Auch ein Stückchen Zeitgeschichte:

Felix und der Schutzengel Johannes

22 Monate Hohe Schule der Fahrkunst in Daun geübt

Lotte Schabacker, Daun

 

Den, von dem hier die Rede sein wird, wollen wir Felix nennen; Felix den Glücklichen, denn er hatte im Grunde ein sonniges Gemüt. Er kam aus dem Umfeld der Wega mit dem Auftrag, in einem deutschen Landkreis links des Mittelrheins nach dem Rechten zu sehen. Und dafür mußte er durch Daun. Mit dem Wagen..., im Frühjahr 1985.

Felix versuchte, Daun von Norden nach Süden zu durchqueren. Doch ein Phänomen war ihm unbekannt: er glaubte, wenn er in eine Ortschaft hineinführe, käme er an der gegenüberliegenden Seite wieder heraus. Das war ein Irrtum. Womit er aber hier weiter nicht auffiel. Denn dieser fixen Idee huldigten damals andere Daun-Durchreisende auch!

Aus dem Felix hatte man einen jüngeren Mann gemacht, knapp über 40, wie sie eben heute bei uns so sind: leichter Bauchansatz, bei Bedarf einziehbar; Brille; Ehering, meist in der Tasche; nervös und immer in Eile; Pizzaesser; Frühstadium der Midlifecrisis, anfallweise; aber sonst menschenfreundlich und — wie gesagt — von sonniger Gemütsart. Also völlig unauffällig, genau wie sein Wagen, ein Mercedes, den hier auch Hunz und Kunz fährt.

Natürlich hatte man dem Felix seinen Schutzengel mitgegeben, wir wollen ihn Johannes nennen. Er war wie alle Wesen seiner Art unsichtbar, umsichtig, zugleich bekümmert und etwas rechthaberisch. Und ebenfalls nervös. Aber man hatte sich aneinander gewöhnt: Felix an die Bevormundung, und Johannes an das ewige Wieso und Warum seines Schützlings. Aber darauf kommen wir noch zu sprechen.

Johannes hatte, wie das von einem ordentlichen Schutzengel zu erwarten ist, die zu durchfahrende Gegend schon vor Beginn des Unternehmens kontrolliert unter besonderer Berücksichtigung solcher Krisenpunkte wie Daun, verkehrstechnisch gesehen. Deshalb flog er auch jetzt von Dockweiler aus schon mal vor und schwebte nun über dem Ampelsystem Bonner/ Leopoldstraße. Felix bemerkte beim Näherkommen hier eine Menge Schilder; da er aber nicht schneller lesen konnte als Erdmenschen seines Alters auch, und ihn zudem die Autoschlange hinter ihm am Halten hinderte, war er froh, Johannes' Kommando zu hören: »Rechtsrum! Nach dem Provinzialhaus links-rum! Weiter, weiter! Hier links ist die Post, und du mußt wieder rechtsrum, dann linksrum, ja weiter, weite Linkskurve. Das Gebäude, das dir jetzt im Weg steht, heißt Hommes!« »Ahja«, machte Felix und hielt an, »wie interessant! Und nun rechtsrum...« »Nein, dies ist eine Einbahnstraße, also linksrum, los los!« Felix wurde ärgerlich. »Aber ich will doch nach Manderscheid!« (Aha!) Dem nervösen Johannes entfuhr eine unflätige Wega-Redensart, und die beiden begannen, sich anzublaffen. Das Gelindeste, das sie sich gegenseitig vorwarfen, war Realitätsverlust.

Da für Vorübergehende Johannes nicht wahrnehmbar war, hielten sie Felix' Gehabe für ein wütendes Selbstgespräch, wie man es an gerade dieser Stelle immer mal wieder erleben konnte.

