Unser Nachbar, der Fuchs

Wo sich Hasen und Füchse gute Nacht sagen

Lotte Schabacker, Daun

 

Sie ziehen nach D.? Ach du lieber Gott, das ist ja da, wo sich die Füchse gute Nacht sagen! Als wir das oft genug gehört hatten, sagten wir es vorwegnehmend selbst, ein bißchen pampig natürlich. Wir sagten es so lange, bis wir auf einen älteren Nachbarn trafen, der zu bedenken gab: «Stellen Sie sich vor, wie traurig es wäre, wenn sie sich nicht gute Nacht sagten!« Aber da war es schon zu spät; »Fuchs« war für uns zum Inbegriff der Rückständigkeit geworden.

Die fünf Familien, die mit uns auszogen, um das neuerbaute Sanatorium zu betreuen, waren ebenfalls sauer, wenn sie das Wort Fuchs nur hörten. Wir alle wußten damals kaum mehr von ihm, als daß er Gänse stiehlt, daß ihm ewig die Trauben zu hoch hängen, und daß er einen Fuchsschwanz hat. Wir würden ihn links liegen lassen, das war sicher. Es blieb uns fürs erste auch garnichts anderes übrig, denn aufgescheucht vom Lärm der Großbaustelle hatte sich alles Viehzeug verdrückt.

Wir sprachen immerhin allmählich mit Vögeln, den Rehen und den Hasen, denn das gilt bei der augenblicks herrschenden Ideologie auch unter Großstädtern als fesch. Und zunächst kehrten die Maulwürfe zurück; sie gruben uns den mühsam angepflanzten Rasen um. Das brauchten sie gar nicht, es war ein Irrtum, aber sie haben sich bis heute nicht davon abbringen lassen.

Die Hasen ließen sich durch ihre spießbürgerlichen Verwandten, die Karnickel vertreten, die sich gleich haufenweise unter den Berberitzen ansiedelten. Die Rehe ließen sich länger Zeit. Nachdem sie sich schließlich von unserer unwandelbaren Harmlosigkeit überzeugt hatten, fraßen sie uns die Tulpenknospen ab.

Die Eichhörnchen begannen schon mit ihren Kletterübungen, als unsere Haselnußsträucher sich gerade ums Wurzelschlagen bemühten. Und erst die lieben Vögelein! Wo wir wohnen, ist die Welt voller Bäume, sie aber haben ihre Wohnsitze auf den Speichern unsrer Häuser aufgeschlagen.

Eines Tages tauchten auch die für unseren Sanatoriumsberg zuständigen Füchse wieder auf und sagten sich, wie es ihre Art ist, gute Nacht. Und was auch immer wir damals noch gegen Füchse hatten — das eine mußten wir zugeben; sie waren die einzigen Bergmitbewohner, die die Zaunandeutung um unser Hoheitsgebiet grundsätzlich respektierten. Der eine, der im Waldstück nebenan ansässig war, lief uns ab und zu mal über den Weg, das war alles.

Mit der Zeit kamen wir darauf, daß hinter diesen Begegnungen ein System steckte, sie fanden immer gegen 22 Uhr im Wäldchen vor unserem großen Tor statt. Wer um diese Zeit mit dem Wagen nach Hause kam, hatte ihn im Scheinwerferlicht, wie er in für ihn ungefährlichem Abstand die Fahrbahn überquerte. Und immer von links nach rechts, er wollte wohl vermeiden, daß man ihn beim Vorüberfahren links liegenließ.

Das war die Zeit, als uns die Rehe die Rosenknospen abzufressen begannen, und so fanden wir, daß ein solch zurückhaltender und zugleich selbstbewußter Nachbar wie unser Fuchs eine Aufmerksamkeit wert war; wir durchführen also besagtes Gelände im Schritttempo. Darauf schien der Gute gewartet zu haben; nun machte er für einen Augenblick mitten auf der Straße halt, hob artig einen Vorderlauf und hielt uns sein dreieckiges Gesichtchen entgegen...

