Am Ausgang. . .

Erinnerungen an ein Kirchengebet

Marianne Schönberg, Jünkerath

 

Unsere Generation ging kurz nach Kriegsende in den Vorbereitungsunterricht zur Konfirmation. Viel haben wir auswendig gelernt, es fehlte an Lehrmitteln und aus dem einzigen Buch, das der Pfarrer besaß, wurde uns diktiert. Auf graues Holzfaserpapier schrieben wir alte Texte, viele Strophen alter Kirchenlieder, das Glaubensbekenntnis, die zehn Gebote samt Erklärung und — das war sehr wichtig — Eingangs- und Ausgangsgebet für den Gottesdienst. Das sollte still gebetet werden, in der Kirche. Aufsagen mußten wir's im Unterricht zur Beweisführung, daß es gelernt war. Solche Dinge behält man im Gedächtnis, aber laut sprach ich diese Texte seit langem nicht mehr. Bis zum Tag x und das war ein ganz gewöhnlicher Werktag. Mit meiner Schwiegertochter war ich zum Einkauf unterwegs. Gerade wollten wir einen Konsumtempel verlassen, ein altes Ehepaar vor uns, der Mann griff zum Türdrücker mit der Aufschrift AUSGANG und sagte so vor sich hin... »Unseren Ausgang segne Gott, unseren Eingang gleichermaßen,« Ich war wie elektrisiert und fragte... ja, und weiter? Der Alte schaute sich erschrocken um und deklamierte brav wie ein Schuljunge... »Segne unser täglich Brot, segne unser Tun und Lassen.«

Seiner Frau und meiner Schwiegertochter stand das Erstaunen im Gesicht geschrieben als ich mit dem alten Mann das Kirchengebet vollendete... »Segne uns mit seeigem Sterben und mach uns zu Himmelserben.« Die Befangenheit dauerte nur Sekunden, dann lachten wir alle herzlich und der Alte sagte zu mit: »Ich bin 84 Jahre alt, aber das Gebet habe ich nicht vergessen.« Er wird sich nun wohl bis ans Ende seiner Tage an unsern Dialog erinnern, wenn er eine Tür mit der Aufschrift AUSGANG sieht.

Hinter der nächsten Straßenecke fragte meine Schwiegertochter, was das denn für ein Text gewesen sei. Sie habe ihn bisher nicht gehört. Auch nicht in der Konfirmandenstunde? Nie! Gewiß, man kann auch ohne alte Kirchengebete leben und Christ sein. Trotzdem ist's schade, daß so einfache Worte zum Stillewerden am Sonntag nicht weitervermittelt werden. Die Eltern sprechen nicht davon, die Lehrer nicht und der Pfarrer fürchtet wohl die Belastung seiner Konfirmanden und den Einspruch aus dem Elternhaus. Unsere jungen Leute sind schließlich gestreßt.

Wenn das so ist, war es nicht Grund genug zur Meditation? Ob man je darüber nachdachte, in welcher Situation die Generation der Eltern lernte? Sie hatten Wohnungen ohne Fensterglas, kein Heizmaterial, kein Wasser, kein Licht. Fürs Essen mußte man mit Bezugsmarken Schlange stehen, Kleider, Mäntel und Schuhe waren zu klein, zerschlissen. Ich wage nicht zu beurteilen, ob wir gestreßt waren. Das zu befinden, sei dem Leser überlassen. Um solch spontane Erlebnisse sind sie allerdings betrogen, die Jungen. Sie rufen ihre Texte vom Computer ab und den hat man zur Zeit im Kaufhaus noch nicht in der Hosentasche.