Schließlich fuhr Felix los, da hinter ihm gehupt wurde. »Aber da ist ja wieder die Post!« mekkerte er weiter. »Und am Provinzialhaus waren wir doch auch schon mal. Wieso...« Johannes schnitt ihm das Wort ab: »Also nun fährst du quer über die Bitburgerstraße ins Behördenzentrum, drehst da, kommst wieder zurück und machst denselben Weg wie vorhin. Und dann wieder...«

Während der dritten Rundfahrt platzte Felix heraus: »Warum bei allen Eifelgöttern soll ich das eigentlich tun, das ist doch völlig unlogisch!« »Nun hör mir mal gut zu, hier geht es nicht um Logik, hier geht es nur darum, daß du nicht auffällst. Die Leute, die von Norden nach Süden durch dieses Daun wollen, machen das in der Mehrzahl so! Und wenn du jetzt gleich wieder kurz vor Hommes bist, fährst du die Wehrbüschstraße rechts rauf. Da, wo steht: Anlieger frei! Da geht's zum Friedhof. Davor ist ein Parkplatz, Da halst du und weinst. Tränendrüsen hat man dir ja eingebaut.«

»Aber warum zum Kuckuck soll ich den weinen?« »Ich habe mal die beispielhaften Rundfahrten einer jungen Frau beobachtet, die dann auch dort stehenblieb und bitterlich heulte. Das dauerte. Ich nahm die Gelegenheit wahr und besichtigte mal eben diesen gepflegten Dauerparkplatz nebenan, zu sowas kommt unsereiner ja sonst gar nicht. Und als ich zurückkam, war sie weg. Sie hatte es also fertiggebracht, Daun zu verlassen. Siehst du, deshalb...«

Aber Felix hatte keine Lust zu weinen, und raus aus Daun wollte er inzwischen schon gar nicht. Er fand dieses Städtchen höchst putzig. Später würde er seinen Vorgesetzten erzählen können, was eine Autofalle wirklich ist, die waren sich da nämlich nicht einig gewesen. Und dann alle diese neckischen Überraschungen! Da gab es etwa auf der Wehrbüschstraße kurz vor Hommes ein solch kleines Stückchen Einbahnstraße, daß es ein geübter Spucker gut und gerne überspucken konnte, mit dem Wind, versteht sich, aber immerhin! Das mußte er mal probieren, ihm lief das Wasser schon im Munde zusammen. Und überhaupt war das Städtchen für passionierte Autos doch ein Paradies. Dieses Phänomen etwa, daß sie lustig etliche Kilometer herumsausen durften, um vielleicht dreißig Meter weiterzukommen. Ohne sich dauernd bissige Bemerkungen über Benzinvergeudung einzuhandeln. Diese Chance zur Selbstverwirklichung wollte er auch seinem Auto mal gönnen. Aber dafür müßte er vorübergehend seinen nervösen Schutzengel loswerden, der würde Zustände kriegen!

Rund um den Karneval sind sie im Einsatz, die roten und blauen Funken, Tanzmariechen oder fröhliche Begleiter der Büttenredner. Nur kurze Verschnaufpausen gibts am Rande der Veranstaltungen, immer stehen sie auf Abruf bereit und sie sollen hier ein Dankeschön haben, für viel Mühe, bis der Auftritt »sitzt«. Hier Funkenmariechen der KG »Dajöh« Stadtkyll.

Foto: Marianne Schönberg

»Nun paß mal auf, Johannes«, begann er behutsam, »du hast mich nun umsichtig bis zum Friedhof gebracht, aber du weißt doch, ich kenne die Verkehrszeichen selbst, und lesen kann ich auch...« Johannes wußte genau, was nun kommen würde und zauberte dem Freiheitslüsternen ein Blatt Papier vor die Nase: »Na, dann lies mal vor!« Felix begann artig: »Neue Verkehrsregelung in Daum ab September 1983. Nach Empfehlung des Stadtrates und Bau- und Planungsausschusses der Stadt Daun sowie nach Anhörung der Schutzpolizeiinspektion Daun und anderer Dienststellen hat die Verbandsgemeindeverwaltung Daun als zuständige Straßenverkehrsbehörde aus Gründen...« »Weiter, das interessiert doch niemanden, lies die kleingedruckten 68 Zeilen unter dem Stadtplan, diese Direktiven!« Felix gehorchte; dann kleinlaut: »Aber wo sind denn die Geschwister Schneider und das Blumenhaus Schneider und Leder-Lehnen und die B-B-Boutique Warneke und...?« »Ich denke, du kannst lesen!« machte Johannes hämisch. »Wie willst du denn alleine... Und warum überhaupt?« »Ja sieh mal, ich könnte, gleichsam als Generalprobe, hier auf kleinstem Raum alle jene Spiele üben, die später in den größten Städten wichtig für uns beide sind: Mensch ärgere dich nicht, Räuber und Gendarm, Hasch mich ich bin der Frühling, Mühle, vonwegen der Zwickmühle und und...«