Es war eins von den Kindern, das in unvoreingenommener Weisheit darauf kam: Er sagt uns gute Nacht! Natürlich hatte es recht, das Kind. Erwachsenen fällt manchmal das Nächstliegende nicht ein.

Als dann die Tollwut auch unsere Gegend anschlich und grausam unter dem Wildbestand wütete — das war die Zeit, als die Kinder unseren Fuchs ins Abendgebet einschlössen.Und wenn sie sangen: »Und laß uns ruhig schlafen, und unsern guten Nachbarn auch!«, dann meinten sie keineswegs die Leute im Nebenhaus. Ringsherum, Tag und Nacht, hörten wir nämlich die Schüsse, die meist den Füchsen galten, denn sie in erster Linie übertragen die furchtbare Krankheit. Dann kam der Tag, wo auch wir auf unserem abseitigen Berg befragt wurden, ob wir von einem Fuchsbau in der Nähe wüßten. (Das Vergasen des Baues ist anständiger, als die Alten zu erschießen und die Jungen einem elenden Hungertod zu überlassen). Aber wir verrieten den Nachbarn nicht, niemand hatte jemals einen Fuchs gesehen. Die Kinder wußten überhaupt nicht, was das war...

Den unserer Obhut Anvertrauten, Patienten und Kindern, gaben wir für den Umgang mit Tieren strikte Anweisungen, und auf unseren Fuchs paßten wir selbst auf. Solange er sich genau an die Regeln hielt, die seine gesunde Natur ihm vorschrieb, war ja alles in Ordnung. Und dann dröhnte an einem Spätsommerabend ganz in unserer Nähe der Schuß. Alle hatten ihn gehört. Die kleinen weinten, und die älteren Kinder rotteten sich am nächsten Tag zu einem Verein zusammen, der beim Staat die Herausgabe des Leichnams durchsetzen wollte. Man wollte ihm einen Grabstein setzen mit der Inschrift: »Hier ruht unser Fuchs, der beste Nachbar, den es je gab!« Und auf das Grabhügelchen sollten rote Rosen. Oder noch besser jene hübschen Stauden, die man Fuchsschwanz nennt. Oder am allerbesten Vergißmeinnicht...

Mitten in die traurigen Überlegungen platzte eine kleine Hoffnung hinein. Vielleicht war unser Fuchs nur verwundet und lebte noch! Vielleicht hatte man ihn überhaupt nicht getroffen. Oder vielleicht war er mit dem Schuß gar nicht gemeint gewesen!

Im Halbdunkel des nächsten Tages machten sich, verstohlen und nach und nach, trotz Wind und Regen, alle hier beheimateten Wagen aufeinen kleinen Abendbummel, nur — wie wir uns hinterher gegenseitig eingestanden — um gegen 22 Uhr wieder heimzukommen. So sah denn unser Fuchs zur Gute-Nacht-Zeit einen Automobilgeleitzug von sechs Fahrzeugen im Zeitlupentempo den Berg heraufkriechen. Er wird ganz schön baff gewesen sein, denn sonst hatte er nur alle paar Tage das Vergnügen, einen oder höchstens zwei Nachbarn um diese Zeit zu treffen.

Wer immer auch auf wen geschossen hat — unser Freund hatte sich weder getroffen noch überhaupt angesprochen gefühlt. Wer bei einem So-für-sich-hin-Waldgang dem Tod ins Auge geblickt hat, ist auch am nächsten Tag noch nervös und bleibt, wenn er ein Fuchs und nicht zufällig ein FBI-Mann ist, wohl zu Hause. Wenn aber hier irgendeine Not in Betracht kam, so war es einzig und allein Zeitnot. Da er niemand beim Gute-Nacht-Sagen auslassen wollte, mußte er gegen seine Gewohnheit den Weg auch von rechts nach links überqueren. Ein inneres Problem machte er nicht daraus. Unsere Kollegen im letzten Wagen jedenfalls schworen Stein und Bein, er habe sie angegrinst, bevor er sich links von ihnen in die Büsche schlug. Schließlich ist er ja ein Fuchs, unsere Bekehrung ist seiner Schlauheit bestimmt nicht entgangen.