, daß sie als Amerikaner nicht gewohnt seien, kalt zu baden. Trotzdem werden sie Bongard in guter Erinnerung behalten, denn als morgens die Dorfglocken läuteten, kamen dem Mann die Tränen, als er sagte: »Ich fühle mich wie in meiner Schweizer Heimat.«

Verständigungsprobleme gab es weder mit Amerikanern, noch mit Franzosen, Belgiern und Holländern, da gutes Essen und ein freundliches Wesen internationale Brücken schlagen. Aufenthaltsraum und Eßraum für die Feriengäste war unser geräumiges Wohnzimmer, wo an zwei verschiedenen Tischen gegessen wurde. Auch wenn zwei Parteien am großen Ausziehtisch aßen, wurde für jede Gruppe getrennt serviert und peinlich genau darauf geachtet, daß alle Schüsseln gleich aufgefüllt waren. Damals kam reichlichem Essen noch eine erhebliche Bedeutung zu. Es verstand sich von selbst, daß für anfänglich 7,50 DM Vollpension auch etwas verlangt werden durfte.

Beim Wort »Essen« fällt mir ein Junggeselle mittleren Alters aus Dortmund ein, der 14 Tage bei uns weilte und durch seinen besonderen Appetit auffiel. Bereits 10 Minuten vor Beginn der Mahlzeiten hatte er sich die steif gestärkte weiße Serviette umgebunden, saß auf seinem Platz und schaute nach der Küchentür. »Wenn alle einen solchen Appetit mitbrächten,« seufzte meine Mutter, »verdienten wir das Salz in der Suppe nicht.« Eines Morgens mußte er frühzeitig abreisen, da seine Mutter erkrankt war. Er schien nicht besonders überrascht, da er sehr abergläubisch war und nachts im Traum Briketts gesehen hatte.

Da meine Mutter auch auf sogenannte Durchgangsgäste hoffte und unser Haus abseits der Hauptstraße lag, mußte Scheed Franz, der Malermeister des Ortes, jedes Jahr ein neues Hinweisschild kunstvoll beschriften. Das unfreundliche Wort »Fremdenzimmer« wurde nach einigen Jahren in ein klangvolles »Gästezimmer« umgeändert. Fremde als Gäste zu behandeln, eine Empfehlung, die vielleicht auch heute viele herbeigeredeten Probleme in unserer Gesellschaft lösen hilft.

Die Sommermonate in Bongard waren ausgefüllt mit viel Spaß und froher Ferienstimmung. Nicht selten flössen beim Abschied Tränen, und man tröstete sich mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen im nächsten Jahr. Die beste Visitenkarte aber für die Pensionswirtin war und ist auch heute noch der Satz zum Abschied: »Es hat uns gut bei ihnen gefallen, wir werden ihr Haus weiterempfehlen.«