Johannes hatte schon aufgegeben, letzten Endes hatte er ohnehin nur eine beratende Funktion. Außerdem war er insgeheim recht froh, mal etwas ausspannen zu können. Anstandshalber maulte er noch ein bißchen herum, während er sehnsüchtig nach dem Segelflugzeug hoch über ihm schielte. Darauf würde er gleich Platz nehmen und dem Piloten suggerieren, mal über dem zauberhaften Gerolstein herumzukurven. Welche Erholung!

Aber dann merkte er, daß Felix dabei war, den 68-Zeilen-Text auswendig zu lernen, und aufgeregt entriß er ihm den Zettel. »Du würdest ja doch bloß auffallen, wenn du das alles richtig machst! Ich gebe dir jetzt noch einige Ratschläge; wenn du die befolgst, fällst du hier nicht aus dem Rahmen. Also: Wenn du nicht recht von der Stelle kommst, so fahre über die Bürgersteige und...«

»Und die Fußgänger?« unterbrach ihn Felix. »Du meinst wohl die Fußsteher, die immer an den Zebrastreifen herumstehen. Also wenn da doch mal welche loslaufen, dann mußt du draufhalten!« »Aber wieso denn, die sind doch ganz nett?!« »Du sollst sie ja auch nicht gleich über den Haufen fahren, du mußt bloß so tun als ob; das ist hier so üblich. »Warum ist das denn üblich?« »Ja also, na, ich glaube, damit diese Fußmenschen endlich mal merken, daß sie generell nicht auf Straßen gehören, jedenfalls nicht auf diese. Auch bei ihrem Gang über die Bürgersteige versucht man ja, sie über diesen Punkt zu belehren; immer wieder schießen nämlich aus unzähligen Häuserlücken Autos hervor, vorwärts und rückwärts, und zwingen die Ärmsten zu verzweifelten Ausweichmanövern oder endlosem Warten. Und parkende Autos stehen fast immer mit wenigstens zwei Rädern auf den Bürgersteigen, und oft klemmen sie sich so dicht an die Hauwände, daß höchstens ein kleiner Hund vorbeikommt. Und das alles bestimmt nicht nur aus Platzmangel. Diese Umgehungsstraße etwa hat man ja schon von vornherein ohne Bürgersteige angelegt, obgleich Platz dafür dagewesen wäre. Und dann fahre doch mal die Bahnhofstraße entlang bis zu einem Haus namens Bac-cara; gegenüber ist ein Riesenparkplatz. Bei meinen Kontrollflügen sah ich da immer nur zwei bis drei Wagen stehen, aber die blockierten zur Gänze den dort vorbeiführenden Bürgersteig, sie standen mit der Nase genau am Bordstein, vor jener Kette, die in der Kurve die Fußleute am Betreten der Fahrbahn hindert. Die schlichen dann mühsam durch die Pfützen und den Morast des Parkplatzes. Nicht zu fassen...« »Aber was sollten sie denn sonst tun, die Unglücklichen?« wollte Felix wissen.

Diese ewige Fragerei! Johannes fühlte sich nun wirklich überfordert und schielte wieder zum Himmel. Ha, das Segelflugzeug schien auf ihn zu warten. Und dann kam ihm die Erleuchtung: »Warum fliegen sie nicht einfach?! Der Flugplatz ist doch hier ganz in der Nähe!« Und eine prima Ausrede für sein Verschwinden fiel ihm auch gleich ein: »Ich werde mal sofort den Chef des Fliegerei-Unternehmens besichtigen!« Weg war er.

Felix mußte sich wohl sehr genau nach Johannes Vorschlägen gerichtet haben, denn bei uns wurde er nicht aktenkundig; woanders einstweilen auch nicht — kein Wunder nach der Dauner Hohen Schule der Fahrkunst. . ., denn diese Epoche vorbildlicher Fahrkultur gehört ja schon der Vergangenheit an, ist also ein freundlich registriertes Stückchen Zeitgeschichte geworden.